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Das Fenster-Theater
Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Fluß herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster.
Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers.
Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über der Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals - einen großen, bunten Schal - und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt.
Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lacht jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen.
Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her.
Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeute er jemandem, dass er schlafen wollte. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes Fenster sah.
Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug ein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht.

Tagebuch eines Winters
8. Dezember 18:00
Es hat angefangen zu schneien. Der erste Schnee in diesem Jahr.
Meine Frau und ich haben unsere Cocktails genommen und stundenlang am
Fenster gesessen und zugesehen wie riesige, weiße Flocken vom Himmel
herunter schweben. Es sah aus wie im Märchen. So romantisch – wir fühlten
uns wie frisch verheiratet. Ich liebe Schnee.
9. Dezember
Als wir wach wurden, hatte eine riesige, wunderschöne Decke aus
weißem Schnee jeden Zentimeter der Landschaft zugedeckt. Was für ein
phantastischer Anblick! Kann es einen schöneren Platz auf der Welt geben?
Hierher zu ziehen war die beste Idee, die ich je in meinem Leben
hatte. Habe zum ersten Mal seit Jahren wieder Schnee geschaufelt und
fühlte mich wieder wie ein kleiner Junge. Habe die Einfahrt und den
Bürgersteig freigeschaufelt. Heute Nachmittag kam der Schneepflug vorbei und hat
den Bürgersteig und die Einfahrt wieder zugeschoben, also holte ich die
Schaufel wieder raus. Was für ein tolles Leben !
12. Dezember
Die Sonne hat unseren ganzen schönen Schnee geschmolzen. Was für
eine Enttäuschung. Mein Nachbar sagt, dass ich mir keine Sorgen machen
soll, wir werden definitiv eine weiße Weihnacht haben. Kein Schnee zu
Weihnachten wäre schrecklich ! Bob sagt, dass wir bis zum Jahresende so
viel Schnee haben werden, dass ich nie wieder Schnee sehen will. Ich glaube
nicht, dass das möglich ist. Bob ist sehr nett - ich bin froh, dass er unser
Nachbar ist.
14. Dezember
Schnee, wundervoller Schnee! 30 cm letzte Nacht. Die Temperatur ist auf
20 Grad gesunken. Die Kälte läßt alles glitzern. Der Wind nahm mir den
Atem, aber ich habe mich beim Schaufeln aufgewärmt. Das ist das Leben!
Der Schneepflug kam heute nachmittag zurück und hat wieder alles
zugeschoben. Mir war nicht klar, dass ich soviel würde schaufeln müssen, aber so
komme ich wieder in Form. Wünschte ich würde nicht so Pusten und Schnaufen.
15. Dezember
60 cm Vorhersage. Habe meinen Kombi verscheuert und einen Jeep
gekauft. Und Winterreifen für das Auto meiner Frau und zwei
Extra-Schaufeln. Habe den Kühlschrank aufgefüllt. Meine Frau will einen Holzofen, falls
der Strom ausfällt. Das ist lächerlich - schließlich sind wir nicht in
Alaska.
16. Dezember
Eissturm heute Morgen. Bin in der Einfahrt auf den Arsch gefallen,
als ich Salz streuen wollte. Tut höllisch weh. Meine Frau hat eine
Stunde gelacht. Das finde ich ziemlich grausam.
17. Dezember
Immer noch weit unter Null. Die Straßen sind zu vereist, um
irgendwohin zu kommen. Der Strom war 5 Stunden weg. Musste mich in
Decken wickeln, um nicht zu erfrieren. Kein Fernseher. Nichts zu tun
als meine Frau anzustarren und zu versuchen, sie zu irritieren. Glaube,
wir hätten einen Holzofen kaufen sollen, würde das aber nie zugeben.
Ich hasse es, wenn sie recht hat ! Ich hasse es, in meinen eigenen
Wohnzimmer zu erfrieren!
20. Dezember
Der Strom ist wieder da, aber noch mal 40 cm von dem verdammten Zeug
letzte Nacht ! Noch mehr schaufeln. Hat den ganzen Tag gedauert. Der
beschissene Schneepflug kam zweimal vorbei. Habe versucht eines der
Nachbarskinder zum Schaufeln zu überreden. Aber die sagen, sie
hätten keine Zeit, weil sie Hockey spielen müssen. Ich glaube, dass die
lügen.
