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1.
"Und? Schon was Passendes gesichtet?" fragt Tom und sieht mich leicht ungeduldig von der Seite an. "Nein" sage ich knapp. "Und jetzt verschwinde hier, sonst wird das nie was" füge ich noch genervt hinzu. Langsam wird es wirklich dringend. Wir haben kaum noch Bargeld und eben mal noch das Eintrittsgeld für diesen Nobelschuppen hier zusammenkratzen können. Ich hasse Nobelschuppen und muss mich schon arg zusammenreissen, um nicht angewidert die Nase zu rümpfen. Aber ich bin auch nicht bereit, die nächsten Tage auf Essen zu verzichten. Das hatten wir schon zu oft in letzter Zeit und langsam aber sicher zerrt es doch gewaltig an meinen Nerven.
Müde beobachte ich Tom, der endlich den Rückzug angetreten hat und nun auf mich wartet. Ich hoffe, er wird nicht ungeduldig, sonst macht er noch alles kaputt.
Okay, also auf in den Kampf. Ich straffe meinen Körper und lasse meinen Blick dann gelangweilt durch die halbdunkle Bar schweifen. Schließlich bleibe ich an einem Typen hängen. Der könnte gehen. Allein scheint er schon mal zu sein. Langsam setze ich mich in Bewegung und registriere beim Näherkommen teure Uhr, teure Klamotten und gute Schuhe. Sehr schön. Dann lohnt es sich wenigstens. Mit einem leichten Lächeln lasse ich mich neben ihn auf den Barhocker sinken und schenke ihm einen kurzen Seitenblick. Hässlich ist er auch nicht. Obwohl mich das eigentlich nicht wirklich interessiert. Ich bestelle mir etwas zu trinken und überlege, ob ich ihn gleich ansprechen oder lieber noch einen Moment warten soll.
"Bist Du ganz alleine hier?" reisst mich plötzlich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich schaue auf und er ist mir tatsächlich zuvorgekommen. Und was für einen tollen Spruch er auf Lager hat! Innerlich verdrehe ich die Augen, schenke ihm gleichzeitig mein strahlendstes Lächeln und strecke ihm die Hand entgegen. "Ja. Ich bin Anna" sage ich locker, so locker, als würde ich wirklich so heißen. "Clemens" sagt er grinsend und während ich noch nachdenke, ob es einen langweiligeren Namen geben kann, fragt er: "Darf ich dich einladen?" Ich nicke begeistert, oder versuche zumindest, so zu tun.
Das ich darauf spekuliert habe, dass er mich einlädt, weil ich nicht mal mehr einen einzigen müden Cent in der Tasche habe, muss er ja nicht unbedingt wissen.
Die nächste Viertelstunde lasse ich ihn reden. Männer hören sich eben gern selbst reden und ein gelegentliches Nicken sowie zustimmende Laute meinerseits scheinen ihm erstmal zu reichen. Geht ja leichter, als ich dachte. Trotzdem sehne ich den Augenblick herbei, der mich von diesem nervigen Geplänkel erlösen wird.
Fünf Minuten später ist es endlich soweit. Er hat mir unbewusst verraten, wo er seine Autoschlüssel versteckt hat. Und bevor ich hier vor Langeweile gleich einschlafe, sollte ich so allmählich mal in die Puschen kommen. "Entschuldigst du mich kurz?" frage ich mit unschuldigem Augenaufschlag und beuge mich dabei leicht zu ihm vor. Gleichzeitig lasse ich unbemerkt meine Hand in seiner Jackentasche verschwinden. Ah, da ist er ja schon. Das geht ja schon fast zu leicht. Mein Adrenalinspiegel ist jedenfalls noch nicht wirklich angestiegen. Vorsichtig lasse ich den Schlüssel in meiner Hand verschwinden und mache mich nach einem kurzen Nicken Richtung Clemens auf den Weg zu den Toiletten.
Schon von weitem sehe ich Tom ungeduldig mit dem Fuß Kreise auf den Fußboden malen. Geduld war wirklich noch nie seine Stärke. Dabei muss er heute gar nichts großartiges machen. Die ganze Arbeit habe ja wohl ich. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein ermüdenderes Gespräch als mit diesem Clemens geführt zu haben. "Du hast zehn Minuten" zische ich Tom entgegen und drücke ihm unauffällig im Vorbeigehen die Schlüssel in die Hand. Tom nickt und verschwindet Richtung Ausgang. Ich wasche mir kurz auf der Toilette die Hände und schlendere dann zurück zu diesem Langweiler. Er strahlt mir schon entgegen und ich muss ein Gähnen unterdrücken. Und ich schwöre mir gerade innerlich, dass Tom nächstes Mal wieder dran ist. Schließlich bringt er uns auch ständig um unsere ganze Kohle.
Clemens fängt wieder an zu reden, aber ich höre nur mit halben Ohr hin. Immer wieder lasse ich meinen Blick zum Ausgang gleiten. Wo bleibt er denn nur? Da, endlich erkenne ich Tom, der langsam auf mich zukommt und dann an mir vorbeigeht. Wieder spüre ich den fast schon vertrauten Druck der Autoschlüssel in meiner Hand. Jetzt hab ich noch fünf Minuten Zeit, bevor ich mich mit Tom draußen treffe. Ich hoffe, er hat etwas brauchbares gefunden. Aber bei diesem Clemens war es so leicht, an die Schlüssel zu kommen, dass ich auch noch einen Schritt weiter gehen kann. Nur um sicher zu gehen, dass ich diese Aktion nicht schon morgen Abend wiederholen muss.
Wieder beuge ich mich diesem Clemens entgegen und flüsterte ihm irgendeine Nettigkeit ins Ohr. Er grinst. Dass seine Geldbörse hinter meinem Rücken verschwindet, scheint er nicht zu merken. Aber wenigstens hab ich ihm gleichzeitig seine Autoschlüssel wieder dorthin gesteckt, wo sie hingehöhren.
"Ich komm gleich wieder" meine ich mit verführerischem Augenaufschlag und bin schon von meinem Barhocker aufgestanden. Clemens nickt lieb und fast tut er mir ein bisschen leid. Aber nur fast. Ich hab das einfach schon zu oft gemacht, als dass ich mit so jemandem noch Mitleid haben könnte. Und außerdem kann ich nichts für seine Naivität.
So. Und jetzt schnell raus hier. Ich muss aufpassen, dass ich nicht renne und mein Herzschlag hat sich jetzt doch ganz schön beschleunigt.
Tom steht draußen vor der Tür und grinst breit. Sein Grinsen wird noch breiter, als ich mit der Geldbörse vor seinen Augen herumfuchtel. Er will sie mir schon aus der Hand reissen, aber ich bin schneller. "Nichts da, Tom. Erst musst du zeigen, was du hast" fordere ich lächelnd. Tom verdreht die Augen und hält mir dann ein Handy entgegen. "Das war alles?" frage ich entgeistert. Er nickt. Na toll. Hat sich ja voll gelohnt. Dann fällt mir wieder ein, was ich in der Hand halte. Und das hat sich gelohnt. Fast 500 Euro. Wenn der Typ so viel Kohle mit sich rumschleppt, kann er ja nicht arm sein. Wobei niemand arm ist, der in solchen Lokalitäten verkehrt. Ich falle Tom um den Hals. "Komm, fahren wir nach Hause" sagt Tom und zieht mich hinter sich her. "Fahren?" frage ich misstrauisch. "Taxi" erwidert er knapp. Ja. Bei so viel Geld muss das drin sein, da hat er nicht ganz Unrecht.
Ein paar Minuten später sitzen wir zusammengekuschelt auf dem Rücksitz des nächstbesten Taxis, das wir finden konnten. Und jetzt will ich nur noch nach Hause. "Shirin?" kommt es von Tom. Ich sehe ihn an. Er zieht mich noch enger an sich. Was kommt jetzt? "Ich liebe dich" haucht er mir ins Ohr. "Ich dich auch" antworte ich und seit langem hört es sich mal nicht mechanisch an. In diesem Moment meine ich es so, wie ich es gesagt habe.
2.
Wir haben kaum die Tür unserer schäbigen „Wohnung“ hinter uns zugemacht, als Tom auch schon nach mir greift und mich hart gegen die Wand drückt. Er blickt mir tief in die Augen und ich weiß, warum er so aufgeheizt ist. Erstens müssen wir jetzt mal ein paar Tage nicht über Probleme und Sorgen nachdenken, aber da ist auch noch etwas anderes. Etwas, das ich nicht wirklich nachvollziehen kann, was mir aber trotzdem ein Grinsen auf die Lippen zaubert.
„Lachst du mich aus?“ fragt Tom so nah an meinem Gesicht, dass ich seinen Atem auf den Wangen spüren kann. Mein Grinsen wird breiter. „Du willst keine ernsthafte Antwort auf diese Frage Tom“ sage ich in provozierendem Tonfall. „Ich kann ja auch nichts dafür, dass mich das anmacht, wenn du mit anderen Männern flirtest“ verteidigt er sich und wieder muss ich grinsen. „Du hast einen ganz gewaltigen Schaden“ flüstere ich und drücke mich noch näher an ihn. Wenn ich behaupten würde, dass mich das kalt lässt, wäre das eine glatte Lüge.
„Komm her“ haucht Tom mir entgegen und in der nächsten Sekunde treffen unsere Lippen aufeinander. Meine Gänsehaut steigert sich fast ins Unermessliche und keine zwei Minuten später hat er mich auch schon ins Bett getragen. Und endlich weiß ich wieder, warum ich mit Tom zusammen bin.
***
Ich schrecke hoch, weil mich irgendein Geräusch geweckt hat. Verschlafen blinzele ich und merke, dass ich allein im Bett liege. Nanu? Tom der Langschläfer ist vor mir aufgestanden? Merkwürdig. Genüsslich strecke ich mich, schließe die Augen und träume von einem Frühstück im Bett. Vielleicht ist er ja einkaufen gegangen.
Dann fällt mir die vergangene Nacht wieder ein. Und jetzt kann ich noch weniger verstehen, dass Tom schon aufgestanden ist. Immerhin hat er sich ganz schön verausgabt, als wir inmitten der ganzen Scheine... Moment mal. Das Geld. Bitte, lieber Gott, lass das nicht wahr sein. Aber in meiner Welt existiert kein lieber Gott. Und als ich entsetzt die Augen wieder aufreiße, sehe ich nichts. Kein Geld.
Nicht ein einziger verdammter Schein liegt auf dem Bett und es nützt auch nichts, dass ich mich runterbeuge, um auf dem Fußboden nachzusehen, denn eigentlich weiß ich schon, dass es nicht runtergefallen ist. „Scheiße!“ fluche ich laut und sitze senkrecht im Bett. Das hat er nicht getan. Das kann er einfach nicht getan haben! Und ich träume hier von Frühstück.
„Shirin, du bist wirklich zu naiv für diese Welt“ schimpfe ich mit mir selbst und schlage mir mit der Hand vor die Stirn.
***
Als am frühen Nachmittag endlich die Wohnungstür klappt, brodele ich schon vor Wut. Da wir fast nichts Essbares mehr im Haus hatten, habe ich mittlerweile auch heftiges Magenknurren, was die ganze Sache nicht besser macht. Und da hilft Tom auch sein flehender Gesichtsausdruck nichts. Ich kann gar nicht mehr sagen, wie viele Foltermethoden ich mir in den letzten paar Stunden ausgedacht habe.
„Sag jetzt nicht, dass du gespielt hast“ fahre ich ihn an und baue mich bedrohlich vor ihm auf. „Shirin... ich...“ stammelt Tom und ich würde ihm am liebsten eine knallen. „Und wie viel Geld ist noch übrig?“ frage ich weiter. Auf sein Gestotter kann ich jetzt wirklich gut verzichten und eigentlich ist nur die nächste Antwort wichtig. „Fast nichts“ erwidert Tom und senkt den Blick.
Wortlos drehe ich mich um und laufe Richtung Wohnungstür. Das war jetzt wirklich zu viel. Genau ein Mal zu viel. Er rennt hinter mir her und bekommt meinen Arm zu fassen. Aufgebracht fahre ich herum und blitze ihn wütend an. „Was denn noch Tom? Keine Entschuldigung die du dir ausdenkst, bringt uns das Geld zurück. So eine verfluchte Scheiße!“ Jetzt habe ich geschrien und als ich sehe, wie Tom zusammenzuckt, bekomme ich wieder Mitleid. So wie immer. „Du brauchst Hilfe Tom“ sage ich monoton. Es klingt so monoton, weil ich verdränge, wie oft ich diese Worte schon wiederholt habe. „Ja. Du hast Recht. Ich weiß das, Shirin. Aber erst mal müssen wir uns um neues Geld kümmern“ antwortet Tom und ich weiß ganz genau, dass es wieder nur eine Ausrede ist. Obwohl es natürlich stimmt, dass wir dringend Kohle brauchen. Und trotzdem benutzt er es als Vorwand, um sich nicht mit seinen Problemen beschäftigen zu müssen. Doch ich liebe ihn zu sehr, als dass ich ihn jetzt hier alleine lassen könnte. „Das kannst du vergessen Tom“ sage ich trotzdem gefährlich leise. Ich hab mir gestern erst diese Tortur angetan, und ich werde mich heute weigern.
Und Tom kennt mich gut genug. Endlich lässt er meinen Arm wieder los und schiebt ein „Nicht du Shirin, heute bin ich dran“ hinterher. „Darauf kannst du Gift nehmen“ motze ich weiter, aber ich weiß, dass ich schon längst nicht mehr so sauer klinge, wie ich eigentlich sollte. Und das Schlimme ist, dass Tom das auch weiß. Langsam schleicht sich wieder ein leichtes Grinsen um seine Mundwinkel und seine Gesichtszüge entspannen sich. „Ich kann auch allein gehen“ sagt er leise.
Soll das ein Witz sein? Tom, Alkohol und stinkreiche aufgetakelte Weibsbilder – keine gute Mischung. „Auf keinen Fall“ widerspreche ich energisch und Tom grinst mittlerweile von einem Ohr zum anderen. „Wird da jemand eifersüchtig?“ zieht er mich auf. „Pfff“ schnaube ich, aber es hat keinen Sinn.
Es ist eben kein Geheimnis, dass ich alles andere als drauf stehe, wenn Tom mit anderen Frauen rummacht. Ich schmiede schon wieder Mordpläne. Nur kann ich mich nicht entscheiden, für wen eigentlich. Für Tom, weil er uns schon wieder um unser ganzes Geld gebracht hat oder für die Frau, die es wagt, meinen Freund anzufassen? Das wird sich heute Abend noch zeigen.
3.
Okay. Tief einatmen. Ausatmen. Beruhigen. Scheiße. Geht nicht. Ich koche. Nein, das ist untertrieben. Ich fühle mich wie ein Vulkan, der gleich ausbricht. Und das dauert nicht mehr lange, wenn das so weitergeht.
Wütend schlage ich ein Bein über das andere und trinke noch einen Schluck Cola, um wieder runterzukommen. Dann riskiere ich einen weiteren Blick auf Tom und seine Tuse, die er sich geangelt hat. Sehr lohnenswert, die Dame. Wirklich. Ich kann das Geld schon förmlich riechen. Aber was mich wirklich auf die Palme bringt, ist ihr extremst gutes Aussehen. Manchmal ist das Leben halt ungerecht.
Und wenn sie nicht sofort damit aufhört, genüsslich über seinen Oberschenkel zu streicheln, kann sie sich gleich ihr eigenes Grab schaufeln. Warum macht er nichts dagegen? Er hat sie doch schon längst soweit. Ein kleiner Griff und wir können getrost hier verschwinden. Ich habe mich geweigert, heute diese Nummer mit dem Autoschlüssel durchzuziehen. Frauen sind nicht so dumm und lassen irgendwelche wertvollen Gegenstände einfach so im Auto liegen. So herrlich dumm sind leider nur Männer.
Heißt im Klartext, dass Tom einfach einen passenden Moment abpassen muss und schon ist die Sache gegessen. Eigentlich hätte ich wirklich zu Hause bleiben können. Doch ich weiß genau, wie das geendet hätte. Und immerhin hab ich es geschafft, dass der nette Mensch hinter der Theke meine Cola aufs Haus gehen lässt. Ist doch auch schon mal was.
Ein weiterer Blick Richtung Tom. Was um alles in der Welt macht er denn da? Oder besser gesagt, was macht diese Tante da mit meinem Freund? Wohlgemerkt MEINEM Freund. Nur kann sie das ja nicht wissen. Sie küsst ihn. Für eine Sekunde verschlägt es mir die Sprache und ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll. Sie küsst ihn. Und er wehrt sich nicht. Verdammt noch mal, er wehrt sich nicht, im Gegenteil. Das reicht jetzt wirklich.
Endlich erwache ich aus meiner Starre und springe von meinem Stuhl auf. „Ich muss gehen“ sage ich fahrig zu dem Kerl hinter dem Tresen, drehe mich um und erstarre schon wieder. Er ist weg. Tom ist verschwunden. Leider ist nicht nur er verschwunden. Beide Stühle sind leer und ich beschleunige meinen Schritt Richtung Toiletten. Woanders werden sie nicht sein.
Ich platze gleich. Wütend stürme ich in das Klo und sehe sie, wie sie sich gerade die Hände wäscht. Hm. Anscheinend ist Tom doch nicht mitgegangen. Ohne ein Wort trete ich den Rückzug an und steuere dem Ausgang entgegen. Da steht er. Zappelt von einem Bein aufs andere. „Wo bleibst du denn?“ ruft er mir zu. Haha. Selten so gelacht. „Was war das denn für ne Nummer da drin?“ stelle ich als Gegenfrage und deute mit dem Finger zurück in diesen komischen Schuppen. Tom packt mich ungeduldig am Arm und schleift mich mit sich. „Können wir vielleicht erst mal von hier verschwinden, bevor du den Aufstand probst?“ Jetzt macht er auch noch einen auf beleidigt oder wie? Ich kann es gar nicht glauben, was hier abgeht.
Ein paar Meter lasse ich mir das Gezerre gefallen, dann siegt wieder die Wut. Ich bleibe einfach stehen und Tom stolpert fast. „Was soll das Shirin? Die Alte wird gleich merken, dass ihr was fehlt!“ Tom sieht mich böse an. Doch das kann ich mindestens genau so gut. „Das ist mir grade scheißegal! Warum hast du sie geküsst?“ will ich wissen und Tom verdreht die Augen. „Erstens hat sie mich geküsst und zweitens ist das hier nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu besprechen!“ Okay. Langsam wird mir der Ernst der Lage bewusst. Nachher hab ich noch ne Anzeige am Hals, nur weil sich der liebe Tom mal wieder nicht beherrschen konnte.
Ohne ein Wort laufe ich weiter. Aber warte ab Tom, wenn wir zu Hause sind, kannst du was erleben, sei dir sicher. Das ist ein Schwur, den ich mir innerlich gebe.
***
Zu Hause werfe ich meine Jacke in eine Ecke und funkele dann Tom mehr als schlecht gelaunt an, der schon wieder so tut, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Den ganzen restlichen Heimweg habe ich kein einziges Wort mit ihm gewechselt, aber das wird sich in der nächsten Sekunde ändern. „Rede“ fordere ich ihn auf. „Sag mal, wie kannst du dich nur so aufregen? Es war doch gar nichts!“ „Nichts? Nennst du das nichts wenn du andere Frauen knutscht?“ Aufgebracht werfe ich meine Arme in die Luft. Tom fängt sie ab und hält sie fest. „Shirin. Hör mir zu. SIE hat MICH geküsst. Und das muss doch glaubhaft wirken, wenn ich ihr was von einem One-Night-Stand erzähle“ meint er dann betont ruhig. Das wird ja immer besser. „Du hast ihr WAS erzählt? Ich glaub, ich bin im falschen Film“ motze ich weiter. Ich glaubs einfach nicht. Primitiver und einfallsloser geht’s ja wirklich nicht mehr. „Mein Gott, ich bin halt keine Frau, ich hab nicht so viel Fantasie“ kommentiert Tom meinen Ausbruch, lässt mich aber immer noch nicht los. „Weißt du was? Du kannst heute Nacht im Flur oder im Keller oder was weiß ich wo schlafen. Hast du mich verstanden?“ zische ich so leise, dass er mich so eben grade verstehen kann. „Shirin...“ macht Tom einen letzten Versuch, sich zu rechtfertigen. „Lass mich in Ruhe“ schneide ich ihm brüsk das Wort ab. Ich will jetzt überhaupt nichts mehr hören.