Wollte eine Schneefräse im Baumarkt kaufen. Die hatten keine mehr.
Kriegen erst im März wieder welche rein. Ich glaube, dass die lügen. Bob
sagt, dass ich schaufeln muss oder die Stadt macht es und schickt mir die
Rechnung. Ich glaube, dass er lügt.
22. Dezember
Bob hatte recht mit weißer Weihnacht, weil heute Nacht noch mal 30 cm
von dem weißen Zeug gefallen ist und es ist so kalt, dass es bis August nicht
schmelzen wird. Es hat 45 Minuten gedauert, bis ich fertig angezogen
war zum Schaufeln und dann musste ich pinkeln. Als ich mich schließlich
ausgezogen, gepinkelt und wieder angezogen hatte, war ich zu müde
zum Schaufeln. Habe versucht für den Rest des Winters Bob anzuheuern,
der eine Schneefräse an seinem Lastwagen hat, aber er sagt, dass er zu
viel zu tun hat. Ich glaube, dass der Wichser lügt.
23. Dezember
Nur 10 cm Schnee heute. Und es hat sich auf 0 Grad erwärmt. Meine
Frau wollte, dass ich heute das Haus dekoriere. Ist die bekloppt? Ich
habe keine Zeit - ich muss SCHAUFELN!!! Warum hat sie es mir nicht schon vor
einem Monat gesagt? Sie sagt, Sie hat, aber ich glaube, dass sie lügt.
24. Dezember
20 Zentimeter. Der Schnee ist vom Schneepflug so fest
zusammengeschoben, dass ich die Schaufel abgebrochen habe. Dachte ich
kriege einen Herzanfall.
Falls ich jemals den Arsch kriege, der den Schneepflug fährt, ziehe
ich ihn an seinen Eiern durch den Schnee. Ich weiß genau, dass er sich
hinter der Ecke versteckt und wartet bis ich mit dem Schaufeln fertig
bin. Und dann kommt er mit 150km/h die Straße runtergerast und wirft
tonnenweise Schnee auf die Stelle, wo ich gerade war. Heute Nacht
wollte meine Frau mit mir Weihnachtslieder singen und Geschenke auspacken,
aber ich hatte keine Zeit. Musste nach dem Schneepflug Ausschau halten.
25. Dezember
Frohe Weihnachten. 60 Zentimeter mehr von der weißen Kacke.
Eingeschneit. Der Gedanke an Schneeschaufeln läßt mein Blut kochen.
Gott, ich hasse Schnee! Dann kam der Schneepflugfahrer vorbei und hat nach einer
Spende gefragt. Ich hab ihm meine Schaufel über den Kopf gezogen. Meine
Frau sagt, dass ich schlechte Manieren habe. Ich glaube, dass sie eine
Idiotin ist. Wenn ich mir noch einmal Wolfgang Petry anhören muss, werde
ich sie umbringen.
26. Dezember
Immer noch eingeschneit. Warum um alles in der Welt sind wir hierher
gezogen? Es war alles IHRE Idee. Sie geht mir echt auf die Nerven.
27. Dezember
Die Temperatur ist auf -30 Grad gefallen und die Wasserrohre sind
eingefroren.
28. Dezember
Es hat sich auf -5 Grad erwärmt. Immer noch eingeschneit. DIE ALTE
MACHT MICH VERRÜCKT!!!
29. Dezember
Noch mal 30 Zentimeter. Bob sagt, dass ich das Dach freischaufeln
muss, oder es wird einstürzen. Das ist das Dämlichste was ich je gehört
habe.
Für wie blöd hält der mich eigentlich?
30. Dezember
Das Dach ist eingestürzt. Der Schneepflugfahrer verklagt mich auf
50.000 DM Schmerzensgeld. Meine Frau ist zu ihrer Mutter gefahren. 25
Zentimeter vorhergesagt.
31. Dezember
Habe den Rest vom Haus angesteckt. Nie mehr Schaufeln.
8. Januar
Mir geht es gut. Ich mag die kleinen Pillen, die sie mir dauernd geben.

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