Aber ich habe Tom unterschätzt. Er lässt jetzt zwar endlich meine Arme los, aber nur, um mir dann mit einer kleinen niedlichen Geldbörse vor dem Gesicht herum zu wedeln. „Willst du denn gar nicht wissen, was da drin ist?“ grinst er. Scheiße. Jetzt hat er mich.
4.
„Natürlich will ich wissen, was da drin ist!“ zische ich Tom entgegen. Der soll bloß nicht meinen, mich so schnell wieder rumzukriegen. Sein Grinsen wird breiter und breiter und mit einer schnellen Bewegung reiße ich ihm die schwarze Geldbörse aus der Hand. Sonst wäre ich noch geplatzt vor Neugier. Hastig blättere ich die vielen Scheine durch. Wow. So viel Geld auf einem Haufen hab ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen.
„Das hat sich ja gelohnt!“ Tom pfeift anerkennend durch die Zähne. Ein kleines Lächeln kann ich mir nicht verkneifen. „Und wem haben wir das zu verdanken?“ grinst Tom selbstzufrieden. Blödmann. Ich könnte ihm schon wieder eine reinhauen.
„Wem haben wir denn zu verdanken, dass wir überhaupt heute so einen Scheiß machen mussten? Von dem Rest mal ganz zu schweigen!“ Mit diesem Satz donnere ich die Schlafzimmertür hinter mir zu und lasse einen verdatterten Tom im Flur stehen. Schnell drehe ich noch den Schlüssel herum und halte noch einen Moment an der Tür inne.
„Shirin! Was machst du denn jetzt? Ich hab mich doch entschuldigt! Lass mich rein! Bitte...“ Tom kann wirklich herzzerreißend sein, wenn’s sein muss. Aber ich habe nicht vor, mich heute noch mal von ihm einlullen zu lassen. Da nützt ihm auch sein Gehämmere an der Tür nichts. Jedenfalls vorerst nicht.
Und so lege ich mich ins Bett und finde keinen Schlaf. Weil Tom immer noch keine Ruhe gibt. „Shirin, lass mich rein! Ich will nur mit dir reden!“ Tom bettelt und fleht und nach Ewigkeiten halte ich es nicht mehr aus. Verstecke das Geld im Kleiderschrank und öffne endlich die Tür. „Was soll das Tom? Ich bin sauer auf dich und du machst es nur noch schlimmer mit deinem kindischen Verhalten“ fauche ich ihn an, aber er hat mich schon zur Seite gedrängt und steht jetzt mitten im Schlafzimmer. „Ich hab mich doch schon entschuldigt. Was soll ich denn noch machen?“ Jetzt macht er wieder auf ahnungslos. „Tom, ich sag`s dir jetzt noch mal ganz deutlich, also hör genau zu: Wenn du noch mal so einen Scheiß abziehst, dann kastrier ich dich, hast du verstanden?“ Meine Stimme überschlägt sich fast, so wütend bin ich schon wieder. Toms Miene ist von unschuldig auf wissend grinsend umgeschlagen. „Uhhh, Shirin, jetzt machst du mir Angst!“ Ich weiß genau, dass er mich nicht ernst nimmt und doch ist da etwas an seinem Tonfall, dass mich jedes Mal wieder schwach werden lässt. Das allein ist ja auch nicht schlimm. Schlimm ist nur, dass Tom das weiß. Und allein für sein dreckiges Grinsen hat er schon eine Kastration verdient, finde ich.
„Halt die Klappe“ sage ich nur, aber ich weiß, wie lächerlich das klingt. Tom schließt mich in seine Arme und ich wehre mich kaum. So eine verdammte Scheiße. Warum kann ich nicht einmal standhaft bleiben? „Gott Shirin, du machst mich wahnsinnig, wenn du so bist“ haucht er mir ins Ohr und hat mich auch schon in einen Kuss gezogen. Innerlich verfluche ich mich für meine Schwäche.
„Tom!“ bringe ich zwischen zwei atemberaubenden Küssen hervor. Er hält kurz inne und sieht mich fragend an. „Wenn das Geld wieder wegkommt, bist du tot“ krächze ich heiser. Tom geht nicht mal ansatzweise auf das eben Gesagte ein. „Und wenn ich mit dir fertig bin, kannst du nicht mal mehr fiepsen“ wispert er mir gegen die Lippen und verschließt sie dann mit seinem Mund, bevor ich noch etwas sagen kann. Wobei ich sowieso nichts mehr sagen kann, wenn er so mit mir redet. Plötzlich ist mir alles egal. Egal, wie wir unsere Miete bezahlen sollen, egal, ob wir was zu Essen im Haus haben oder nicht, einfach alles ist egal.
Ich spüre nur noch die Gänsehaut, die sich auf meinem Körper ausbreitet, lasse mich nach hinten ins Bett fallen und ziehe Tom mit mir mit.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist mein erster Blick auf die Seite neben mir im Bett gerichtet. Ja, da liegt er. Gott sei Dank. Zufrieden kuschele ich mich wieder an seinen Rücken und schlafe auch schon, kaum dass ich den Gedanken zu Ende gedacht habe.
Ich werde erst wieder munter, als Tom neben mir laut anfängt zu fluchen. „Was ist denn los?“ frage ich verschlafen. „Ich komm zu spät“ mault Tom und steigt hektisch in seine Hose. „Zu spät?“ wiederhole ich, weil ich immer noch nicht verstanden hab, worauf er eigentlich hinaus will. „Mensch Shirin, ja. Hast du es schon wieder vergessen? Ich muss zu Markus“ erklärt Tom hastig und sieht mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. Ach ja, Markus. Das kann ja wieder heiter werden. Diese ominösen Jobangebote, die dieser tolle Markus macht, die kenne ich schon zur Genüge. Ich verstehe gar nicht, dass Tom sich überhaupt die Mühe macht, deshalb früh aufzustehen. „Vergiss es doch einfach“ maule ich genervt. „Nein“ beharrt Tom, gibt mir einen schnellen Kuss und ist auch schon aus der Tür verschwunden. Ich weiß jetzt schon, wie das endet. Murrend drehe ich mich wieder auf die andere Seite, um wenigstens noch etwas Ruhe zu finden.
5.
"Shirin! Steh auf!" hämmert Toms Stimme gegen mein Ohr und ich bin mit einem Schlag hellwach. "Musst du hier so rumschreien?" blaffe ich ihn barsch an. Er weiß doch ganz genau, dass ich es nicht leiden kann, dermaßen grob geweckt zu werden. Ich lasse mich wieder rückwärts in mein Bett sinken, in dem ich für eine Sekunde kerzengrade vor Schreck gesessen hatte und verstecke meinen Kopf unter dem Kissen. Mit einem "Och Shirin..." lässt sich Tom neben mir auf die Matratze plumpsen. Ich grummel irgendwas unverständliches. Schlafen. Stundenlang hätte ich jetzt einfach noch so schlafen können. Toms streichelnde Hände auf meinem Rücken verstärken diesen Wunsch nur noch mehr. Aber er wird jetzt keine Ruhe geben, das weiß ich nur zu gut. Müde buddele ich meinen Kopf wieder unter dem Kissen aus. "Wie war es denn bei Markus?" bringe ich schließlich hervor und sehe Tom verschlafen an. "Scheiße" gibt Tom von sich. Oh ne, jetzt will er bestimmt auch noch getröstet werden. "Das hätte ich dir auch vorher sagen können" sage ich besserwisserisch. "Hmja. Aber einen Versuch war es doch wert..." versucht er sich zu rechtfertigen. Tolle Wurst. Mir steht jetzt auch irgendwie gar nicht der Sinn nach Selbstmitleid. Und über Markus will ich mich auch nicht weiter auslassen, das Thema ist für mich sowieso erledigt.
"Tommy-Schatz?" schnurre ich mit dem unschuldigsten Augenaufschlag, den ich beherrsche. Tom sieht mich einen Moment lang fragend an, durchschaut mich aber leider viel zu schnell. "Was soll ich denn machen?" will er dann in ergebenem Tonfall wissen. "Gehst du einkaufen? Ich hab Hunger" nöle ich wie ein Kleinkind. Ich weiß, dass Tom gar nicht Nein sagen kann. Nicht bei mir...
"Wo hast du denn das Geld?" Tom fragt das ganz unbeteiligt und gerade das hätte mich eigentlich aufhorchen lassen müssen. Doch ich bin viel zu müde und viel zu hungrig, um das zu merken. Mit ausgestrecktem Arm deute ich auf den Kleiderschrank. "Zweite Schublade ganz links" murmele ich und kuschel mich wieder in meine Decke. Tom steht auf und wühlt in der Schublade. Ich achte nicht darauf, wie viel von dem Geld er einsteckt. Mit federnden Schritten kommt er zurück zum Bett und lässt sich wieder neben mir nieder. "Willst du noch schlafen?" "Überflüssige Frage Tom!" murre ich und schließe die Augen. "Okay, dann geh ich mal. Bis nachher" nuschelt Tom sich in seinen nicht vorhandenen Bart und drückt mir einen kurzen Kuss auf. Doch das bekomme ich schon fast gar nicht mehr mit. Als die Wohnungstür klappt, bin ich schon wieder eingeschlafen.
***
Als ich erwache, wird es draußen schon dämmerig. Warum bloß habe ich den ganzen Tag verschlafen? So extrem ist es wirklich selten. Das kommt bestimmt davon, dass ich mir dauernd die Nächte mit irgendwelchen Typen um die Ohren schlagen muss. "Tom?" rufe ich laut. Keine Antwort. Er kann doch unmöglich immer noch einkaufen sein. Ich schlappe in die Küche, wo ein voller Einkaufskorb vor sich hin vegetiert. Mit einem Zettel drauf.
"Du hast so schön geschlafen, ich wollt dich nicht wecken. Musste noch mal weg, Tom".
Musste noch mal weg? Wohin musste er denn so dringend? Mein Verstand ist noch nicht so klar, dass ich die Botschaft dahinter verstehe. Im Augenblick freue ich mich mehr über den Einkaufskorb, schnappe mir einen Joghurt und lehne mich immer noch halb dösend an den Kühlschrank. In diesem Moment dreht sich der Schlüssel in der Tür und Tom steht keine Sekunde später im Flur. Ich brauche nur einen Blick in seine Augen, und ich weiß, wo er gewesen ist.
"Das ist jetzt nicht dein Ernst" fahre ich ihn aufgebracht an. "Shirin, beruhig dich bitte! Das war das letzte Mal, versprochen" sagt er so leise, dass ich Mühe hab, seine Worte zu verstehen. Und als ich sie endlich verstehe, als sie in meinem Gehirn angekommen sind, platzt mir der Kragen. "Wie oft hast du mir das schon versprochen Tom? Hundert Mal? Tausend Mal?" schreie ich ihn an und bei seinem Anblick wandelt sich die Wut sofort in etwas anderes. Vielleicht kann er ja wirklich nichts dafür. Vielleicht ist das auch eine Art von Sucht... ich weiß es nicht. Resigniert fahre ich mir mit der Hand über die Augen. Tom macht einen Schritt auf mich zu und fasst nach meinen Handgelenken. "Shirin, hör mir zu. Ich mach eine Therapie oder sowas, okay?" Ich bringe ein schwaches Nicken zustande. "Und wie viel Geld haben wir jetzt noch?" Ich traue mich ja kaum zu fragen, aber ich muss es trotzdem wissen. Jetzt.
"Nichts" sagt Tom schuldbewusst. Nichts. Ich lasse mir dieses eine einzige, doch so bedeutende Wort langsam auf der Zunge zergehen.
Dann hole ich tief Luft. "Okay Tom. Heute Abend gehen wir auf Tour..." Tom will etwas einwenden, aber ich halte im die Hand auf den Mund, "... und morgen gehst du irgendwo hin, wo man dir helfen kann. Hast du verstanden?" "Okay" kommt es schwach zurück.
"Und das ist das letzte Mal. Wir müssen uns dringend einen Job suchen" schicke ich noch mehr zu mir selbst als zu Tom hinterher. Einen Job suchen. Das ist so gut wie unmöglich mit unserer Vergangenheit. Aber so kann es auch nicht weitergehen...
6.
Wow, heute hab ich ja meinen Glückstag, wie es scheint. Das Exemplar von Mann da an der Bar könnte mir jedenfalls wirklich gefallen – mal abgesehen davon, dass ich längst vergeben bin. Was sich allerdings auch sehr schnell ändern kann, wenn Tom nicht gleich morgen sein Versprechen einlöst...
Ich schenke Tom einen letzten nichtssagenden Blick und marschiere dann zügigen Schrittes auf mein neuestes Opfer zu. Ich muss heute sowieso stolz auf mich sein. Nur meiner Intelligenz haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt hier sind. Das Eintrittsgeld hatte ich nämlich gerade noch so vor Toms Griffeln retten können. Gut, dass er nichts von meinem Geheimversteck für absolute Notzeiten weiß – wobei ich es ihm mittlerweile ja notgedrungen erzählen musste, weil wir sonst gar nicht hier wären... und wann es uns das letzte Mal „gut“ ging, kann ich schon gar nicht mehr sagen. Soviel dann zu meiner Intelligenz.
Inzwischen bin ich an meinem Ziel angekommen und verscheuche diese nicht grade aufmunternden Gedanken. Elegant lasse ich mich auf den Barhocker neben diesem wirklich schnuckeligen Etwas gleiten und krame in meiner Tasche nach Zigaretten. Die müssen einfach sein, egal wie wenig Geld wir auch haben. An Zigaretten komme ich immer irgendwie.
„Entschuldige, hast du mal Feuer?“ wende ich mich ein paar Sekunden später an den hübschen jungen Mann neben mir. „Sorry, ich rauche nicht“ kommt die knappe Antwort, gepaart mit einem neugierigen Blick. Na toll. Das hätte ich mir ja eigentlich auch denken können, so wie der aussieht. Bestimmt ein Gesundheitsfanatiker oder so.
Einen Mini-Moment sitze ich ein bisschen belämmert da, weil ich mit der Reaktion einfach nicht gerechnet habe. Dann fange ich wieder an, in meiner Tasche zu wühlen. Ahh, da ist es ja. „Ich hab doch noch mein Feuerzeug gefunden“ teile ich ihm mit und atme kurze Zeit später genüsslich den Rauch in meine Lunge. Wieder ein Seitenblick. „Soll das ne Anmache werden?“ fragt er und schmunzelt. Boah, was ist das denn für ein Typ? Sollte mich meine Menschenkenntnis im Stich gelassen haben? „Wie kommst du denn auf die Idee?“ frage ich möglichst desinteressiert. „Bin ich es etwa nicht wert, angemacht zu werden?“ Jetzt grinst er breit, wahrscheinlich über meinen Gesichtsausdruck. Der Kerl beraubt mich doch tatsächlich meiner Schlagfertigkeit, mir fällt einfach keine passende Antwort ein. „Ich bin übrigens Gustav“ meint er dann und hält mir die Hand hin.
`Shirin, reiß dich zusammen, das ist doch genau das, was du wolltest, wenn es auch etwas anders läuft als geplant` ermahne ich mich und schüttele schnell meine Lethargie ab. „Shirin“ sage ich gedankenlos und nehme seine Hand. Fester Händedruck, sehr angenehm. Und warum verdammt hab ich ihm jetzt meinen richtigen Namen verraten? Bin ich eigentlich noch zu retten?
Im Laufe der nächsten zwanzig Minuten stellt sich heraus, dass Gustav wirklich nett ist. Wobei ich mich langsam frage, was sich die Mütter Deutschlands eigentlich denken. Erst Clemens, jetzt Gustav, das wird immer besser. Nun gut. Jedenfalls ist er nett und irgendwann fällt mir Tom wieder ein. Er wird schon wieder ungeduldig zappelnd auf mich warten, also ergreife ich die nächste Gelegenheit und entwende Gustav mit geübtem Griff seinen Autoschlüssel. Obwohl er mir irgendwie leid tut...
Aber für Mitleid habe ich jetzt keine Zeit und ich kann es mir auch nicht leisten, mitleidig zu sein. „Bin gleich wieder da“ lächle ich ihm zu und rutsche von meinem Stuhl Gustav nickt und widmet sich wieder seinem Bier.
Und wie erwartet, steht Tom schon mit hochrotem Kopf vor den Toiletten und hampelt von einem Bein aufs andere. Irgendwie muss ich grinsen bei diesem Anblick. „Wer wird denn so ungeduldig sein?“ raune ich ihm zu und drücke ihm gleichzeitig den Schlüssel in die Hand. Er schenkt mir einen bösen Blick und ich verschwinde kurz auf dem Klo. Dann mache mich wieder auf den Rückweg. Keine zehn Minuten später rauscht Tom an mir vorbei und ich hab ruck zuck den Schlüssel wieder da verstaut, wo er hingehört. Geht ja alles wie geschmiert...
Jetzt noch ein bisschen Geplänkel und dann muss ich mal so langsam zusehen, dass ich Land gewinne. Hm. Ein bisschen Mitleid macht sich doch schon wieder in mir breit. Irgendwie bringe ich es nicht übers Herz, ihm seine Brieftasche zu klauen. Was ist bloß in mich gefahren? Ich beschließe, mal kurz abzuchecken, was Tom so gefunden hat, vielleicht kann ich Gustav dann ja wenigstens sein Geld lassen. Tom kennt halt auch die richtigen Leute, die alles mögliche zu Barem machen, selbst wenn es nur ein dusseliges Handy ist.
„Entschuldigst du mich noch mal kurz?“ frage ich Gustav. „Hast du ne Blasenentzündung?“ kommt sofort die Gegenfrage und ich muss lachen. „Ich warte schön brav hier, das muss ich sowieso“ meint er dann. Ich verstehe zwar den Sinn dieses Satzes nicht so ganz, aber habe jetzt auch keine Lust, hier die Psychoanalytikerin zu spielen.
Schnellen Fußes mache ich mich auf die Suche nach Tom und hoffe, dass Gustav nicht merkt, wohin ich gehe. Die Toiletten sind nämlich ganz woanders. Tom steht gelangweilt in der Nähe des Ausgangs. „Und?“ begrüße ich ihn. „Der Typ ist anscheinend nicht mit dem Auto hier... jedenfalls öffnet sich keins der Autos auf dem Parkplatz“ sagt er resigniert. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. „Dann muss ich noch mal rein“ schnaube ich und Tom nickt. Er sieht nicht gerade glücklich aus und geht ein Stück mit mir mit, bleibt aber dann genau wie ich angewurzelt in der Nähe der Bar stehen.
Toll. Anscheinend ist der gute Gustav nicht alleine hier. Denn neben ihm sitzt noch ein Typ, noch attraktiver als er selbst und wirkt nicht weniger gut situiert. Die beiden unterhalten sich angeregt. Vielleicht erklärt das die Sache mit dem Autoschlüssel. Nur wo war der andere Typ denn die ganze Zeit? Ist der ins Klo gefallen?
Ich zucke mit den Schultern und laufe los. Wenn es sein muss, werde ich auch mit zweien fertig. Und heute muss das sein.
Ich bin noch keinen Meter gelaufen, als Tom mich grob am Arm festhält. Aufgebracht wirbele ich herum. „Bleib hier Shirin“ sagt er und erst jetzt merke ich, dass er ganz blass um die Nase geworden ist. „Spinnst du? Ich schaff das schon“ versuche ich ihn zu beruhigen und ignoriere sein merkwürdiges Verhalten. Zweifelt er jetzt neuerdings an meinen Fähigkeiten oder was ist hier los? Aber das ist mir jetzt auch herzlich egal.
Mit einer schnellen Bewegung reiße ich mich los und bin schon auf dem Weg zu Gustav, bevor Tom noch irgendwas sagen kann.
* * *

7.
„Da bin ich wieder“ begrüße ich Gustav betont gut gelaunt und unterbreche damit das Gespräch der beiden. „Oh ja, schön. Darf ich dir Bill vorstellen? Mein bester Freund“ sagt Gustav lächelnd. „Und das ist Shirin“ fügt er noch an Bill gewandt hinzu. Toll, schreib meinen Namen am besten gleich in die Zeitung, dass ihn auch ja jeder weiß. Aber ich bin ja selber schuld, was bin ich auch immer so gedankenverloren...
„Hi“ grinst dieser Bill und hält mir die Hand hin. Zum ersten Mal werfe ich einen Blick in sein Gesicht, und ich habe mich nicht getäuscht. Ich weiß gar nicht, wen von den beiden ich anziehender finden soll. Doch dann bleibe ich an seinen Augen hängen und mein Herz setzt für einen Schlag aus. Ich dachte immer, Tom hätte die schönsten Augen der Welt. Diese hier sind denen von Tom mehr als ähnlich, dabei aber viel geheimnisvoller. Kann es so was eigentlich geben? „Hat`s dir die Sprache verschlagen?“ reißt Bill mich aus meinen Gedanken und grinst amüsiert. Ich zucke leicht zusammen und erst jetzt fällt mir auf, dass ich immer noch seine Hand festhalte. Gott, wie peinlich. Hoffentlich hat Tom das jetzt nicht gesehen. Aber der Platz, an dem er eben noch stand, ist leer.
Einen Sekundenbruchteil später entziehe ich Bill so schnell meine Hand, als hätte ich einen Stromschlag abbekommen. „Ich... nein, äh... ich meine...“ stottere ich vor mich hin. Was wollte ich gleich noch mal sagen?
Meine Güte, was müssen die beiden nur von mir denken. Ich bin doch sonst nicht so durcheinander.
Okay, alles noch mal auf Anfang. Energisch straffe ich meine Schultern und hole einmal tief Luft. „Ich bin Shirin“ sage ich dann unheimlich souverän. „Soweit waren wir eben auch schon“ schmunzelt Bill und greift nach seinem Bierglas. Haha, selten so gelacht.
„Sag mal, wo hast du denn die verwirrte Kleine aufgegabelt?“ will er dann von Gustav wissen. Noch so ein Spruch und er hat sein Bier im Gesicht kleben, jede Wette. „Ich bin weder klein, noch hat Gustav mich irgendwo aufgegabelt wie du das so schrecklich nett ausdrückst und verwirrt bin ich schon mal gar nicht! Schönen Dank für das tolle Gespräch“ werfe ich ihm gereizt vor die Füße, bevor Gustav irgendwas antworten kann. Diesmal ging es ohne Rumgestotter und in ganzen Sätzen.
„Na siehst du, jetzt hast du deine Sprache wiedergefunden“ stellt Bill mit zufriedenem Gesichtsausdruck fest. „Außerdem konnte man das jetzt für mein Empfinden kein Gespräch nennen“ setzt er dann noch oben drauf. Der geht mir aber so ganz langsam auf die Nerven jetzt. Empört schnappe ich nach Luft.
„Bill, lass sie in Ruhe!“ Gustav schüttelt tadelnd den Kopf. „Wir haben nur zufällig nebeneinander gesessen und uns wirklich sehr nett unterhalten“ erklärt er ihm dann. Oooch, das hat er aber niedlich gesagt...
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, zu groß ist das Hochgefühl, dass sich jemand für mich einsetzt und mich verteidigt.
„Das sollte auch alles andere als ein Angriff werden. Ich wundere mich nur gerade, dass du immer so hübsche Frauen kennen lernst, wenn ich nicht dabei bin. Dich kann man wirklich keine Minute allein lassen“ kommt es von Bill, der anklagend eine Augenbraue hochgezogen hat. Versucht er es jetzt auf die Schleimer-Tour oder wie? Das zieht bei mir sowieso nicht. „Du warst ja auch wohl mehr als nur eine Minute weg“ fällt mir dann ein und Gustav fängt an zu lachen. Immerhin hab ich um die zwanzig Minuten mit Gustav gequatscht und Bill war vielleicht in Timbuktu, aber mit Sicherheit nicht hier.
Für eine Sekunde hab ich Bill anscheinend aus der Fassung gebracht, denn er schaut mich nur ungläubig an. Doch er fängt sich schneller, als mir lieb ist.
„Ich hatte was Geschäftliches zu erledigen“ erwidert er mit einem süffisanten Lächeln. Geschäftliches? Was zum Kuckuck treibt er denn für Geschäfte an so einem Ort wie diesem hier? Dass ich selber meine „Geschäfte“ an Orten wie diesen hier erledige, kommt mir gar nicht erst in den Sinn.
„Okay, Bill hör zu: Erstes bist du mir keine Rechenschaft schuldig und zweitens interessiert es mich auch nicht die Bohne“ platze ich heraus und jetzt funkelt Bill mich böse an. „Hey Kinder, jetzt reicht`s aber langsam“ geht Gustav beschwichtigend dazwischen. Mein Gott, ich kann ja auch nichts dafür, wenn mich dieser Bill-ich-bin-ja-so-toll dermaßen reizt und provoziert. Bestimmt parkt der immer nur im Schatten. Da kann einem ja auch schon mal der Kragen platzen. Und die beiden sind beste Freunde? Ich kann das grad so gar nicht glauben.
Und ich sollte jetzt so langsam mal gehen, stelle ich nach einem Blick auf die Uhr fest. Und da Gustav so nett und Bill mir so unsympathisch ist, kann ich Gustav ja auch ganz einfach sein Geld lassen, das habe ich soeben beschlossen. „Ich muss jetzt los“ sage ich knapp in Gustavs Richtung. „Oh, schade. Ich hoffe, Bill hat dich nicht vergrault“ antwortet er. „Keine Bange, da muss er schon schwerere Geschütze auffahren“ grinse ich zurück. „Gibst du mir deine Nummer?“ fragt Gustav geradeheraus und ich nicke. Die nächsten paar Minuten bin ich mit Wühlen in meiner Tasche und Hinkritzeln irgendeiner imaginären Nummer auf einen Bierdeckel beschäftigt. Natürlich schreibe ich ihm nicht meine richtige Telefonnummer auf, so nett er auch immer sein mag. Die ganze Zeit kann ich Bills bohrende Blicke förmlich im Rücken spüren. Er macht mich immer noch wütend. Und deswegen wird er jetzt auch dafür bluten.
„So, dann mach es mal gut und ruf mich bei Gelegenheit an“ verabschiede ich mich von Gustav und stecke ihm den Bierdeckel zu. Irgendwie schade, dass ich ihn wohl nie mehr wiedersehen werde.
Dann drehe ich mich zu Bill um. „Schön, dich kennen gelernt zu haben“ schnurre ich zuckersüß und ohne einen Hauch Ironie in der Stimme, trete noch einen Schritt näher an ihn heran und kann dabei seinen Geruch einatmen. Wow. Aber jetzt bloß nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Unauffällig verschwindet meine Hand in seiner Jackentasche. Und schon habe ich, was ich will. Eigentlich viel zu einfach, das Ganze. Aber ich hab es wohl schon zu oft gemacht, um dabei noch einen Adrenalinstoß zu empfinden. „Dito, Shirin – und vergiss nicht: Man sieht sich immer zweimal im Leben“ sagt Bill und ich kann nicht so richtig einschätzen, wie er das meint. Auf jeden Fall hat er meinen Namen sehr betont ausgesprochen. Er wirft mir einen Blick zu, den ich beim besten Willen nicht deuten kann, und erhält im Gegenzug mein allerschönstes Kleinmädchen-Lächeln. Hoffentlich hat es sich gelohnt.
Und dann bin ich auch schon draußen.
Tom schaut grade genervt auf seine Uhr als ich auf ihn zugehe, deswegen sieht er mich erst, als ich schon direkt vor ihm stehe. „Na, wartest du schon lange?“ ziehe ich ihn auf und er schnaubt verächtlich, dann wird er auf einmal hektisch. „Wo bleibst du denn Shirin? Ich wollte schon ne Vermisstenanzeige aufgeben! Komm jetzt endlich, schnell“ drängelt er und zieht mich am Arm hinter sich her. „Mein Gott Tom, was ist denn los? Du warst vorhin schon so komisch“ rufe ich ihm zu und erhalte doch nur wieder ein Schnauben als Antwort. Den Rest des Weges redet Tom leise vor sich hin, aber mehr mit sich selbst als mit mir. Je öfter ich nachfrage, desto weniger beachtet er mich. Immer noch hat er meinen Arm fest im Griff und ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, irgendwelche Wortfetzen aufzuschnappen, als mich dagegen zu wehren. „... immer noch nicht glauben...“ „... das... gibt`s doch gar nicht...“ – ist alles, was ich von seinem Gebrabbel verstehen kann. So merkwürdig hat Tom sich noch nie aufgeführt. Als wir endlich vor unserem Haus stehen, muss er mich loslassen, damit er den Schlüssel suchen kann. „Tom, jetzt sag schon! Was hat das zu bedeuten?“ Langsam werde ich ungeduldig. Warum sagt er mir nicht, was das alles soll?
Und endlich reagiert er auf mich. Er zieht seine Hand aus der Hosentasche, natürlich ohne Schlüssel, und sieht mich fest an. „Das eben da drin.... das war mein...“ „Shirin!“ schreit plötzlich jemand hinter uns und ich drehe mich erschrocken um. Scheiße. Kein geringerer als Bill kommt da auf uns zugerannt, leicht außer Atem und sichtlich wütend. „Kann es sein, dass du etwas hast, das mir gehört?“ ruft er mir noch im Laufen entgegen. Und dann fällt sein Blick auf Tom. Er bleibt so abrupt stehen, dass er fast stürzt. Die Gedanken beginnen sich in meinem Kopf zu überschlagen. Woher weiß er überhaupt, dass ich ihn beklaut habe? Und was noch viel interessanter ist: Warum steht er jetzt da und starrt Tom an, als hätte er einen Geist gesehen? Ich verstehe hier gerade gar nichts. „Verdammte Scheiße“ flucht Tom hinter mir und ich zucke schon wieder vor Schreck zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals derart aufgebracht erlebt zu haben.
Wie automatisch wandert mein Blick zwischen Tom und Bill hin und her.
Was zum Teufel ist hier eigentlich los?
8.
„Tom?“ Bill hat anscheinend seine Sprache wiedergefunden, auch wenn das Ganze grade nur ein Flüstern war. Ich begreife immer noch nicht, was hier eigentlich vor sich geht und bin gleichzeitig geschockt und fasziniert... ich kann es nicht beschreiben.
„Komm!“ schreit Tom mich plötzlich an und zerrt an meinem Arm, während er den Schlüssel ins Schloss steckt. Wo hat er den denn so schnell ausgebuddelt?
Das geht mir jetzt aber doch zu fix hier. Ich will gerade den Mund aufmachen und protestieren, als Bill mir zuvor kommt. „Ach nee, willst du wieder flüchten Tom? So wie immer? Wie schon dein ganzes Leben? Nur leider hat deine Kleine da immer noch etwas, das ich wiederhaben will!“ Seine Stimme jagt mir Gänsehaut über den Rücken. Und er hat mich schon wieder Kleine genannt. Und mit dem Finger auf mich gezeigt.
Böse funkel ich ihn an. „Du sollst mich nicht ständig Kleine nennen! Und woher kennt ihr euch eigentlich?“ will ich wissen. Schließlich muss ich auch mal zu Wort kommen. Und irgendwie von diesem blöden Portemonnaie ablenken.
„Er ist mein Bruder“ sagt Bill knapp und mustert mich von oben bis unten. Auf meinen vorherigen Einwand geht er gar nicht ein. Eine Sekunde später habe ich mich von Tom losgerissen. Ich bin platt. Sprachlos. Und das kommt selten vor. Aber dieser Bill hier hat es tatsächlich geschafft.
„Du hast einen Bruder?“ rufe ich Tom zu, der einfach im Inneren des Hauses verschwunden ist. „Das hat er dir nicht erzählt, wundert mich nicht im geringsten“ tönt Bill hinter mir. Ich ignoriere ihn und laufe statt dessen Tom hinterher die Treppen hoch.
Warum weiß ich das nicht? Wir kennen uns schon so lange und ich weiß nicht mal, dass er einen Bruder hat. Das gibt’s doch gar nicht. Wer weiß, was er mir noch alles verheimlicht.
„Tom, verdammt noch mal, bleib stehen!“ Jetzt hab ich schon fast geschrieen. An der Wohnungstür hole ich ihn endlich ein. „Tom!“ Aufgebracht wirbelt er zu mir herum. “Frag jetzt nicht so viel, komm lieber rein” nuschelt er mir ungehalten entgegen und schließt die Tür auf. Ich überlege grade, was das nun wieder bedeuten soll, da räuspert sich jemand hinter mir. Ach Gottchen, Bill ist ja auch immer noch da. Ich war dermaßen mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich ihn fast vergessen hatte. So schnell lässt er sich wohl nicht abwimmeln, denn offensichtlich ist er ebenfalls die Treppen hoch gelaufen.
„Was willst du denn noch?“ zischt Tom ihn an. „Mein Geld“ erwidert Bill und verzieht keine Miene. Na toll. „Welches Geld?“ fragt Tom weiter. Ach, der denkt ja immer noch, ich hätte Gustav... aber kann er sich das denn nicht selbst zusammenreimen? Ich halte die Luft an. Manchmal steht Tom wirklich auf dem Schlauch. Oder er ist im Moment einfach überfordert. Oder er tut nur so unwissend. Ich kann es gerade absolut nicht einschätzen.
Einige Sekunden herrscht Schweigen und die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Die beiden blitzen sich an und ich kann beim besten Willen nicht sagen, was sie denken. Ich höre nur meinen eigenen Atem und das Blut, das mir durch die Adern rauscht.
„Leute, ich kann auch die Bullen rufen, wenn euch das lieber ist“ durchbricht Bill schließlich die Stille ohne mit der Wimper zu zucken. Im nächsten Augenblick hält er sein Handy in der Hand. Der will doch wohl nicht... er will. Schon fängt er an, eine Nummer einzutippen.
Mit einer schnellen Bewegung reiße ich ihm das blöde Ding aus der Hand und schubse ihn in die Wohnung. Tom schaut so entgeistert, dass er anscheinend nicht in der Lage ist, mich aufzuhalten.
„Das kann man doch auch alles in Ruhe regeln“ versuche ich mein Glück auf die unschuldige Tour. Bill fängt lauthals an zu lachen. Hab ich einen Witz gemacht?
Also die Unschuldsnummer zieht bei ihm wohl nicht. Und ich werde trotz allem schon wieder wütend, ich kann es nicht verhindern. Auch wenn Bill vielleicht im Recht ist, macht er mich mit seiner überheblichen Art wahnsinnig.
„Die Kleine ist ja noch ausgekochter als du“ sagt er abgehackt mitten in seinem Lachanfall. „Sag noch einmal Kleine und ich fenster dir eine“ drohe ich Bill und fuchtel mit der Faust vor seinem Gesicht herum. Schlagartig hört er auf zu lachen. „Shirin“ sagt er dann ganz leise und von einer Sekunde auf die andere ist es wieder totenstill. Tom schaut fassungslos zwischen ihm und mir hin und her. „Du hast ihm deinen Namen gesagt?“ fährt er mich an. Schnellmerker. Immerhin hat Bill mich vorhin auch mit meinem richtigen Namen gerufen. Aber da war Tom wohl mit anderen Dingen beschäftigt.
Trotzdem bin ich bei seinem Tonfall heftig zusammengezuckt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals so eine Eiseskälte in der Stimme hatte.
„Tom... ich... eigentlich hab ich mich nur... bei Gustav... ähm... verquasselt“ stottere ich lahm. „Aha“ macht Tom, als wäre das Erklärung genug.
Und dann geht alles ganz schnell. Tom packt Bill an den Schultern, schubst ihn in unser Schlafzimmer, knallt die Tür zu und sperrt ab. Ich bin viel zu geschockt, um zu reagieren. Von drinnen hört man Bill wieder lachen. „Was soll das denn werden wenn’s fertig ist?“ ruft er durch die Tür. Endlich kommt wieder Leben in meine müden Knochen. „Bist du verrückt geworden?“ fauche ich Tom an und versuche, an den Schlüssel zu kommen, den er aber so fest umklammert, dass ich keine Chance habe. „Willst du, dass er uns bei der Polizei verpfeift?“ fragt er mich atemlos. Nein, sicher will ich das nicht. „Aber du kannst ihn doch nicht einfach hier einsperren“ sage ich entsetzt. „Du siehst doch, dass ich das kann.“ Tom hat mir ganz ruhig geantwortet. Viel zu ruhig für meinen Geschmack. „Und wie lange willst du das durchziehen? Du kannst ihn schließlich nicht bis Pflaumpfingsten hier festhalten!“ halte ich dagegen. „Wir müssen mit ihm reden, er ist doch dein Bruder und...“ „Du hast ja keine Ahnung Shirin“ fällt Tom mir barsch ins Wort. Ja, woher soll ich die auch haben, wenn ich nicht mal was von der Existenz eines Bruders ahne.
Bevor ich etwas erwidern kann, hört man Bill von drinnen rufen. „Tom, dass ist die dümmste Idee, die du jemals hattest. Du hast dich mal wieder selbst übertroffen... herzlichen Glückwunsch! Gleich wird Gustav anrufen und fragen, wo ich stecke!“
Gustav. Den hab ich total vergessen. Und da er ja ganz offensichtlich kein Auto dabei hatte, wird er sich sicherlich wundern, wo sein Fahrer abgeblieben ist... Mein Gehirn schaltet sich aus. Das ist einfach alles zu viel für mich. Ich würde jetzt nicht mal Erklärungen von Tom hören wollen, ich könnte sie gar nicht verarbeiten.
Und in diesem Moment fängt Bills Handy, das ich immer noch in der Hand halte, an zu vibrieren.
9.
Entsetzt starre ich auf das Handy in meiner Hand. Es vibriert unaufhörlich und auf dem kleinen Display leuchtet in großen Buchstaben "Gustav ruft an". Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll, dass Gustav anruft oder das auch noch "Wo bist du mein Soooonnenlischt" von diesen komischen Hampelmännern als Klingelton erschallt. Gibts das eigentlich als Klingelton? Ich kenn mich mit solchen Sachen echt nicht aus. Wenn diese Situation hier nicht so ernst wäre, würde ich schallend lachen. Doch jetzt im Moment bin ich kurz davor, dieses verdammte Ding in die nächste Ecke pfeffern, aber damit ist mir wahrscheinlich auch nicht geholfen.
Also werfe ich Tom einen flehenden Blick zu. Immerhin hat er uns diese ganze Chose hier eingebrockt. Aber der guckt mich nur panisch an und sieht dabei aus wie ein kleiner Schuljunge. "Was machen wir denn jetzt?" zische ich ihm zu und halte ihm das vibrierende Ding unter die Nase. "Das ist dieser Gustav hier. Und der wird Bill suchen, wenn er nicht rangeht... und...." In Sekundenschnelle breiten sich die schlimmsten Vorstellungen in meinem Kopf aus. Oh Gott. In welchem Alptraum bin ich hier eigentlich gelandet? Kann mich bitte mal jemand kneifen oder so?
"Hey Kleine, kannst du dich mal entscheiden? Mit meinem Bruder brauchst zu jedenfalls nicht zu rechnen" dringt Bills höhnische Stimme aus dem Schlafzimmer. Anscheinend hat er gar nicht mal so unrecht, so wie Tom mich immer noch ansieht. Wie ein Kaninchen die Schlange. Und dass Bill mich schon wieder "Kleine" genannt hat, schiebe ich erst mal beiseite. Es gibt jetzt wichtigere Dinge. Aber die Rache kommt.
Panisch blicke ich abwechselnd die Schlafzimmertür und dann wieder das Handy an. Scheiße. Ich kann ihn doch nicht telefonieren lassen jetzt, wenn er dann wirklich zur Polizei geht... andererseits bin ich immer noch irgendwie davon überzeugt, dass Bill nicht seinen eigenen Bruder anschwärzt. Was immer auch zwischen den beiden vorgefallen sein mag. Wieder schaue ich auf das Handy. Und bevor ich mich entscheiden kann, hört es auf zu vibrieren und dieses nervige Lied verstummt. Ich atme einmal tief durch. "Er wird wieder anrufen - verlasst euch drauf" tönt es wieder durch die Tür. Das glaube ich allerdings auch...
"Wir können ihn nicht telefonieren lassen... es sei denn, du gehst selber ans Telefon" nuschelt Tom und ich schaue entsetzt auf. Ich? Was bitte hab ich damit zu tun? Aber anscheinend ist er endlich aus seiner Lethargie erwacht, der Gute. Trotzdem eine Scheiß-Idee, wie ich finde. "Und was soll ich dem erzählen du Witzbold?" fauche ich Tom an und starre dann wieder auf das Handy, als könnte es mir jeden Moment ins Gesicht springen. "Was weiß ich, lass dir halt was einfallen... immerhin hast du meinen Bruder angequatscht" meint Tom erstaunlich ruhig. Das ist jetzt aber zu viel des Guten. "Also du spinnst ja komplett. Wer hat mir denn nichts von seinem Bruder erzählt? Und außerdem hab ich Gustav... ach ist ja auch egal!" Ich stöhne entnervt. Wenn wir uns jetzt streiten, wird es auch nicht besser. Wir brauchen einen Plan. Oder so.
Meine Gehirnzellen rattern. Leider ohne Erfolg. Wieder ein flehender Blick Richtung Tom. "Shirin... es... das wollte ich nicht sagen eben, eigentlich bin ich ja an allem Schuld und..." "Ihr seid ja echt süß ihr beiden" unterbricht Bill Toms Redeschwall. Kann der eigentlich auch mal die Klappe halten da drin? "Moah Bill, halt einfach dein Maul" schreit Tom die Tür an und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. "Würde mich jetzt mal freundlicherweise jemand hier rauslassen? Langsam wirds langweilig" brummt Bill einfach weiter. Der hat echt Nerven, das muss ich schon sagen. Tom zieht mich weg von der Tür, ins Wohnzimmer. "Was soll das?" frage ich aufgebracht. "Shirin, ich muss dir da einiges erklären, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Was machen wir mit ihm? Wenn er die Polizei ruft, weißt du, was passiert" murmelt Tom und sieht mich eindringlich an. "Wird er das denn machen?" will ich wissen, immerhin ist es sein Bruder und nicht meiner. "Ich weiß es nicht Shirin, wir haben uns ewig nicht gesehen..." Toms Stimme wird immer leiser und schließlich hört er auf zu reden. "Lass mich das mal machen" sage ich in einem plötzlichen Anfall von Entschlossenheit. Bevor ich es mir wieder anders überlegen kann, laufe ich zurück zum Schlafzimmer.
„Bill?“ rufe ich mit fester Stimme. Bloß keine Nervosität anmerken lassen, obwohl mein Herz mir bis zum Hals hüpft. „Ja Shirin? Lässt du mich endlich raus?“ fragt Bill zuckersüß zurück. Idiot. Irgendwie kann ich verstehen, dass Tom keinen Kontakt mehr zu ihm hat. Wenn der immer so ist... mein wahr gewordener Alptraum. Und dass er sich absolut nicht aus der Ruhe bringen lässt, treibt mich schier zur Weißglut.
„Ich lass dich raus, aber du rufst keine Polizei“ antworte ich und muss mich zusammenreißen, dass ich nicht allzu aufgeregt klinge. „Und WARUM sollte ich das nicht, meine Kleine?“ kommt sofort die Gegenfrage. „Weil du...hm... nett bist?“ versuche ich stammelnd mein Glück, obwohl er schon wieder dieses Wort gebraucht hat, auf das bei mir die Todesstrafe steht.
Irgendwie ist mein Kopf grade leergefegt und mir will einfach keine vernünftige Idee einfallen, deshalb, und nur deshalb habe ich diesen Schwachsinn mit dem „nett“ eben gebrabbelt. Er ist nämlich alles andere als das. Und wie schon fast erwartet, fängt Bill wieder an zu lachen. „Guter Witz“ meint er prustend und ich balle allein schon bei der Vorstellung, dass er sich da drin auf meine Kosten amüsiert, vor Wut die Hände zu Fäusten. „Schön, dann eben nicht, von mir aus kannst du da versauern“ brülle ich durch die Tür. Bei seiner arroganten Art gehen halt sämtliche Pferde mit mir durch.
Ich will mich schon umdrehen und zurück zu Tom laufen, als Bill meinen Namen ruft und dann verstummt. Lachen höre ich ihn auch nicht mehr. Hat er etwa doch Muffensausen?
„Was?“ fauche ich aufgebracht. „Shirin, lass mich raus hier und dann reden wir vernünftig drüber. Aber ich will mit DIR reden – und nicht mit Tom. Ist das ein Angebot?“ brummt es durch die Tür.
Na, das hört sich doch einigermaßen passabel an. Der erste normale Satz, den er vom Stapel gelassen hat. Trotzdem blinkt jetzt ein kleines Alarmlämpchen in meinem Kopf.
Aber was soll`s, ich habe ja nicht wirklich viele andere Möglichkeiten, als mich drauf einzulassen.
„Okay“ nuschele ich mehr zu mir selbst als zu Bill und gehe nun endgültig Richtung Tom zurück. Der sitzt wie ein verschrecktes Häschen auf der Couch und starrt gedankenverloren aus dem Fenster.
„Gib mir den Schlüssel“ fordere ich ihn auf. Tom zuckt zusammen und sieht mich dann an, als wäre ich eine arme Irre. „Bist du verrückt geworden? Du kannst ihn doch da nicht rauslassen... was immer er dir versprochen hat, er wird es nicht einhalten“ kommt es von Tom. „So ein Quatsch. Er will nur mit mir reden. Wir können ihn doch nicht ernsthaft hier einsperren Tom. Denk doch mal nach. Und jetzt gib mir endlich den verdammten Schlüssel!“ Meine Stimme duldet keinen Widerspruch und Tom greift mechanisch in seine Hosentasche. Ich reiße ihm den Schlüssel aus der Hand und laufe damit zurück zum Schlafzimmer.
„Shirin...“ Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Was ist eigentlich in Tom gefahren? Dieses Flehen in seiner Stimme habe ich wirklich noch nie gehört. Also wieder zurück. Wer zahlt mir bloß das Kilometergeld für diese ganze Rennerei?
Tom sieht so verwirrt aus, dass ich meine blöden Gedanken sofort wieder beiseite schiebe. Langsam gehe ich vor ihm in die Hocke. „Was ist denn Tom?“ krächze ich heiser. Irgendwie macht er mich nervös. „Shirin, ich hoffe, ich kann dir irgendwann in Ruhe alles erklären... aber vergiss eins nicht: Egal, was hier heute noch passiert, ich liebe dich. Hast du gehört?“ Mein Herz setzt einen Schlag aus. Und ich kann nur nicken. Ich möchte ihn so viel fragen, aber dafür ist jetzt einfach keine Zeit. Tom zieht mich kurz auf seinen Schoss und gibt mir einen schnellen Kuss. Dann sieht er mir fest in die Augen. „Nun geh und lass ihn raus. Du hast ja Recht. Aber erwarte nicht, dass er so reagiert wie du dir das denkst. Du kennst ihn überhaupt nicht. Und selbst wenn er nur mit dir reden will... Bill ist gefährlich, Shirin. Krümmt er dir auch nur ein Haar, schläft er die nächsten Tage im Krankenhaus. Okay?“ Wieder nicke ich wie ein Roboter. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn Tom einfach schön brav hier sitzen bleibt. Zumindest vorerst. Wenn ich Hilfe brauche, kann ich ja immer noch schreien. Obwohl ich mir das mit dem Krankenhaus lieber nicht genauer ausmalen will. Wir werden alle noch ins Kittchen wandern...
Aber hier ist jetzt erst mal weibliche... Intelligenz... oder so... gefragt. Eventuell kann ich ja noch was retten. Und was bitteschön soll an diesem arroganten Schnösel gefährlich sein?
Mühsam rappele ich mich hoch und steuere mal wieder das Schlafzimmer an.
Einmal tief einatmen... ausatmen, armes Herzchen beruhigen... okay. Auf in den Kampf. Vorsichtig drehe ich den Schlüssel im Schloss und luge durch den Türspalt. Dass ich mich vorher beruhigt hatte, oder es zumindest versucht, war wohl Intuition. Denn ich rechne innerlich mit allem, dass Bill jetzt einfach an mir vorbeirennt, oder doch die Bullen ruft, ach ich weiß es doch auch nicht.
Auf jeden Fall habe ich NICHT damit gerechnet, dass er breit grinsend auf meinem Bett LIEGT und sich anscheinend köstlich amüsiert. Wohl gemerkt, auf MEINEM Bett. Gut, Tom gehört auch ein Teil des Bettes, aber Bill liegt auf MEINER Seite. Und grinst. Und ich muss mich grade arg zusammennehmen, um ihn nicht anzuschreien oder auf ihn loszugehen. Von wegen Muffensausen, wie konnte ich mich auch nur eine einzige Sekunde der Illusion hingeben, dieser Mensch könnte Angst haben, weil Tom ihn eingesperrt hat... es ist definitiv nicht so.
„Hat`s dir mal wieder die Sprache verschlagen? Also ich hab noch nie jemanden getroffen, der so herrlich verwirrt ist wie du...“ kichert Bill plötzlich los. „Und ich hab noch nie jemanden getroffen, der so selbstverliebt und von sich überzeugt ist wie DU!“ schleudere ich ihm entgegen. „Das tat weh“ seufzt Bill und greift sich theatralisch an die Brust. Dabei zieht er ein Gesicht, als hätte ich ihm wahnsinnige Schmerzen zugefügt.
Okay, gleich hat er mich. Gleich drehe ich ihm seinen hübschen, schlanken Hals um. Doch bevor ich mich auch nur einen Millimeter bewegt habe, springt Bill vom Bett hoch und baut sich vor mir auf. „Gib mir mein Handy und mein Geld“ fordert er mich auf und sieht mir dabei unverwandt in die Augen. „Und wer garantiert mir, dass du dann nicht doch die Bullen rufst?“ frage ich zurück und leugne gar nicht mehr, dass ich sein Geld genommen habe. Statt dessen bemühe ich mich qualvoll, nicht in seinen Augen zu versinken. Ob er weiß, was er für eine Wirkung auf Frauen hat?
Wieder grinst Bill und in seinem Blick flackert etwas auf. Etwas, das mir Angst macht. „ICH garantiere dir das“ haucht er mir zu. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Irgendwas kommt jetzt noch, ich habe es einfach im Gefühl. Und ich täusche mich nicht, wie ich Sekunden später entsetzt feststellen muss.
„Shirin, ich werde nicht die Polizei anrufen... aber ich hab da so eine klitzekleine Bedingung...“ fügt Bill im nächsten Atemzug hinzu und meine böse Ahnung wird langsam aber sicher zur Gewissheit.
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10.
Mein Herz rast. Bill schweigt. Mir wird heiß und kalt zugleich. Bill schweigt. Ich schreie gleich. Bill schweigt immer noch und jetzt fängt er an zu grinsen. „Was verdammt noch mal willst du denn von uns?“ fahre ich ihn schließlich an. „UNS, wie herzallerliebst“ sagt Bill ironisch und freut sich offensichtlich, dass er dieses dämliche „Ich-kann-länger-schweigen-als-du-Spielchen“ gewonnen hat. Innerlich verfluche ich mich für meine Ungeduld. Und Bill verfluche ich für seine Gelassenheit. Dieser... mir fällt gar kein passender Ausdruck für ihn ein.
„Würdest du mir jetzt freundlicherweise mal ne Antwort geben?“ blaffe ich weiter, die einzige Möglichkeit, mein Gesicht wenigstens einigermaßen zu wahren. „Aber sicher Shirin, wo du doch so nett fragst... ich hätte da so verschiedene Ideen....“ er macht eine weitläufige Geste in die Luft, „...aber für den Anfang würde ja vielleicht ein nettes kleines Abendessen reichen – nur wir zwei“ meint Bill und sein Grinsen wird breiter, je länger mein Gesicht wird. „Du willst mich also ins Bett zerren“ stelle ich fassungslos fest. Für SO krank hatte ich ihn gar nicht gehalten. „Wo denkst du denn hin? Aber wenn ich es mir so recht überlege...“ „Vergiss es!“ kommt es scharf aus meinem Mund. „Kleiner Scherz am Rande“ winkt Bill ab und bekommt mal wieder einen Lachanfall. Wenn er so weitermacht, wird ihm das Lachen bald vergehen. „Ach Kleine, hältst du mich wirklich für so einfallslos?“ redet er einfach weiter. „Das willst du gar nicht wissen“ grummele ich dumpf. Auf das „Kleine“ reagiere ich schon gar nicht mehr. Ich bin viel zu aufgewühlt im Moment. Bill schweigt wieder und sieht mich mit einem Blick an, der eigentlich alles bedeuten könnte. Nur leider kann ich ihn absolut nicht einschätzen.
„Was willst du nun wirklich?“ frage ich monoton. „Deine Vorschläge sind viel besser als meine“ sagt Bill in gespielt eingeschnapptem Tonfall und ich schnaube empört. War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung? „Als erstes will ich mein Geld“ unterbricht er dann meine Gedanken. Okay, soll er doch haben. Genervt hebe ich meine Tasche vom Boden auf und wühle extra lange darin herum. Schließlich halte ich ihm sein Portemonnaie entgegen und ärgere mich, dass ich nicht mal einen Blick hineinwerfen konnte.
„Und nun?“ Ich will ihn endlich loswerden. Ich will zu Tom. Ich will, dass er weggeht und mich in Ruhe lässt. „Und nun kommen wir zum Wesentlichen“ meint Bill. „Das da wäre?“ Warum muss man mir eigentlich immer anmerken, wenn ich ungeduldig werde? „Deine Aktion da heute Abend hat mich beeindruckt. Ich hab es fast gar nicht bemerkt, dass mir plötzlich etwas fehlte. Die Betonung liegt auf FAST. Und deshalb: Die nächsten... sagen wir vier Wochen.... gehst du mit MIR anstatt mit Tom auf „Beutefang“ oder wie immer du es nennen willst – und selbstverständlich machen wir Halbe/Halbe. Alles klar?“
Ja sicher Bill, alles klar. Ich hatte ja schon fast mit so was gerechnet. „Und warum willst du unbedingt dabei sein? Reicht es nicht, wenn ich dir einfach das Geld gebe? Du weißt doch gar nicht, was du machen musst“ gebe ich zu bedenken, protestieren lohnt sich eh nicht, ich weiß es einfach. Und ich habe keine Lust auf Polizei. Er hat uns in der Hand. Irgendwie wird mir das gerade erst so richtig klar. „Ich brauche mal wieder ein bisschen Aufregung in meinem Leben. Und ich lerne schnell, Shirin, du wirst es mir schon beibringen“ erwidert Bill geheimnisvoll.
Nein. Ich will das nicht. Bevor ich noch etwas sagen kann, schrillt Bills Handy wieder, das ich achtlos im Flur liegengelassen habe. Eine Millisekunde überlege ich, es zu versuchen. Aber letztendlich würde ich auch ein „Ich-bin-schneller-als-du-am-Handy-Spielchen“ gnadenlos verlieren. Zumindest in meiner jetzigen Verfassung. Also sehe ich hilflos zu, wie Bill in aller Seelenruhe sein Handy von der Kommode nimmt und dann freudig „Gustav“ in den Hörer ruft. Gustav. Gustav ist doch so nett gewesen. Was macht er mit einem besten Freund wie Bill? Ich kann es einfach nicht begreifen. Sollte ich doch so eine schlechte Menschenkenntnis besitzen?
Stumm und mit verengten Augenbrauen verfolge ich das Telefongespräch, das größtenteils aus „Hmm...“, „ja, genau...“, „das erkläre ich dir später“, und „ja, ich bin schon auf dem Weg“ besteht.
Endlich legt Bill auf und lässt sein Handy in der Hosentasche verschwinden. Mit einem schnellen Schritt baut er sich wieder vor mir auf. „Und was hältst du nun von meinem Vorschlag?“ fragt er fast beiläufig. „Ich würde es eher Erpressung nennen. Und ich halte gar nichts davon. Aber ich hab wohl keine Wahl“ nöle ich wütend. „Kluges Mädchen“ antwortet Bill und für einen kleinen Moment versinke ich wieder in seinen Augen. Ich muss irgendwas sagen jetzt.
„Wie alt bist du eigentlich?“ will ich wissen. Ich weiß auch nicht, wie ich jetzt ausgerechnet darauf komme. Ist er jünger oder älter als Tom? Plötzlich interessiert mich das brennend. „So ungefähr 10 Minuten jünger als mein Bruderherzchen da drin“ meint Bill und deutet auf das Wohnzimmer. Hat er grade Minuten gesagt? Minuten? Das hieße ja... „Zerbrich dir mal nicht dein hübsches Köpfchen – ja, wir sind Zwillinge“ grinst Bill. Ich kann das jetzt so gar nicht lustig finden. Zwillinge. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Ich geh dann mal. So langsam werde ich müde. Ich würde sagen, morgen Abend komm ich wieder, zur ersten Trainingsrunde okay? Wir können ja Tom als Probeobjekt nehmen!“ Er lacht über seinen kleinen Witz. „Ich glaub du bist nicht ganz dicht“ schnauze ich ihn an. „Aber Shirin, wie redest du denn? Musst du immer gleich beleidigend werden? Wir müssen doch üben. Und Tom kennt sich ja bestens mit so was aus!“ Wo er Recht hat, hat er Recht. Ich halte das trotzdem für keine gute Idee. Aber ich werde wohl nicht wirklich viel zu melden haben in diesem morbiden Spielchen. „Also gut“ gebe ich nach. „Na siehst du Darling, dann sind wir uns ja einig“ schmeichelt Bill und lächelt lieb. „Hör mal Bill, wenn du weiterhin Freude an deinem Leben haben willst, nennst du mich weder Darling, noch Honey oder sonst was und schon gar nicht Kleine. Ich will gar nicht wissen, was für schreckliche „Kosenamen“ du noch alles auf Lager hast. Ich heiße Shirin, verstanden?“ Mein letzter Versuch. Ich hoffe, er sieht ein, dass es mir damit ernst ist.
„Ich steh auf Frauen mit Temperament“ sagt Bill unbeeindruckt von meinem Ausbruch und fängt erstaunlich schnell meine Hand ab, die schon ausgeholt hatte. „Aber zu viel Temperament kann gefährlich werden, hat dir das noch keiner gesagt?“ fügt er hinzu und beobachtet belustigt meinen Befreiungsversuch. Es scheint ihm Spaß zu machen, mir zu beweisen, dass er stärker ist als ich. Und leider ist das eine Tatsache. Je mehr ich an meinem Arm zerre, desto fester wird sein Griff.
`Shirin, du bist jämmerlich. Reiß dich zusammen` ermahne ich mich innerlich. Ich halte still und Bill lässt mich los. Na bitte, geht doch.
Böse funkel ich ihn an. „Shirin, dein Temperament ist wirklich toll. Du musst nur aufpassen, dass es dir nicht eines Tages zum Verhängnis wird. Bis morgen“ schmunzelt Bill und macht dann geräuschvoll die Tür hinter sich zu.
Ich muss ein paar Mal tief durchatmen, um meine Nerven zu beruhigen. Einigermaßen gefasst mache ich mich dann auf den Weg zu Tom.
***
„Zwillinge“ murmele ich immer noch leicht geschockt vor mich hin und lasse mich neben Tom auf das Sofa sinken. Tom starrt wieder aus dem Fenster, aber jetzt dreht er sich zu mir um. „Ja Engel, wir sind Zwillinge“ sagt er leise.
„Komm her“ meint Tom dann und zieht mich in seine Arme. Seine Nähe tut mir gut jetzt. „Er will...“ setze ich an, doch Tom unterbricht mich sofort. „Ich weiß was er will. Ich hab alles mitbekommen Shirin.“ Er hört sich resigniert an. Er hört sich so an, wie ich mich fühle.
„Leider bekommt Bill immer, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Das war schon unser ganzes Leben so. Und ich fürchte, es wird nicht bei diesem einen Wunsch bleiben“ eröffnet er mir und ich reiße die Augen auf. „Was meinst du damit?“ frage ich alarmiert. „Shirin... er hat genug Geld, glaub mir. Er macht es aus reiner Lust am Spiel. Und weil es ihm Spaß macht. Er hat gern Macht über andere. Und wir beide müssen jetzt dringend über ein paar Dinge sprechen!“ Okay. Ich muss mich auf Tom verlassen. Er ist der einzige, der mir irgendwie helfen kann, aus dieser Sache wieder heile rauszukommen.
Ich kuschele mich noch näher in seine Arme, registriere mit geschlossenen Augen seinen Kuss auf meinen Haaransatz und warte darauf, dass er anfängt zu reden.
11.
„Joa, das war`s erst mal im Großen und Ganzen“ schließt Tom seinen Monolog. Meine Güte. Ich muss das jetzt sacken lassen. Und ich weiß nun überhaupt gar nicht mehr, was ich von Bill halten soll. Mal davon abgesehen, dass er ein arroganter, selbstverliebter Affe ist.
„Und was er heute macht, weißt du auch nicht?“ schiebe ich nach einer kurzen Pause als Frage hinterher. Tom schüttelt den Kopf. „Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er einen geregelten 8-Stunden-Job hat“ meint er dann. Haha, ja. Damit hat er wohl Recht. Bei Bill kann ich mir das auch nicht wirklich vorstellen. Trotzdem interessiert es mich. Aber das finde ich schon noch raus.
„Gehen wir schlafen Shirin? Das war heute alles ein bisschen viel für mich“ gibt Tom zu und ich muss trotz dem ganzen Mist hier schmunzeln. Tom hat noch nie eingestanden, dass ihm etwas zu viel wird. Immerhin hat Bill das geschafft, ist ja auch schon mal was. Ein Hoch auf Bill, denke ich ironisch im Stillen.
Eine Viertelstunde später liege ich in Toms Arm gekuschelt im Bett, aber ich bekomme kein Auge zu. Ich bin hundemüde, ja. Aber immer wieder laufen die Bilder an meinem inneren Auge vorbei wie ein Film. Wenn ich doch bloß Gustav nicht angequatscht hätte... wenn Bill doch anders wäre als er ist... wenn, hätte... es hat alles keinen Sinn. Wir stecken jetzt in dieser mehr als unlustigen Situation und ich werde schon wieder wütend. Ich werde es Bill nicht leicht machen, das nehme ich mir jedenfalls fest vor. Er lernt schnell, hat er gesagt. Das gilt es erst einmal zu beweisen. Er regt mich schon wieder auf, obwohl er gar nicht hier ist.
Mit der Zeit lassen mich Toms regelmäßige Atemzüge wieder etwas ruhiger werden und ich drücke meinen Körper noch etwas näher an ihn heran. Ich weiß jetzt eine Menge über Bill und ich werde es sinnvoll gegen ihn verwenden, wenn es sein muss und wenn er es provoziert. Mit einem durchtriebenen Grinsen im Gesicht schlafe ich schließlich ein.
***
„Na ihr zwei Hübschen, bereit zur ersten Runde?“ fragt Bill breit lächelnd und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Ich verdrehe genervt die Augen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass er heute noch besser aussieht als gestern. Da war er mir schon fast einen Tick zu fein herausgeputzt. Heute trägt er dunkelblaue Jeans, schwarzes T-Shirt, gepaart mit schwarzer Lederjacke. Hm. Schon mein Geschmack. Und er hat seine Augen leicht schwarz geschminkt, ich muss zweimal hingucken, aber es ist so. Steht ihm fast besser als mir. Ich weiß nicht, was ich nun davon wieder halten soll.
Instinktiv greife ich nach Toms Hand, der hinter mich getreten ist.
„Hallo Bill“ sagt Tom langsam und ich kann ihm anhören, wie sehr er sich beherrschen muss. Er hat sich den ganzen Tag Mühe gegeben. Leider gingen die Stunden mit ihm allein viel zu schnell vorbei. Und jetzt ist es Abend und dieses Ekelpaket schon hier... da müssen wir jetzt wohl durch. Die nächsten vier Wochen. Und wer weiß, was danach noch alles kommt. Mir wird schlecht.
„Ach Bruderherz, nun schau nicht so leidend, so schlimm wird’s schon nicht werden“ meint Bill lapidar und schmeißt seine Lederjacke achtlos in die nächstbeste Ecke. Der hat Nerven. Irgendwie hab ich das schon mal gedacht oder? Erde an Shirin, denk an was anderes als an diesen Kerl!!
„Shirin ist mal wieder abwesend und schwebt in anderen Sphären, wie ich sehe“ stellt Bill trocken fest und lässt mich damit aus meinen Gedanken aufschrecken. „Selten so gelacht“ gifte ich ihn an und er grinst breit. „Lachst du mich an oder aus?“ motze ich weiter. „Das kannst du dir aussuchen. Können wir mal so langsam zum Punkt kommen? Ich hab schließlich nicht ewig Zeit“ wirft er mir hin. „Jetzt geht’s los“ schimpfe ich wütend. „Also Bill, du hast uns diese Chose hier eingebrockt. Jetzt musst du auch mit unserem Tempo leben. Wir können es uns nicht leisten, dass dabei was schief geht!“ Ich werfe Tom einen dankbaren Blick zu. Zum ersten Mal hat er sich jetzt in diese bescheuerte Diskussion eingemischt.
„Oho, man höre und staune, der große Tom hat gesprochen“ spottet Bill und bevor ich etwas einwerfen kann, redet er schon weiter. „Ist ja gut. Ich hab keine Lust, mit euch zu streiten. Fangen wir an jetzt?“ Argwöhnisch ziehe ich eine Augenbraue nach oben und versuche, aus Bill schlau zu werden, indem ich ihn angestrengt beobachte. Das war der erste Satz, den er in einem „normalen“ Tonfall gesagt hat, weder höhnisch noch sarkastisch, noch sonst wie komisch. Irgendwie lässt mich das aufmerksam werden.
„Hab ich da einen Pickel oder so?“ wundert Bill sich und befühlt seine Nase. Hihi, das wäre zu schön auf seiner, wie ich zugeben muss, fast perfekten Nase einen dicken fetten Pickel zu finden. Leider ist dem nicht so und ich schüttele nur stumm den Kopf. „Was ist dann?“ will er wissen. „Nichts“ murmel ich in meinen nicht vorhandenen Bart. Gut, dass er nicht weiß, dass „Nichts“ bei mir keineswegs auch „Nichts“ bedeutet. Allerdings weiß Tom das um so besser. „Jetzt kommt schon rein ins Wohnzimmer oder sollen wir hier festwachsen?“ fährt er ungeduldig dazwischen. Hui. Da wird aber jemand ungehalten jetzt. Wie automatisch bewege ich mich Richtung Wohnzimmer und Bill versetzt mich ein weiteres Mal in Erstaunen. Er folgt nämlich ohne einen blöden Spruch auf den Lippen. Langsam wird mir das direkt unheimlich.
Schließlich stehen wir uns gegenüber und Bill fragt schon wieder in ganz normalem Ton: „Okay. Was muss ich tun?“
***
Eine Stunde später bin ich mit meinen Nerven vollkommen am Ende. Bill ist blöd. Bill ist dämlich. Und es wird ein Desaster werden, wenn ich das Ganze hier mit ihm durchziehen muss, ich weiß es jetzt schon. Aber Bill ist auch hartnäckig, das muss ich ihm lassen. Zum hundersten Mal versucht er mir jetzt, den Haustürschlüssel von Tom unauffällig wieder in die Hand zu drücken. Und zum hundersten Mal lässt er ihn fallen. Tom schnaubt genervt und ich verdrehe nur noch die Augen.
„Mann, das sieht alles viel einfacher aus als es ist!“ mault Bill und plumpst mit einem lauten Stöhnen auf die Couch. „Tja du Anfänger, was hast du denn gedacht? Von wegen, `ich lerne schnell`“ ziehe ich ihn auf. Irgendwie macht mir das ja Spaß, dass ich zur Abwechslung mal IHN ärgern kann. Auch wenn er nervt. Unheimlich.
„Ich glaub, ich lass mir doch noch was anderes einfallen“ meint Bill und bei mir schrillen sämtliche Alarmglocken auf einmal los. „Quatsch. Du musst dich halt mal ein bisschen anstrengen“ widerspreche ich. „Ne, ich hab keinen Bock mehr jetzt. Außerdem kriege ich langsam Hunger“ sagt er und sieht mich aufmerksam an. „Was denn? Ich bin nicht deine Mutter, die dich bekocht“ motze ich los, nicht sicher, wie ich seinen Blick interpretieren soll. „Hab ich das gesagt? Wir rufen den Pizzaservice und ich lad euch ein“ schlägt er vor und mir bleibt der Mund offen stehen.
„Ähm, nur mal so am Rande... wer hat dir was in den Tee getan heute?“ geht Tom dazwischen.
Bill zuckt mit den Achseln. „Vielleicht waren die zwei Honeys letzte Nacht etwas zu anstrengend und haben mir den Verstand geraubt“ meint er und grinst schief. Haha. Mir bleibt meine nächste Bemerkung im Hals stecken. Bill scheint das zu merken, denn sein schiefes Grinsen verwandelt sich in ein verschlagenes.
„Geht’s Dir nicht gut Kleine?“ fragt er beiläufig. Aha. Da ist er wieder, der alte Bill. Oder besser gesagt, der Bill, den ich kenne.
Einatmen, ausatmen, langsam bis zehn zählen. Ich rege mich nicht auf. Gar nicht. Was denkt er eigentlich von mir? Er wird ja wohl nicht die vollkommen absurde Idee haben, dass ich eifersüchtig sein könnte oder so was? Ganz sicherlich nicht. Sein Zwillingsbruder ist mein Freund. Und er soll es auch bleiben.
* * *

12.
„Mir geht’s bestens Bill, danke der Nachfrage“ sage ich in mauligerem Ton als beabsichtigt. Ich bin viel zu leicht zu durchschauen. Bill findet das offensichtlich auch, denn er grinst nur wissend. „Wo genau liegt dein Problem Bill?“ fragt Tom herausfordernd. Er ist genervt, ich sehe es ihm an. Vielleicht ist er auch leicht überfordert mit dieser ganzen Situation hier. Vielleicht ist er auch beides. So wie ich...
„Ich hab kein Problem, ich dachte nur, deine Kleine...“ „Halt einfach die Klappe und nenn sie nicht ständig Kleine!“ schreit Tom ungehalten. „Ist ja schon gut, reg dich ab“ lenkt Bill fast sofort ein und ich bin zu erstaunt, um etwas zu sagen. Er hat tatsächlich nachgegeben. Und dann auch noch so schnell.
„Was ist nun mit Pizza?“ fragt Bill eine Sekunde später fröhlich in die Runde, als wäre nichts gewesen. Unglaublich. „Ja ich hab Hunger“ gebe ich zu, denn selbst wenn ich gelogen hätte, mein Magenknurren ist kaum zu überhören. „Ich auch“ schließt sich Tom wieder in normalem Tonfall an. Ich werfe ihm einen anerkennenden Blick zu. Mein Held! Er lässt sich eben nicht so leicht was vormachen.
***
Eine halbe Stunde später sitzen wir uns bei Pizza gegenüber und die Stimmung ist immer noch ziemlich angespannt. Ich bin genervt und finde es alles anderes als lustig, dass Bill uns eingeladen hat. Diesem Kerl möchte ich nichts schuldig bleiben und er hat so schon genug Macht über uns. „Ich hab`s“ ruft Bill plötzlich mit vollem Mund in die eingetretene Stille. Ich schaue skeptisch auf. Was kommt jetzt wieder?
„Ich geh schnell Gustav anrufen. Mit dem krieg ich das bestimmt besser hin als mit Tom“ redet er weiter. „Vergiss es!“ Tom und ich sehen uns erstaunt an, denn wir haben beide wie aus einem Mund gesprochen. Bill schluckt. „Was führt ihr eigentlich für eine langweilige Beziehung? Kein bisschen Spannung drin“ grinst er dann. „Das lass mal unsere Sorge sein“ zischt Tom wütend. „Außerdem bleib mal beim Thema hier! Ich werde nicht noch mehr Leute da rein ziehen. Und ich weiß nicht, was an Gustav anders sein soll als an Tom, denn immerhin hast du es mit mir versaut und nicht mit ihm“ unterstütze ich Tom. Bills Satz mit der langweiligen Beziehung ignoriere ich gekonnt. Als ob er davon eine Ahnung hätte...
Bill überlegt, ich kann richtig sehen, wie es in seinen kleinen grauen Zellen rattert.
Schließlich springt er leichtfüßig vom Boden auf und kramt in seiner Hosentasche. „Ich geh schnell telefonieren“ informiert er uns netterweise, bevor er aus dem Zimmer Richtung Flur davon dackelt. Ich kann es nicht glauben. So schnell mich meine Füße tragen, hechte ich hinterher. Und ich hoffe, Tom bleibt sitzen, damit das Ganze nicht eskaliert...
„Bill!“ rufe ich, vielleicht lässt er sein Handy ja wieder da verschwinden, wo er es hergeholt hat. Und tatsächlich. Er hält inne. Lässt seine Hand sinken. Und sieht mich abwartend an. „Bill, lass das!“ rufe ich lauter, eindringlicher. „Warum sollte ich?“ fragt er provokant zurück. „Weil... scheiße. Was willst du ihm denn sagen? Hey Gustav, du musst mir mal eben helfen, ich will lernen, wie man klaut?“ Das ist mir jetzt so rausgerutscht.
Bill macht einen Schritt auf mich zu und ich kann seinen Atem auf meinen Wangen spüren. Gänsehaut-Alarm. Aber hallo. Und doch werde ich mich nicht drauf einlassen. Er kann mir ja gar nichts. „Vielleicht habe ich Gustav ja schon längst eingeweiht...wer weiß das schon“ murmelt er leise und ich versinke mal wieder in seinen Augen. Verdammt noch mal, das ist nicht fair. „Ich würde sagen, DU weißt das am besten“ sage ich so souverän wie ich mich ganz und gar nicht fühle. Aber das muss ich ihm ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Anscheinend habe ich ihm mit diesem Spruch wirklich den Wind aus den Segeln genommen, so wie er schaut. „Du hast schöne Augen“ meint er plötzlich. Oder auch nicht. Wie man sich doch täuschen kann...
Oh mein Gott. Was hat er da grade von sich gegeben? „Ich weiß“ sage ich gedankenlos. „Fein. Lässt du mich jetzt telefonieren?“ kommt es zurück. Da hat wohl jemand schneller geschaltet als ich. Ganz fies abgelenkt und getäuscht hat er mich. Und das Handy klebt natürlich schon wieder an seinem Ohr. „Nein!“ brause ich auf und reiße es ihm aus der Hand. Er kann doch jetzt nicht ernsthaft Gustav anrufen. „Shirin, ich hab dir schon mal was zu deinem Temperament gesagt. Hörst du auch zu, wenn man mit dir redet?“ Bill grinst. Das wird ihm gleich vergehen. „Wenn ein Mann mit mir redet, sicherlich. Willst du etwa behaupten, dass du einem Mann auch nur im entferntesten ähnelst?“ Okay, ich bin unmöglich. Aber er hat es verdient. „Soll ich`s dir beweisen?“ Lässt dieser Typ sich eigentlich auch mal aus der Ruhe bringen?
„Jetzt gleich?“ frage ich frech, ich bin eben auch nicht auf den Mund gefallen. Nur leider habe ich es damit wohl endgültig auf die Spitze getrieben. Ich sehe es an seinem Gesichtsausdruck.
„Liebend gern Shirin... aber ich möchte doch erst noch schnell mein Telefonat zu Ende bringen. Hältst du es noch so lange aus?“ Zuckersüß lächelt er mich an. Und bringt mich damit fast zum Platzen.
„Bill, ich weiß einiges über dich...“ drohe ich. Ist doch mal abwechslungsreich. Bill fängt an zu lachen. So viel zum Thema drohen à la Shirin.
„Aha. Und was genau weißt du so über mich? Ist es spannend?“ will er nachsichtig grinsend wissen und hält mir dann einfach die Hand vor den Mund, als ich anfangen will zu reden.
„Shirin, jetzt pass mal auf. Du kannst mir nicht drohen. Mit nichts. Und hast du dir schon mal überlegt, dass Tom vielleicht gelogen oder zumindest übertrieben hat?“ Jetzt hat er mich aus dem Konzept gebracht. „Warum sollte er?“ nuschel ich atemlos hinter seiner Hand. Bill tut so, als würde er überlegen. Dabei weiß er schon ganz genau, was er mir jetzt antworten wird. „Weil er zum Beispiel... eifersüchtig ist?“
Wütend schlage ich Bills Hand zur Seite, damit ich wieder normal sprechen kann. „Und auf wen oder was sollte Tom deiner Meinung nach eifersüchtig sein?“ will ich gereizt wissen. Der hat ja echt nen Knall. „Och, da würden mir schon einige Dinge einfallen...“ Bill macht mal wieder nur irgendwelche Andeutungen und ich kann nicht anders, er reizt mich zu einem erneuten Temperamentsausbruch. „Wenn du damit deine Wenigkeit meinst, wovon ich mal ausgehe, hast du dich geschnitten. Warum sollte Tom ausgerechnet auf dich eifersüchtig sein?“ zische ich gefährlich leise. „Zum Beispiel, weil seine liebenswerte Freundin ein Auge auf mich geworfen hat?“ kommt es amüsiert zurück. So. Jetzt reicht`s aber wirklich.
„Wovon träumst du eigentlich nachts?“ knalle ich ihm an den Kopf und bin doch innerlich verwirrt. Vielleicht weiß er einfach mehr als ich... oder so. Er ist attraktiv, er riecht einfach unbeschreiblich gut und er weiß, was er hat. Auf der anderen Seite ist er einfach nur ein Kotzbrocken. Und ich bin vergeben. Und überhaupt. Was denke ich eigentlich schon wieder?
„Nur von dir Schatz, sei dir sicher“ flüstert Bill mir ins Ohr und ich schrecke zusammen. Im ersten Moment weiß ich gar nicht genau, was er damit meint. Dann wird mir klar, dass er auf meine Frage von eben geantwortet hat. Wenn auch wieder mal gar nicht provokativ. Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich will Bill grade von mir wegstoßen, da kommt mir jemand zuvor und reißt ihn förmlich von mir fort.
Tom.
„Sag mal, baggerst du hier grade meine Freundin an oder was soll das werden?“ Oho. Bill sollte jetzt lieber aufpassen, was er sagt. Den Tonfall kenn ich nur zu gut. Ich bin gleichzeitig geschockt und fasziniert, wie die beiden sich anblitzen. Bill scheint zu überlegen.
„Ich baggere hier niemanden an. Deine Freundin lässt mich nur nicht telefonieren“ verteidigt sich Bill schließlich. „Aus gutem Grund“ faucht Tom. „Was habt ihr denn gegen Gustav? Er ist wirklich nett und...“ „Er IST nett, Bill. Darum geht’s hier doch gar nicht. Verdammt noch mal, es ist so schon alles schlimm genug, ich will nicht noch mehr Leute da reinziehen!“ fahre ich dazwischen. „Als ob ihr eine Wahl hättet“ spottet Bill und sieht Tom herausfordernd an. „Mach dich nicht lächerlich Bill. Wird dieses Machtspielchen nicht langsam langweilig?“ kontert Tom und ich könnte ihn küssen. Bill scheint für einen Moment aus der Fassung gebracht, aber er hat sich erstaunlich schnell wieder im Griff. „Worauf genau spielst du hier an Tom?“ fragt er leise und mit verengten Augenbrauen. „Als ob du das nicht wüsstest. Aber die Zeiten sind vorbei, in denen ich mich von dir einschüchtern lasse!“ Tom kommt langsam in Fahrt.
„Okay, okay. Ich mag mich nicht streiten. Das hat mir früher schon nicht gefallen“ lenkt Bill ein. Tom lacht auf, aber es klingt hohl und unnatürlich in meinen Ohren. „Oh ja, sicherlich. Ich vergaß. Dann hab ich mir wohl eingebildet, dass es dir gefallen hat!“ Tom ballt die Hände zu Fäusten und seine Stimme trieft vor Ironie. Ich kann ihn verstehen. Nach den ganzen Geschichten, die Tom mir erzählt hat, kann ich ihn sogar sehr gut verstehen. Bill kriegt immer was er will – irgendwie bekommt dieser Satz grade eine ganz neue Bedeutung für mich...
„Tom, hör mir zu...“ fängt Bill wieder an, aber Tom fährt ihm barsch über den Mund. „Nein. Jetzt hörst DU MIR mal zu! Du lässt die Finger von Shirin verstanden?“ Meine Güte, er ist wirklich eifersüchtig. „Da hat sie ja auch noch ein Wörtchen mitzureden... wie war das noch gleich: Wir lassen immer die Frau entscheiden?“ kommt es von Bill und mir klappt der Mund auf. Worum genau geht es hier eigentlich? „Hallo? Ich denke, wir reden hier von Gustav und nicht von mir“ mische ich mich ein und spüre einen Sekundenbruchteil später zwei aufgebrachte Augenpaare, die mich anstarren. „Halt den Mund“ sagen beide gleichzeitig und in diesem Moment sehen sie wirklich aus wie Zwillinge. „Ich lass mir von niemandem den Mund verbieten. Aber von mir aus schlagt euch doch die Köpfe ein, als ob wir keine anderen Probleme hätten!“ Wütend schnappe ich mir meine Jacke und stürze aus der Wohnung. Ich glaub langsam, ich bin im falschen Film gelandet. Was bilden die beiden sich eigentlich ein wer sie sind? Nicht mit mir.
„Shirin, warte!“ ruft Tom hinter mir her und bekommt mich am Arm zu fassen. „Warum sollte ich? Ich glaub nicht, dass ich es nötig hab, mich so behandeln zu lassen!“ schreie ich ihn an. „Nein, das hast du auch nicht. Es tut mir leid, ich wollte das nicht sagen“ meint Tom und senkt den Blick. „Er hat Recht. Mir tut es auch leid. Komm wieder rein“ ertönt jetzt auch Bills Stimme. Ich blicke ungläubig von einem zum anderen und weiß nichts zu sagen. Das ist alles so unwirklich hier. Gestern war meine Welt noch „normal“, jedenfalls für meine Verhältnisse und jetzt ist alles ein heilloses Durcheinander und ein einziges Chaos.
„Ihr regt mich beide auf“ sage ich schließlich resigniert. Und das ist die Wahrheit. Im Augenblick weiß ich nicht zu sagen, über wen von den beiden ich mich mehr ärgern soll.
13.
Mit einem lauten Schnaufen lasse ich mich auf den nächstbesten Küchenstuhl fallen und mein Kopf sinkt müde in meine Hände. Ich könnte jetzt auf der Stelle einschlafen. Das war einfach alles ein bisschen viel heute. Natürlich bin ich nicht weggelaufen - wie könnte ich. Immer noch sehe ich Tom vor mir stehen mit hängenden Schultern und dahinter Bill mit Hundeblick. Mit dem Hundeblick, den auch Tom drauf hat - und zwar genau SO. Irgendwie bin ich einfach weich geworden bei diesem Anblick. Allerdings musste ich mich abreagieren und bin, immer noch aufgebracht, ins Wohnzimmer gestampft, habe die Essensreste zusammengesucht und jetzt sitze ich hier auf diesem Stuhl und mein Blick fällt wieder auf die Zwillinge, die immer noch wie angewurzelt im Flur stehen.
Tom scheint nach Worten zu suchen und Bill hat mich die ganze Zeit beobachtet. Ich hab keine Ahnung, wie das Ganze jetzt weitergehen soll. Resigniert schließe ich die Augen.
"Shirin" ertönt plötzlich die sanfte Stimme von Tom und ich schaue auf. Entschlossen zieht er mich schon Stuhl hoch und schließt mich in seine Arme. Ich lasse mich fallen - lasse mich fallen in diese Umarmung, weil er einfach immer weiß, was ich brauche. Von mir aus könnte er mich jetzt die ganze Nacht so festhalten, ich hätte nichts dagegen und müsste mich nicht mit diesem ganzen Quatsch hier beschäftigen. Ich hab nur leider eine winzige Kleinigkeit dabei vergessen: Bill.
Immer noch steht er im Flur und als sich jetzt unsere Blicke treffen, grinst er mich mit einer Mischung aus Wissen und Mitleid an. Ich könnte ihm schon wieder an den Hals springen. Gott sei Dank kann Tom ihn nicht sehen. Und in diesem Moment wird mir klar, dass Bill genau das schon wieder ausnutzt. Er hebt die Hand und fährt sich damit langsam über den Mund, so als hätte er gerade jemanden geküsst. Mein Herz setzt für einen Schlag aus, aber ich kann trotzdem nicht meine Augen von ihm lösen. Und er weiß es. Noch einmal grinst er, nein, diesmal ist es eher ein Lächeln, fast verständnisvoll. Dann löst er den Blickkontakt, dreht sich um und geht langsamen Schrittes ins Wohnzimmer zurück. Soll ich hinterhergehen? Eigentlich hab ich nicht schlecht Lust, ihn wieder anzufahren und zu fragen, was ihm einfällt. Während ich noch überlege, dringt Toms Stimme wieder an mein Ohr. "Shirin, wir müssen da jetzt durch, ob wir wollen oder nicht... und es wird nicht leichter, wenn wir uns alle gegenseitig anfallen" flüstert er und löst sich dann von mir, damit er mich ansehen kann. "Du hast Recht" bringe ich schwach hervor. Und ich kann nicht sagen, ob mein Herz wegen Tom oder wegen Bill so rast, wie es das im Augenblick tut. Tom küsst mich kurz und jetzt rasen auch meine Gedanken. Schon ist es wieder vorbei und er zieht mich an der Hand hinter sich her.
Als wir das Wohnzimmer betreten, lässt Bill gerade sein Handy in der Hosentasche verschwinden. Er hat jetzt nicht das getan, was ich denke...
Aber schon eine Sekunde später wird meine Ahnung zur Gewissheit. "Gustav ist in zehn Minuten hier" teilt er uns knapp mit und mir steht mal wieder der Mund offen. "Du bist einfach das allerletzte" fährt Tom aus der Haut. "Wenn du meinst... ehrlich gesagt ist das ziemlich unwichtig. Ich werde euch schon zeigen, mit wem es besser funktioniert" blafft Bill zurück. "Bill... du bist hinterlistig" mische ich mich ein. Ich habe das gefährliche Glitzern in Toms Augen gesehen und irgendwie muss ich das Schlimmste verhindern jetzt. "Als ob du nicht drauf stehen würdest" gibt er amüsiert zurück und ignoriert gekonnt das gefauchte "Bill!" von Tom.
"Tom, hör auf! Meinst du, damit machst du es besser? Hast du nicht eben noch gesagt, wir dürfen uns nicht gegenseitig anfallen?" gehe ich jetzt auf meinen Freund los, der entsetzt zusammenzuckt. "Ich will doch nur, dass wir einigermaßen vernünftig miteinander umgehen" erkläre ich Tom und drücke ihn kurz an mich. Und wieder fühle ich den brennenden Blick von Bill auf mir, jede kleine Regung saugt er in sich auf. Damit er uns besser gegeneinander ausspielen kann? Oder hat er am Ende ganz was anderes vor? Auf jeden Fall fühle ich mich ertappt und löse mich so schnell von Tom, als hätte ich mich verbrannt.
"Und was genau soll Gustav nun hier?" fragt Tom wieder einigermaßen ruhig. "Er ist mein bester Freund und wir kennen uns in- und auswendig. Mit ihm wird es besser klappen" meint Bill und gleichzeitig entdecke ich die unausgesprochene Aussage dahinter. Müsste nicht eigentlich Tom an Gustavs Stelle stehen? Immerhin sind sie Zwillinge. Macht Bill Tom für alles verantwortlich? Mir wird schwindelig bei dem Gedanken, dass Tom vielleicht wirklich übertrieben hat mit dem, was er mir über Bill erzählt hat. "Gut. Wir werden sehen" unterbricht Tom meine innerlichen Ausschweifungen.
Plötzlich klingelt es an der Tür und ich zucke erschrocken zusammen. Bill rennt los und keine zehn Sekunden später steht ein überraschter Gustav in unserem Flur. "Shirin, hallo" sagt er freundlich und gibt mir die Hand. Er ist so anders als Bill - und auch so anders als Tom. "Hallo" erwidere ich seinen Gruß und fühle seinen festen Händedruck. "Und was soll ich nun hier? Und wer ist das?" fragt Gustav und zeigt auf Tom. "Mein Freund" erkläre ich knapp und Gustav reißt die Augen auf. "Dein Freund?" wiederholt er ungläubig. "Bill? Was soll das alles hier?" wendet er sich an das schwarzhaarige Etwas, das seinen Mund schon wieder zu einem Grinsen verzogen hat.
"Komm doch erstmal rein" sagt er, als würde er hier wohnen. Tom geht vor ins Wohnzimmer und Gustav stapft kopfschüttelnd hinterher. Ich bringe gerade mal einen Schritt hinter mich, da hält Bill mich am Arm fest. "Was soll das eigentlich werden?" gifte ich los. Einerseits kann ich es nicht leiden, ständig festgehalten zu werden und andererseits weiß ich einfach nicht, wie ich mit Bill umgehen soll. "Lass dich überraschen Shirin - es wird toll..." haucht er mir entgegen und ich ignoriere die Gänsehaut, die sich beim Klang seiner Stimme auf meinem Körper ausbreitet. "Jetzt bin ich viel schlauer als vorher" erwidere ich ironisch und wundere mich über mich selbst, wie gut ich meine Unsicherheit überspielen kann. "Komm" sagt Bill und nimmt meine Hand. Spinnt der jetzt komplett?

14.
"Lass mich los Bill!" motze ich ihn an, aber es klingt nicht halb so wütend wie beabsichtigt. Aber immerhin hab ich es geschafft, mich von Bill loszureißen, der jetzt mitten in der Bewegung stockt und sich wieder zu mir umdreht. "Warum denn?" fragt er mit unschuldigem Augenaufschlag. Als würde ich ihm das abkaufen...
"Weil ich nicht will, dass du mich anfasst" erkläre ich halbherzig und kann doch seinem durchdringenden Blick nicht standhalten. "Deine Körpersprache straft deiner Worte Lügen Shirin" sagt Bill mit einem galanten Lächeln und lässt mich einfach stehen. Okay. Wenn er so weitermacht, wird er sowieso nicht mehr lange unter den Lebenden weilen und dann ist es auch egal, ob er womöglich Recht hat mit dem, was er da grade von sich gegeben hat.
Eine Sekunde zögere ich noch, schon wieder gefangen in meinen verwirrten Gedanken. Dann endlich schaffe ich es, mich in Bewegung zu setzen und stolpere Bill hinterdrein. Gustav und Tom sehen uns entgegen. Tom macht schon wieder ein ziemlich verärgertes Gesicht und Gustav sieht mindestens so irritiert aus wie ich. Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich mich wahrscheinlich auf dem Boden kugeln vor lachen, weil wir wirklich ein verrücktes Bild abgeben müssen. So aber lasse ich mich nur schnaufend auf die Couch fallen.
"Kannst du mich jetzt freundlicherweise mal aufklären Bill? Ist das wieder eins von deinen merkwürdigen Spielchen hier?" Gustav hat einen herausfordernden Klang in der Stimme, der mich aufhorchen lässt. Was meint er denn damit? Eins von seinen merkwürdigen Spielchen... Ich glaube langsam, Bill ist noch durchtriebener, als ich dachte. "Gut. ich mach`s kurz, extra für dich: Unsere beiden Kleinen hier geben mir ein bisschen Nachhilfeunterricht im schnellen Geldverdienen, wenn du verstehst was ich meine... und das alles nur, weil Shirin ihre Finger nicht bei sich lassen konnte" fängt Bill an und ich bin schon wieder kurz davor, meine Finger nicht bei mir zu lassen und ihm die Augen auszukratzen. Wenn er in diesem Ton redet, regt er mich wirklich einfach nur auf. "Moment" fällt Gustav ihm ins Wort. "Was meinst du damit? Und was hat das mit ihrem Freund zu tun? Und überhaupt? Ich verstehe hier grade gar nichts. Außerdem: Warum hast du mich eigentlich angequatscht, wenn du doch einen Freund hast?" Die letzte Frage hat er mir gestellt und ich senke errötend den Blick. "Wie niedlich" kommentiert Bill meine Gesichtsfarbe und ignoriert den Rippenstoß, den er daraufhin von Tom bekommt. "Shirin hat mich beklaut - und leider bin ich nicht so dumm, um das nicht zu merken... ach ja und bevor ich`s vergesse: Tom ist mein herzallerliebster verschollener Bruder" klärt Bill endlich auf und Gustavs Gesicht wird lang und länger. "Was?" fragt er fassungslos, wandert mit seinem Blick zwischen uns allen hin und her und lässt sich schließlich neben mir auf der Couch nieder. "Nur damit ich das richtig verstehe: Du wolltest also am Anfang MICH beklauen?" will er dann von mir wissen. "Ja" gebe ich kleinlaut zu. Was soll ich auch sonst sagen. Mein Gesicht ist heiß und ich beginne nervös meine Finger zu kneten.
Einige Minuten herrscht Schweigen. Tom starrt aus dem Fenster und ich betrachte eingehend meine Fingernägel. Neben mir höre ich Gustav atmen und was Bill schon wieder in seinem kleinen intriganten Hirn ausheckt, will ich lieber gar nicht wissen. "Er ist dein Bruder? DER Zwillingsbruder? DER Tom?" durchbricht Gustav schließlich die Stille und ich sehe auf. Bill nickt und Tom dreht sich endlich wieder um. "Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat und das steht hier jetzt auch nicht zur Debatte. Können wir jetzt endlich mal anfangen?" fragt Tom mit ungeduldiger Stimme. "Womit anfangen? Bill?" Gustav hat`s anscheinend immer noch nicht kapiert. "Ach Gustav Schatz, du bist wieder mal auf den Kopf gefallen wie ich sehe" brabbelt Bill, als wäre Gustav ein kleiner Junge. "Ich will mir das natürlich nicht entgehen lassen... also heißt im Klartext, ich werde die beiden in nächster Zeit ein bisschen unterstützen. Leider klappt das mit Tom so ganz und gar nicht" meint Bill dann und Tom zieht hörbar die Luft ein. "Und jetzt soll ich dir also helfen? Bill, du bist unmöglich" gibt Gustav von sich und grinst. Er grinst? Mein Herz schlägt schneller und alles in meinem Körper gerät in Alarmbereitschaft. Wer weiß, was die beiden so treiben... schließlich weiß ich gar nichts über sie. "Genau. Aber du kennst mich doch" unterbricht Bill meine Gedanken. "Okay, dann mal los" kommt es von Gustav und ich bin an diesem Tag wohl zum hundertsten Mal sprachlos.
***
Ich hab´s gewusst. Ich hab`s einfach gewusst. Bill ist... ich weiß nicht, was er ist, aber er ist definitiv nicht das, was er vorgibt zu sein. Zumindest nicht in diesem Punkt. Und vielleicht hab ich mich sogar in Gustav getäuscht.
Es funktioniert. Und es kann auf keinen Fall an Tom liegen. Bill drückt mir gleich beim ersten Mal den Schlüssel in die Hand, als wäre er zu nichts anderem auf der Welt. "Du hast dich doch absichtlich so blöd angestellt vorhin" presse ich mühsam beherrscht durch die Zähne. Bill streicht mir langsam über die Wange. "Du bist nicht nur herrlich verwirrt, sondern auch herrlich naiv... und du wirst sehen: Mit Gustav macht alles noch viel mehr Spaß" raunt er mir ins Ohr und ich muss schlucken. "Ich weiß beim besten Willen nicht, was daran spaßig sein soll!" Toms Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Oder ist es am Ende Bills Stimme? Ich muss hier raus. Sofort. Mit schnellen Schritten renne ich aus dem Wohnzimmer ins Bad. Mit einem lauten Knall schlage ich die Tür hinter mir zu und kann nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. In welchen Alptraum bin ich hier eigentlich geraten?
Ein leises Klopfen lässt mich aufschrecken. "Shirin, mach auf" dringt Toms Stimme leise durch die dünne Tür. Ja, ich mache auf. Ich brauche ihn jetzt. Meine klammen Finger brauchen lange, bis sie den Schlüssel umgedreht haben und dann endlich kann ich meinen Tränen an Toms Schulter freien Lauf lassen.
"Shirin, beruhig dich bitte" flüstert er nach einer ganzen Weile in mein Haar. Langsam löse ich mich von ihm, damit ich ihn ansehen kann. Tom wischt mir gefühlvoll die Tränen aus dem Gesicht. "Ich werd verrückt bei dem Ganzen hier" gestehe ich mit so brüchiger Stimme, dass diese unmöglich zu mir gehören kann. "Ich weiß... aber Shirin, hör mir zu. Wir schaffen das irgendwie. Aber ich kenne dein Temperament... und es gibt da noch eine ganz wichtige Sache, die du unbedingt bedenken musst. Du redest manchmal, bevor du nachdenkst. Bei Bill ist das gefährlich. Gustav kann ich im Moment noch nicht einschätzen. Aber die beiden dürfen unter keinen Umständen von meinem kleinen Problemchen erfahren..." rattert Tom herunter und ich verstehe zuerst nicht, was er meint.
"Huh?" ist das einzige, was ich herausbringe. "Shirin, sie dürfen nicht wissen, dass ich spielsüchtig bin!" wird Tom nun deutlicher und endich beginne ich zu begreifen.
15.
"Okay Tom, ich versprech`s, ich werd meinen Mund halten" sage ich schniefend und wische mir die letzten Tränen aus dem Gesicht. "Gut. Dann komm" meint Tom auffordernd und ich schaue ihn fragend an. "Ich will die beiden jetzt so schnell wie möglich loswerden. Mir wird das alles zu viel heute" fügt Tom noch hinzu und ich nicke. Gemeinsam sind wir stark. Wir werden das schon irgendwie schaffen. Wenn ich bloß wüsste wie...
Schon stehen wir wieder im Wohnzimmer, wo Bill und Gustav tuschelnd auf der Couch sitzen. Was reden die da nur schon wieder? Ich spitze die Ohren, kann aber nichts außer Genuschel verstehen. Bill sieht auf, er hat uns gehört. "Hast du geweint?" fragt er mich und plötzlich klingt seine Stimme... besorgt? Nee, ich muss mich täuschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich um jemand anders Sorgen macht als um sich selbst. "Nein, ich hatte was im Auge" sage ich unheimlich überzeugend. "Aha" macht Bill und will gerade ansetzen, um mir wahrscheinlich wieder irgendeine Gemeinheit an den Kopf zu knallen, als Gustav ihm zuvorkommt. "Vielleicht sollten wir lieber gehen Bill" schlägt er nach einem Blick auf mich vor. "Ja, ich glaub, du hast Recht" stimmt Bill zu. Sollte dieser Mensch doch Gefühle besitzen?
Bill und Gustav stehen auf und ich werfe einen kurzen Seitenblick auf Tom. Wie erwartet schaut er leicht irritiert aus der Wäsche. Dass sein Wunsch so schnell in Erfüllung geht, damit hat er bestimmt nicht gerechnet. Doch so einfach kommen wir oder besser gesagt ich dann doch nicht davon. "Kann ich kurz mit dir reden? Allein" sagt Bill, als er bei mir angekommen ist. "Wenn`s sein muss" grummel ich genervt. Der macht mich noch mal fertig, ich weiß es. Tom nickt mir zu, also lasse ich ihn im Wohnzimmer zurück und stapfe hinter Gustav und Bill her. "Ich geh schon mal vor" meint Gustav und hebt grüßend die Hand. Mehr als ein müdes Kopfnicken bringe ich jetzt nicht zustande. "Ja, ich bin sofort da" antwortet Bill und greift nach meinem Arm. Schon wieder diese Anfasserei, die ich nicht leiden kann. Ich wiederstehe nur mit Mühe dem Drang, mich sofort loszureissen.
Im Schlafzimmer lässt er mich endlich los, nachdem er die Tür hinter uns zugeworfen hat. Warum Schlafzimmer? Warum Tür zu? Was zur Hölle hat er nun schon wieder vor? Hab ich nicht schon genug gelitten heute? "Shirin" sagt er sanft und... moment mal. Sanft? Ich hab wohl auch schon Halluzinationen jetzt. Bill ist weder besorgt noch sanft. Er ist grob und gemein. "Shirin" wiederholt er und endlich sehe ich ihn an. Er hat es schon wieder sanft gesagt. "Was denn?" gifte ich los, Angriff ist schließlich die beste Verteidigung. "Nun dreh mal nicht gleich wieder am Rad. Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen" meint er. Blitzt da ein bisschen Schuldgefühl in seinen Augen auf? Ich muss mich schon wieder täuschen. "Damit musst du jetzt wohl leben" zische ich leise. "Hör mal Shirin... ich hab`s ein bisschen übertrieben. Und das tut mir leid" entschuldigt sich Bill und ich merke richtig, wie ich eine Augenbraue nach oben ziehe. "Es tut dir leid? Du hast uns doch diesen ganzen Mist hier eingebrockt!" fahre ich ihn ungehalten an. Was soll denn das jetzt? Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Und ob ich das ernst nehmen kann, was er hier von sich gibt. "Ja. Ich weiß. Und ihr werdet auch nicht drum rumkommen. Aber ich will nicht, dass es dir schlecht geht" erwidert er ruhig. "Dann lass mich einfach in Ruhe, dann geht es mir wieder gut und alles ist paletti!" Mein genialster Einfall heute, ich muss mir nachher selber auf die Schulter klopfen.
"Ich kann nicht" kommt es zurück. Ich hab jetzt keine Lust mehr, hier diesen bescheuerten, völlig sinnfreien Small Talk mit ihm zu betreiben. Ich komme mir komplett veräppelt vor. "Schön. Ich hab auch nicht damit gerechnet. War`s das jetzt?" will ich genervt wissen.
Bill gibt mir keine Antwort. Schließlich drehe ich mich um und mache augenrollend den ersten Schritt Richtung Tür. Leider habe ich vergessen, was Bills Lieblingsbeschäftigung ist und so hänge ich schon Sekunden später wieder in seiner Hand fest. Wütend blitze ich ihn an. "Betrügt er dich?" fragt Bill völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Meine Gehirnzellen sind heute schon so dermaßen beansprucht worden, dass ich einige Augenblicke brauche um zu verstehen, von wem er hier eigentlich redet. "Was?" frage ich trotzdem. Vielleicht spielt mir mein armes Hirn auch einen Streich. Kann ja sein.
"Betrügt Tom dich?" wiederholt Bill nochmal mehr als deutlich. Seine Augen sehen mich so durchdringend an, dass ich den Blick senken muss. Wie kommt er denn bitte darauf jetzt? "Was geht dich das an?" versuche ich mich irgendwie drum rumzureden. "Also ja" schnaubt Bill. Ich verstehe hier irgendwas nicht. Ganz und gar nicht. "Ja, verdammt noch mal, er hat mich einmal betrogen. Woher weißt du das und warum fragst du mich das?" Ich finde meine Fragen berechtigt. Sogar mehr als das.
"Ich kenne ihn besser als du, glaub mir. Und ich wollte es nur bestätigt haben. Sag mal, warum lässt du dir das gefallen?" Er hebt mit dem Zeigefinger mein Kinn an, so dass ich ihn anschauen muss. "Bill, lass mich in Ruhe okay? Das geht dich nichts an. Wir..." ich zeige mit dem Finger zwischen ihm und mir hin und her "...verbringen notgedrungen die nächsten vier Wochen zusammen und dann Ende. Verstanden?" Ich muss schon wieder schlucken. Ich bin nicht halb so selbstsicher, wie ich vorgebe. Wie um alles in der Welt kommt Bill darauf? Und warum musste er mich daran erinnern? Ich hatte es verdrängt. Nicht vergessen, aber in die hinterste Schublade meiner Seele verbannt.
"Wie du willst. Aber du hast das nicht verdient" sagt Bill und mustert mich eingehend. "Mag sein. Wahrscheinlich hat das niemand verdient. Und jetzt geh endlich" bringe ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Gut. Er hat es geschafft, dass ich seit einem ganzen Jahr zum ersten Mal wieder an diese schreckliche Sache denken muss. Unweigerlich tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf, entschuldigende Wortfetzen und Gefühle, die ich nie wieder spüren will. Das ist nicht fair.
"Das ist unfair!" Hab ich das jetzt laut gesagt? Anscheinend, denn Bill fasst mich mit beiden Händen an den Schultern, so dass ich gar keine Chance mehr habe, ihm irgendwie auszuweichen. "Soll ich dir mal sagen, was unfair ist? Es ist unfair, dass ich so einen Bruder habe. Und dass dieser, nachdem ich endlich mit meiner Vergangenheit abgeschlossen habe, so mir nichts dir nichts einfach auftaucht. Und weißt du was am Schlimmsten ist? Es gibt da eine Frau... sie ist schlagfertig und auf ihre Art schön und von Anfang an faszinierend für mich... kratzbürstig, verwirrt und chaotisch, aber es steckt mehr dahinter, das hab ich sofort gespürt. Und zu wem gehört diese Frau?" Bill redet das Ganze in einem Wortschwall, dessen Geschwindigkeit ich kaum folgen kann. Ohne Punkt und Komma. Trotzdem habe ich verstanden, worauf er hinaus will. Denke ich. Nur leider kann ich nicht mehr denken. Mit aufgerissenen Augen starre ich Bill an, der heftig atmet.
Nein, ich versinke jetzt nicht in diesen Augen. Auf keinen Fall. Ich traue ihm nach wie vor nicht.
Schwerfällig reisse ich mich von seinen tiefbraunen Augen los, nur um einen Moment später an seinen sinnlichen Lippen hängenzubleiben. Verdammt.
Das geht nicht. Das ist genau das, was er will. Und er wird es nicht bekommen.
Bill beugt sich ein Stück vor, so dass er fast meinen Mund streift und ich merke bestürzt, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken zur Standing Ovation melden. Oh Gott. Er wird doch nicht tatsächlich tun, was ich denke was er tun will? Denke ich überhaupt?
"Vielleicht solltest du es ihm heimzahlen" haucht Bill mir letztendlich gegen die Lippen, dreht sich um und lässt mich stehen. Er ist so schnell verschwunden, dass ich für einen winzigen Sekundenbruchteil glaube, ich hab das gerade nur geträumt. Aber die Luft um mich herum riecht immer noch nach ihm und seine Worte hallen in meinen Ohren wider.
Und noch einen Sekundenbruchteil später lasse ich so schnell die Hand von meinem Mund sinken, als hätte ich mich verbrannt. Ich konnte ihn fast fühlen. Es hat nur ein Millimeter gefehlt.
* * *

16.
Ich hab keine Ahnung, wie lange ich hier nun schon auf meinem Bett sitze. Es können Minuten, aber ebenso gut Stunden sein. Ein Räuspern lässt mich schließlich ruckartig aus meiner Starre erwachen. Erschrocken sehe ich auf. Tom steht mit verschränkten Armen im Türrahmen gelehnt. Seinen Gesichtsausdruck kann ich beim besten Willen nicht deuten. "Was wollte er von dir?" fragt er geradeheraus. "Nichts" nuschele ich gedankenlos. "Shirin, hör auf mit Nichts. Ich weiß, was das heißt. Also?" hakt er nach und hört sich langsam aber sicher wütend an. "Mein Gott er wollte wirklich nichts besonderes" beharre ich und Tom schüttelt den Kopf. "Nichts besonderes also" wiederholt er abwesend. "Ich will schlafen jetzt" sage ich mechanisch und meine eigene Stimme hört sich fremd in meinen Ohren an.
Langsam lasse ich mich rückwärts aufs Bett sinken, es ist mir scheißegal, dass ich noch meine gesamten Kleider am Körper trage. Gequält schließe ich die Augen.
Kurze Zeit später gibt die Matratze neben mir ein bisschen nach, es verrät mir, dass Tom sich neben mich gelegt hat. Ich weiß, was jetzt kommt. "Shirin" fängt er auch schon wieder an zu reden, aber ich drehe mich brüsk um und knipse das Licht aus. Die Dunkelheit ist jetzt besser zu ertragen als Toms Gesicht. Allerdings bringt sie auch unweigerlich all die hässlichen Bilder wieder zum Vorschein, die ich so tief in meinem Inneren vergraben hatte. ".... was er will" dringt Toms Stimme an mein Ohr. "Was?" will ich wissen, ich habe ihm überhaupt nicht zugehört. "Ich habe gemeint, uns auseinander bringen ist genau das, was er will" sagt Tom noch einmal eindringlich. "Er hat mich aber auch nicht betrogen" rutscht mir raus und ich schlage mir entsetzt die Hand vor den Mund. "Wie kommst du denn jetzt auf diese alte Geschichte?" fragt Tom alarmiert und schiebt noch ein eindringliches "Shirin!" hinterher, als ich nicht antworte.
"Bill hat es gewusst" bringe ich schließlich nach einer Ewigkeit hervor. "Du spinnst ja. Was hast du ihm noch alles erzählt, hm? Shirin, merkst du nicht, in welchem Scheiß-Spiel wir hier stecken?" Tom ist aufgebracht, aber er macht mich damit eben so wütend. "Ich spinne also, na Danke auch. Ich hab ihm gar nichts erzählt Tom. Wahrscheinlich war ich nicht die erste, die du betrogen hast" fahre ich ihn an und er verstummt. Ich höre nur noch seinen unregelmäßigen Atem. Also hatte ich Recht. "Hast du gelogen Tom? Hast du gelogen in Bezug auf Eva?" Ich muss das jetzt wissen, auch wenn man mir anhört, dass ich schon wieder mit den Tränen kämpfe. Er sagt nichts. Er sagt verdammt noch mal gar nichts dazu. "Ich schlafe auf der Couch" höre ich mich selber sagen und wie ein Roboter greife ich nach meiner Decke, rausche aus dem Zimmer und verschwinde mit meinen Habseligkeiten auf dem Sofa. Er hat nicht mal versucht, mich aufzuhalten.
***
An Schlaf ist überhaupt nicht mehr zu denken, obwohl ich vor Müdigkeit fast umfalle. Meine Gedanken rasen. Er hat mich belogen. Er hat mich belogen. Immer wieder schießen diese vier Worte durch meinen Kopf und ich kann es einfach nicht fassen. Tom hat mir von Eva erzählt. Das Mädchen, an dem angeblich seine Beziehung zu Bill zerbrochen ist. Wobei das ja wohl stimmt, wie ich mehr als deutlich gesehen habe. Nur war Bill der Betrogene und nicht Tom? Will Bill sich an Tom rächen und ich bin nur eine kleine dumme Spielfigur in dem Ganzen? Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll.
Über meiner ganzen Verwirrtheit fallen mir dann doch irgendwann die Augen zu.
Als ich aufwache, steht die Sonne schon hoch am Himmel, kitzelt mich an der Nase und ich verdrehe genervt die Augen. Und schlagartig kommt die Erinnerung zurück. Taumelnd wanke ich ins Bad und erschrecke vor meinem eigenen Spiegelbild. Meine Haare stehen mir wirr vom Kopf ab und ich kann mich nicht erinnern, jemals so tiefe Augenringe gehabt zu haben. Eine halbe Ewigkeit stehe ich unter der Dusche, so als würden mit dem Wasser auch alle schlechten Gefühle im Abfluss verschwinden. Reine Illusion.
Was war noch alles reine Illusion? Meine ganze Beziehung? Mein ganzes Leben?
Endlich sitze ich mit einer Tasse Kaffee, das einzige, was ich in unserer zugemüllten Küche noch auftreiben konnte, am Küchentisch und starre aus dem Fenster. "Es tut mir leid" murmelt es plötzlich hinter mir. Ich muss lachen, es klingt hohl und verletzt in meinen Ohren. "Shirin" sagt Tom zärtlich, macht einen langen Schritt auf mich zu und greift nach meiner Hand. Wütend schlage ich sie beiseite. "Es tut dir leid? Was genau tut dir denn leid Tom? Geht`s vielleicht ein bisschen präziser?" Meine Stimme überschlägt sich fast, das Lachen von grade eben ist mir im Hals stecken geblieben. Es war sowieso unecht. "Es tut mir leid, dass ich gelogen habe. Eva war Bills Freundin und nicht meine. Ich dachte... es wäre einfacher, es dir nicht zu sagen?" bringt er hervor. "Einfacher für wen genau?" stelle ich als Gegenfrage und Tom schaut auf den Fußboden. Ich könnte ihn ermorden. Konnte er sich denn nicht denken, dass ich es irgendwann erfahre? Wie naiv ist er eigentlich?
"Ich muss hier raus" schnaufe ich schließlich, schlängele mich vorbei an Tom und stürze zur Tür.
Im Treppenhaus renne ich fast Gustav über den Haufen, der die Stufen nach oben eilt. "Ui, Du hast es aber eilig" meint er belustigt. "Was willst du denn schon wieder hier?" frage ich unfreundlich. "Ich wollte etwas mit dir besprechen" antwortet er und sieht mich erwartungsvoll an. Unwillkürlich suche ich das Treppenhaus ab, ich weiß nicht was ich denke dort zu finden, ich will mich nur absichern, dass Bill nicht aus irgendeiner Ecke gesprungen kommt oder so. "Er ist nicht hier" sagt Gustav und grinst. Kann der jetzt auch schon Gedanken lesen? "Was willst du denn besprechen?" will ich jetzt eine Spur netter wissen. "Hast du denn überhaupt Zeit oder bist du auf dem Sprung?" Ja Gustav, ich bin beim Sprung aus dem Fenster, aber sonst geht`s mir gut. Wahrscheinlich wäre das sowieso das Beste für mich, oder ich hänge mich an den nächsten Baum. "Ja ich hab Zeit. Kannst du auch im Gehen reden?" Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, aber Gustav nickt.
Und ich weiß mal wieder nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Irgendwie wird alles von Stunde zu Stunde schlimmer und ich befürchte, das wird sich jetzt auch fortsetzen.
Trotzdem atme ich einmal tief ein und aus, folge Gustav auf die Straße und bin doch irgendwie gespannt, was er nun eigentlich von mir will.
17.
"Also?" frage ich in leicht genervtem Tonfall und blicke Gustav erwartungsvoll von der Seite an. Gustav erwidert kurz meinen Blick, räuspert sich dann und bleibt stehen. Ich bin schon kurz vorm Platzen, als er endlich anfängt zu reden. "Shirin... ich... was genau geht hier eigentlich ab?" will er von mir wissen und ich muss gegen meinen Willen kurz auflachen. "Das fragst du ausgerechnet mich?" frage ich fassungslos und zeige mit dem Finger auf mich selbst. "Naja, Bill gibt mir keine wirklichen Antworten, ich hab nur mitbekommen, dass Tom sein verschollener Bruder ist... Hör mal Shirin, ich kenne Bill lange und gut. Und ich weiß, wie er ist. Du solltest die Finger von ihm lassen" meint Gustav und schnaubt dabei. Als seine Worte bis zu mir durchgedrungen sind, fange ich ebenfalls an zu schnauben. "Vielleicht solltest du dem lieben Bill mal sagen, er soll die Finger von MIR lassen" fauche ich ihn schließlich an und Gustav zuckt zusammen. Bevor er mir antworten kann, höre ich jemanden meinen Namen schreien. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es ist.
"Was will der denn hier?" giftet Tom und stößt hörbar die Luft durch seine Nase aus. Seine Augen wandern von mir zu Gustav und wieder zurück. "Lass mich in Ruhe Tom, ich unterhalte mich hier, siehst du das nicht?" gebe ich genervt von mir, aber eigentlich bin ich verletzt und nicht genervt. Und ich weiß, dass Tom das weiß.
"Shirin..." Tom hält kurz inne, will dann seinen Satz beenden, aber ich lasse ihm keine Gelegenheit. "Hast du mich nicht verstanden? Du sollst mich in Ruhe lassen!" Morgen bin ich heiser, wenn ich so weiter schreie. Jetzt ist es Gustav, der entsetzt von einem zum anderen schaut. Irgendwie drehen hier alle durch oder so. Ich warte immer noch verzweifelt darauf, dass mich mal endlich jemand kneift.
Tom fasst mich am Arm und ich brauche all meine Kraft, um ihn abzuschütteln. "Sag mal, rede ich Suaheli oder willst du es nicht begreifen? Lass mich zufrieden!" Anscheinend war das jetzt deutlich genug. Tom lässt meinen Arm los und senkt den Blick. Brüsk drehe ich mich um und lasse ihn stehen, den erstaunten Gustav schleife ich einfach hinter mir her.
"Was war das denn jetzt?" fragt er einige Meter weiter, als ich mein Schrittempo einigermaßen verlangsamt habe. "Wir haben uns gestritten" erwidere ich knapp, kann Gustav dabei aber nicht in die Augen sehen. "Aha" macht Gustav und schiebt dann ein "Wegen Bill?" hinterher. Ich schnaufe empört, doch mir wird schon eine Sekunde später klar, dass ich seine Frage damit mehr als beantwortet habe. "Jein" erkläre ich dann doch noch ergeben, "eigentlich wegen Eva." Gustav nickt. "Du kennst sie?" frage ich neugierig. "Nein." Gustav schüttelt den Kopf. "Ich kenne nur die Geschichte" meint er dann. "Hm" ist alles, was mir dazu einfällt.
Schweigend gehen wir einige Schritte weiter. "Warum macht ihr das eigentlich mit dem Klauen du und Tom?" durchbricht Gustav schließlich die Stille. Abrupt bleibe ich stehen. "Weil... wir beide keinen wirklichen Job haben" rede ich um den heißen Brei herum. "Das kann man doch ändern" meint Gustav und ich muss lächeln. Ist er wirklich so naiv oder noch fieser als ich es mir vorstellen kann? "Ja klar Gustav, weil die Jobs heutzutage ja auch an jedem Baum hängen, man muss sie nur abpflücken" sage ich sarkastischer als geplant. "Entschuldige. Wir kennen uns ja kaum und ich wollte dir nicht zu nahe treten" erwidert Gustav sofort. "Schon gut" lenke ich ein. Was soll ich auch sonst tun? "Und du und Bill? Was macht ihr so?" frage ich möglichst desinteressiert, aber ich kann meine Neugier kaum zügeln. Zu gerne würde ich mehr über die beiden erfahren, was sie so treiben, womit sie ihr offensichtliches Geld verdienen... meine Gedanken schweifen schon wieder ab. "Wir wohnen zusammen" antwortet Gustav und ich reiße erstaunt die Augen auf. Er hat etwas völlig anderes gesagt, als ich erwartet hatte. Wobei ich aber auch nicht sagen kann, was ich erwartet hatte.
"Ihr wohnt zusammen?" wiederhole ich und beiße mir schnell auf die Unterlippe. Wie blöd sich das anhören muss. "Ja" nickt Gustav. "Wir verstehen uns blendend und ich werde ihn auch unterstützen in seinem neuesten Projekt" meint er dann. "Bitte?" kommt es verständnislos aus meinem Mund. Irgendwie verläuft das hier in ganz anderen Bahnen, als ich eigentlich vorhatte. "Shirin, ihr habt ihn beklaut, jetzt müsst ihr mit den Konsequenzen leben" leiert Gustav herunter, als wäre es eine Predigt. "Ja danke auch" fahre ich ihn an. "Hey, immerhin hab nicht ich dir dein Geld gestohlen, sondern umgekehrt" wehrt er sich entschieden. Ja scheiße, er hat ja Recht. Aber was für eine Rolle hat er eigentlich in diesem morbiden Theaterstück? So komme ich mir nämlich mittlerweile wirklich vor. Wie in einem blöden billigem Theaterstück. Mit mir in der Hauptrolle. Was will man mehr?
"Pass auf Shirin" redet Gustav einfach weiter und sieht mich eindringlich an. Was kommt nun wieder?
"Du gehst jetzt wieder rein und streitest dich noch ein bisschen mit Tom oder was immer du willst. Heute Abend komm ich mit Bill wieder und wir ziehen gemeinsam um die Häuser" bestimmt Gustav. Er hat gemerkt, dass ich bei dem Namen Bill merklich zusammengezuckt bin. Und was um Gottes Willen meint er mit "um die Häuser ziehen"? "Wir machen ne Menge Holz, du wirst schon sehen! Das wird lustig" freut sich Gustav und beantwortet damit meine unausgesprochene Frage. Okay. Hab ich jemals gesagt er sei nett? Ich nehm alles zurück. "Das ist nicht dein Ernst" widerspreche ich energisch. "Und ob" bestätigt er und grinst breit. "Aber ihr habt doch gar keine Erfahrung mit so was" versuche ich noch einmal mein Glück. "Du hast ja keine Ahnung Shirin... und eine Wahl hast du auch nicht" schmunzelt Gustav. Langsam verstehe ich seine Freundschaft mit Bill. Wer sind hier eigentlich die Verrückten? Ich und Tom? Gustav und Bill? Ich blicke langsam nicht mehr durch. "Ihr seid alle..." Ich suche noch nach dem richtigen Wort für diese... Unverschämtheit. "Furchtbar nett" beendet Gustav meinen Satz, grinst mir noch ein "bis nachher" zu und ist auch schon um die nächste Ecke verschwunden.
Einen Moment stehe ich noch verdattert da, dann gehe ich mit langsamen Schritten zurück. Zurück zu Tom.
Oder soll ich einfach weglaufen? Weg aus diesem Alptraum...

18.
Immer noch verwirrt schließe ich die Tür hinter mir. Natürlich bin ich doch schnurstracks nach Hause gelaufen. Was sollte ich auch sonst machen.
Wie konnte ich bloß in so eine Katastrophe schlittern? Warum muss ausgerechnet mir immer so was passieren? Und warum täusche ich mich ständig in allen möglichen Leuten? Irgendwas läuft hier ganz gewaltig schief. Oder so. Ich muss fast grinsen bei meinen bekloppten Gedanken.
Tom sitzt im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als könnte ihn kein Wässerchen trüben und mich macht sein Anblick auf der Stelle wieder wütend. Und ich habe jetzt absolut keine Lust, mich mit ihm zu beschäftigen. Mir graut es schon vor heute Abend, wenn wir mit Gustav und Bill „um die Häuser ziehen“ müssen – was immer das auch heißen mag.
Ich will schon leise und unbemerkt ins Schlafzimmer huschen, um wenigstens noch ein bisschen Zeit für mich allein zu haben, als Tom mich mit einem leise gerufenen „Shirin“ zurückhält. Er bekommt keine Antwort von mir, aber immerhin bleibe ich stehen, damit ich ihn anfunkeln kann. Er soll ruhig merken, wie sauer ich bin. Beziehungsweise, wie sehr er mich mit seiner Lügerei verletzt hat.
Das Spielchen geht eine ganze Weile, aber schließlich gibt er nach. „Darf ich`s dir erklären?“ fragt er schließlich mit herzerweichendem Hundeblick, der nur leider bei mir die nächste Zeit nicht mehr ziehen wird. „Was genau erklären Tom?“ kommt es ungehalten von mir, ab liebsten würde ich ihm direkt an den Hals springen. „Mensch Shirin, ich weiß doch, dass ich Mist gebaut hab. Aber wir können Bill das nicht ausnutzen lassen, du darfst das nicht zulassen“ hämmert er mir eindringlich entgegen, aber ich habe auf dieses sinnlose Gespräch so gar keinen Bock. „Gib doch nicht Bill die Schuld an allem. ER hat mich nicht angelogen im Gegensatz zu anderen Leuten“ werfe ich Tom hin und dann bin ich türenschlagend im Schlafzimmer verschwunden. Und ich bin mir mittlerweile sowieso nicht mehr so sicher, ob wirklich Bill oder am Ende doch Gustav der durchtriebenere von den beiden ist.
Die nächsten Stunden komme ich nicht aus meinem Mauseloch gekrochen. Ich bin in Grübeleien versunken und merke gar nicht, wie es später und später wird. Es ist ja auch nicht nur Tom, der mir Sorgen und mich unglaublich wütend macht, da gibt es jetzt auch noch einen Gustav, der anscheinend genau so viel Spaß am quälen hat wie Bill, von dem ich das ja schon kannte. Langsam verstehe ich wirklich die Welt nicht mehr. Alles läuft verkehrt. Und außerdem muss Tom dringend seine Therapie anfangen, nur wie sollen wir das anstellen, ohne dass die beiden das merken? Dürfte schwierig werden. Aber es wird sicherlich nicht besser, wenn er einen neuen Spielanfall bekommt. Oh Gott. Das möchte ich mir lieber nicht genauer ausmalen.
Das Klingeln an der Tür lässt mich erschrocken hochfahren. Scheiße. Ist es tatsächlich schon Abend? Ja, draußen ist es dämmrig, wie mir ein Blick aus dem Fenster bestätigt. Aber warum hat Tom nicht einmal den Versuch unternommen, mich aus dem Schlafzimmer zu bekommen? Weil es wohl nicht viel Sinn gemacht hätte, wie ich Sekunden später selber zugeben muss. Wohl gemerkt, hab ich das jetzt nur mir eingestanden und niemandem sonst. Wäre ja auch noch schöner.
Aber ich kann trotzdem nichts dagegen tun, dass mein Herz anfängt wie verrückt zu rasen, als ich jetzt höre, wie jemand langsam zur Tür schlurft und sie öffnet. Dann folgt Stimmengewirr und plötzliche Stille. Was machen die da draußen nur? Langsam aber sicher werde ich unruhig und mein Herzschlag hat sich auch noch immer nicht verlangsamt, eher im Gegenteil. Mist. Mist, verdammter.
19.
Und jetzt klopft es an der Schlafzimmertür, nicht gerade zaghaft. Wie angestochen springe ich hoch und reiße die Tür auf. „Schön, dass du mir Bescheid gesagt hast, dass wir heute noch Besuch kriegen“ zischt Tom mir zornfunkelnd entgegen. „Bitte, gern geschehen“ kommt es mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme von mir zurück. Was glaubt der eigentlich, wen er vor sich stehen hat? „Shirin, also...“ fängt er wieder an, aber weiter kommt er nicht. „Gibt`s da etwa Unruhe bei den niedlichsten aller Turteltäubchen?“ unterbricht Bill unser Gezanke. Erschrocken luge ich hinter Tom hervor und sehe Bill und Gustav im Flur stehen. Gustav grinst und Bills Gesichtsausdruck könnte wie so oft alles bedeuten.
Tom fährt wütend herum und ich glaube, er vergisst sich gleich. „DU hältst jetzt besser den Mund. Immerhin bist du Schuld an allem!“ Irgendwie wird Tom jetzt ungerecht, finde ich. Bill findet das anscheinend auch, denn er baut sich mit einem schnellen Schritt vor seinem Bruder auf. „Ich bin vielleicht Schuld an der Misere, in der ihr im Moment steckt, aber ich hab`s nicht nötig, Frauen anzulügen“ kontert er und wirkt dabei ziemlich gelassen. Und ich weiß nur zu gut, wie Tom meistens darauf reagiert, wenn sich jemand nicht aus der Ruhe bringen lässt. Irgendwie will ich nicht, dass diese Situation hier jetzt eskaliert. Reflexartig packe ich Tom am Arm und werfe ein leichtfertiges „Aber wir haben uns doch gar nicht gestritten, alles in Ordnung“ in die Runde. Tom hält inne und sieht mich perplex an, Gustav fängt an zu lachen und von Bill bekomme ich nur einen wissenden Blick. Er hat mich durchschaut, ich weiß es. Aber es ist mir egal.
„Dann ist ja alles gut. Wollen wir los?“ fragt Bill einige Sekunden später, als wäre das gerade alles gar nicht passiert. Warum geht er darauf ein? Es müsste ihn doch freuen, wenn ich mich mit Tom streite. Und mal wieder verstehe ich die Männer nicht. So im Allgemeinen und auch im Besonderen.
„Ich muss kurz ins Bad“ nuschele ich und setze mich in Bewegung. „Das glaub ich allerdings auch. Du siehst aus wie ne Vogelscheuche“ sagt Gustav, der immer noch lacht. Ich hab mich wohl verhört. Doch das gefauchte „Gustav!“ aus zwei Mündern, das wie aus einem einzigen klingt, belehrt mich eines besseren. Für einen kurzen Moment bin ich sprachlos. „Was denn? So kann sie unmöglich mitgehen, da hab ich doch wohl Recht“ verteidigt Gustav sich und zeigt dabei mit dem Finger auf mich. „Ich will ja nicht wissen wie du aussiehst, wenn du die ganze Nacht nicht geschlafen hast!“ fahre ich ihn aufgebracht an. Hat Bill ihm Drogen gegeben oder warum ist er auf einmal wie ausgewechselt? Wutschnaubend verschwinde ich im Bad und knalle die Tür hinter mir zu. Draußen höre ich die drei hitzig diskutieren. Krampfhaft versuche ich, nicht darauf zu achten und beginne, mich wenigstens einigermaßen herzurichten. Ich weiß selber, wie schrecklich ich aussehe, aber ist das ein Wunder?
Wer möchte schon auf so was hingewiesen werden... ich jedenfalls nicht. Und schon gar nicht von Gustav. Und schon überhaupt gar nicht auf so eine Art und Weise. Kopfschüttelnd verlasse ich schließlich das Badezimmer und werde mit einem „Na siehst du, geht doch“ von Gustav empfangen. „Hältst du jetzt endlich mal die Klappe?“ motzt Tom los, bevor ich etwas dazu sagen kann. „Könnt ihr vielleicht alle mal aufhören? Sonst werden wir heute nie mehr fertig“ bringe ich endlich schweren Herzens hervor und alle sehen mich erstaunt an. Aber wenn ich ehrlich bin, ist es doch das Einzige, was ich in diesem Augenblick will: Das hier so schnell wir möglich hinter mich bringen.
***
Zwei Stunden später sitze ich in irgendeiner Nobelbar und führe das langweiligste Gespräch meines ganzen Lebens. Ich konnte mir nicht mal den Namen dieses arroganten Typen merken, der irgendwie nur von sich selber redet und mich gar nicht zu Wort kommen lässt. Und wer hat ihn ausgesucht? Gustav. Ich wusste ja gleich, dass das nichts werden kann. Das versteht er also unter „Bill in seinem neuesten Projekt unterstützen“. Na danke auch.
„Warte mal eben, ich komm gleich wieder“ vertröste ich das namenlose Etwas, das in aller Seelenruhe an seinem Cocktail weiternuckelt. Warum rede ich überhaupt mit ihm? Genervt mache ich mich auf die Suche nach den anderen, die eigentlich in der Nähe der Toiletten auf mich warten sollten. Aber als ich dort ankomme, steht da nur ein sichtlich gelangweilter Bill. „Wo sind die anderen?“ will ich sofort wissen und mir schwant irgendwie nichts Gutes. „Gustav ist tanzen“ meint Bill und deutet auf die Tanzfläche, wo Gustav gerade fast in eine großgewachsene Blondine hineinkriecht. Aha. Selten so gelacht. Wenn das bei ihm Unterstützung heißt, na dann Prost Mahlzeit. „Und wo ist Tom?“ frage ich automatisch weiter, nachdem ich meinen Blick von dem überaus widerwärtigen Pärchen losgerissen habe. „Er ist gegangen“ murmelt Bill und sieht auf den Boden. „Er ist gegangen? Einfach so?“ wiederhole ich quietschend. Langsam beginne ich Tom zu hassen. Er kann mich doch nicht einfach allein lassen. Völlig allein mit zwei Verrückten.
„Vielleicht solltest du dir mal überlegen, mit wem du da eigentlich zusammen bist“ fährt Bill fort und bei mir reißt der Geduldsfaden. „Du hast überhaupt keine Ahnung von irgendwas, also halt gefälligst den Mund!“ schnauze ich ihn an. Seine Reaktion warte ich gar nicht erst ab, für mich hat sich das hier heute Abend erledigt. Mit eiligen Schritten laufe ich so schnell wie möglich weg von hier, und ich rechne schon damit, dass Bill mich wieder mal am Arm festhält und mich nicht gehen lässt, aber nichts passiert. Rein gar nichts. Irgendwie bringt mich das aus dem Konzept jetzt. Er tut einfach nie, was ich erwarte.
Wie von selbst werden meine Füße langsamer und irgendwann bleibe ich stehen und drehe mich um.
Bill steht da wie angewurzelt und starrt mir hinterher.
Ich schwanke innerlich. Irgendwie sieht er verwirrt aus. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm trauen kann. Vielleicht spielt er auch nur wieder eins von seinen komischen Spielchen mit mir. Doch das werde ich wohl nur herausfinden, wenn ich zurückgehe. Entschlossen überwinde ich schließlich die paar Meter, bis ich wieder direkt vor ihm stehe. „Willst du mich gar nicht festhalten?“ frage ich provokativ. „Seh ich so aus?“ kommt es im gleichen Tonfall zurück und jetzt kann ich wieder das Glitzern in seinen Augen sehen. „Aber dann entgeht dir dein Geld für heute Abend“ erkläre ich ihm. „Was ist schon Geld Shirin“ meint er nur dazu und macht eine wegwerfende Handbewegung. „Es geht aber doch um Geld hier“ sage ich mehr zu mir selbst als zu Bill, aber er hat es trotzdem gehört. „Es geht keinesfalls um Geld. Das ist ein netter Nebeneffekt, ja. Nicht mehr und nicht weniger. Mir geht es einzig und allein um Spaß“ erzählt Bill, als würde er in einer Talkshow sitzen. Seine Haare sind so schön schwarz – warum fällt mir das ausgerechnet jetzt auf?
„Und? Hast du Spaß?“ stelle ich als nächste Frage, eigentlich nur um mich abzulenken. „Nein“ erwidert er bedauerlich. „Wie schade“ sage ich ironisch. „Ich geh jetzt“ füge ich dann noch als Erklärung hinzu, die er meiner Meinung nach normalerweise gar nicht verdient hätte. Schon habe ich mich umgedreht und will diesen abartigen Ort verlassen, als es plötzlich hinter mir her ruft: „Warte! Ich komm mit“. Was? Warum will diese schwarzhaarige Prinzessin jetzt auf einmal mitkommen?
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20.
„Wohin willst du denn mitkommen Bill?“ Ich bin stehen geblieben und mustere ihn argwöhnisch von oben bis unten. Aus dem soll mal einer schlau werden. „Ich bring dich nach Hause. Du kannst doch nicht mitten in der Nacht allein durch die Gegend laufen“ sagt er in bestimmendem Tonfall. „Was meinst du, was ich alles kann“ ärgere ich ihn und erhalte nur ein gebrummtes „Shirin!“ als Antwort. „Und Gustav?“ werfe ich als nächstes ein und deute auf die Tanzfläche, wo Gustav und sein Blondchen – knutschen. Ich reiße die Augen auf, aber das Bild verändert sich nicht... er steckt ihr wirklich bis zum Anschlag die Zunge in den Hals. Ich muss mich unweigerlich schütteln und versuche, den aufkeimenden Würgereiz zu unterdrücken. „Um den mach dir mal keine Sorgen. Ich glaub nicht, dass er heute zu Hause schläft, außerdem ist er eh selbst gefahren“ meint Bill und fängt nach einem Blick in mein entsetztes Gesicht an zu grinsen. „So hast du ihn nicht eingeschätzt oder?“ will er von mir wissen und ich kann nichts anderes tun als den Kopf zu schütteln. Nein. So hatte ich Gustav ganz und gar nicht eingeschätzt.
„Aber bei euch beiden ist wahrscheinlich einer kränker als der andere“ sage ich schließlich schon fast resigniert. „Muss in der Familie liegen“ kommt es von Bill. Anscheinend hat er mich falsch verstanden. Denn ich meinte nicht Tom damit. Egal. Wahrscheinlich war es nur wieder eine seiner wohl durchdachten Antworten und er will mich provozieren.
„Auf jeden Fall kann ich ganz gut auf mich allein aufpassen. Ich bin nämlich schon groß, weißt du?“ versuche ich jetzt endgültig von hier wegzukommen. „Das hat auch niemand angezweifelt. Und ich werde dich trotzdem nicht allein gehen lassen“ beharrt Bill. Okay. Gut. Soll er doch hinter mir her dackeln, die Welt steht ja jedem offen. Und ich bin jetzt absolut nicht in der Stimmung, mich aufzuregen. Also marschiere ich einfach los, nicht ohne Bill vorher noch einen vernichtenden Blick zu schenken. Er soll bloß nicht glauben, dass ich auch nur ein Wort mit ihm wechseln werde.
Irgendwann laufen wir schweigend nebeneinander her, denn ich kann machen, was ich will, meine Schritte beschleunigen oder verlangsamen, er läuft wie festgewachsen neben mir her. Aber wenigstens labert er mich nicht voll und ich bin insgeheim sogar ein bisschen froh, dass ich nicht allein durch die stockfinsteren Straßen rennen muss.
Soweit, so gut. Und trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich schon wieder über ihn nachdenke. Es ist einfach zum verrückt werden. Immer wieder werfe ich ihm unauffällige Seitenblicke zu und schließlich halte ich es nicht mehr aus. „Warum machst du das? Was erhoffst du dir davon?“ platze ich heraus und ernte einen überraschten Blick von Bill. Aber er hat sich innerhalb von Sekunden wieder gefangen. „Oh, lass mich mal überlegen, da gibt es schon so einiges...“ Ich schnaube empört. „Was hast du für ein Problem?“ will er daraufhin wissen. „Ich kann mir schon denken, worauf du wieder hinauswillst“ sage ich ungehalten. Bill bleibt stehen und schon allein für das amüsierte Funkeln in seinen Augen hätte er Schläge verdient. „Worauf genau will ich denn hinaus?“ reizt er mich weiter. Ich gebe ihm keine Antwort, wahrscheinlich würde ich ihn dann anschreien und damit hat er mich dann wieder da wo er möchte. Oder so.
Nach endlosen Sekunden, die mir eher wie Stunden vorkommen, setzt er sich einfach wieder in Bewegung, ohne noch mal nachzuhaken. Das regt mich jetzt irgendwie schon wieder ungemein auf. „Warum verschwindest du nicht einfach aus meinem Leben?“ wünsche ich mir so leise, dass er mich unmöglich verstanden haben kann. Um so erschrockener registriere ich im nächsten Augenblick, dass Bill sich einfach vor mich hingestellt hat, so dass ich ihn fast umrenne. „Jetzt hörst zu mir mal zu. Was kann ich dafür, dass du bei allem, aber auch wirklich allem was ich sage immer gleich was obszönes denkst? Wer von uns beiden ist dann wohl durchtrieben?“ Die letzten Worte hat er mit so rauer Stimme gesagt, dass mir ein Schauer den Rücken hinunter jagt. Scheiße. Und warum steht er schon wieder so nah vor mir? Und warum riecht er so gut? Und was redet er da eigentlich? Ich bin verwirrt.
„Aber du provozierst das ständig. Und du gehst mir langsam auf die Nerven!“ So. Das hat mich jetzt fast den letzten Funken an Kraft gekostet, den ich noch übrig hatte. Und ich konnte mich sogar von seinen Augen losreißen. „Gut. Dann bin ich auch schon verschwunden“ sagt Bill unbeeindruckt von meinem Gefühlsausbruch, dreht sich um und läuft davon. Langsam kriecht die Panik in mir hoch. Hier ist es verdammt noch mal dunkel! „Bill!“ rufe ich verzweifelt hinter ihm her und ärgere mich gleichzeitig über mich selbst. Wo ist bloß meine Selbstachtung abgeblieben? Ich muss sie irgendwo unterwegs verloren haben. „Ja, so heiß ich“ kommt es aus der Dunkelheit und ich weiß, dass er stehen geblieben ist. „Jetzt bring mich schon nach Hause verdammte Scheiße“ fluche ich unbeherrscht. Ich höre ihn lachen und eine Sekunde später steht er wieder neben mir. „Hast du etwa Angst?“ fragt er grinsend. „Nein“ knurre ich und laufe einfach weiter.
Den Rest des Weges herrscht Stille. Keine Provokationen, keine Ironie, kein dämliches Grinsen kommt von Bill. Er wird mich noch wahnsinnig machen die nächsten Wochen, ich ahne so was. Nun gut. Wir stehen endlich vor meiner Haustür und ich weiß nicht, wie ich mich jetzt verabschieden soll. Eigentlich ist es ja schon ganz nett von ihm, mich nach Hause zu bringen, nachdem mein herzallerliebster Freund nichts besseres zu tun hatte als einfach abzuhauen. „Danke“ nuschele ich deshalb leise, auch wenn es mich Überwindung kostet, das jetzt zu sagen. „Gern geschehen“ flötet Bill, als wären wir gute Freunde oder so was. Irgendwie ist er heute komisch. Soweit ich das beurteilen kann. „Na dann“ bringe ich abgehackt hervor und stecke den Schlüssel ins Schloss. „Schlaf gut Shirin. Ich melde mich“ verabschiedet sich Bill und ich kann ein genervtes „Wie toll“ nicht unterdrücken. Er lacht. Und plötzlich schießt mir etwas in den Kopf. „Sag mal Bill, wie hast du das eigentlich gemeint, ihr lasst immer die Frau entscheiden?“ will ich wissen und versuche jede Regung in seinem Gesicht einzufangen und jede Regung in MEINEM Gesicht zu vermeiden. Er hat nicht mit meiner Frage gerechnet, das kann ich ihm ansehen. Aber wie immer hat er sich schnell wieder im Griff. „Was gibt`s daran nicht zu verstehen? Es ist ein offenes Geheimnis, dass Tom und ich meistens auf dieselben Frauen abfahren... und wir haben diese Regelung mal vor vielen Jahren abgemacht - als noch alles anders war“ erwidert er jetzt und am Ende des Satzes hat er wehmütig geklungen. Hm.
„Aha“ mache ich sehr souverän. „Ich geh jetzt. Aber Shirin, nicht immer ist alles so, wie es scheint. Vielleicht solltest du mal drüber nachdenken“ gibt Bill mir mit auf den Weg, bevor ich endgültig die Tür hinter mir schließen kann. Jetzt hat er mich völlig durcheinander gebracht.
Ich brauche einige Minuten, bis ich wieder klar denken kann. Ob Tom wohl zu Hause ist? Und was mache ich dann? Ich kann keine vernünftigen Antworten auf diese Fragen finden und so beschließe ich, erst mal hochzugehen. In der Wohnung ist alles dunkel. Tom ist nicht im Wohnzimmer und nicht in der Küche. Langsam schiebe ich die Schlafzimmertür auf und überlege, ob ich einfach meine Decke hole und auf der Couch schlafe... Ich weiß es nicht. Tom regt mich einfach nur auf und sein Bruder macht das Ganze nicht besser, eher im Gegenteil. Und dann die Sache mit Eva... seine Lügerei.... ich merke, wie ich schon wieder kurz vorm Überschäumen bin.
Vorsichtig taste ich mich vor bis zum Bett und schließlich liege ich auf meiner Seite, ohne darüber nachgedacht zu haben. Tom ist da. Ich kann ihn nicht sehen, aber ich höre ihn atmen. Ob er noch wach ist? Soll ich einfach liegen bleiben? So komisch habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Doch die Entscheidung wird mir letztendlich abgenommen. Plötzlich ist da seine Hand auf meiner und ich kann einfach nicht anders, ich muss sie drücken. Denn obwohl ich so unglaublich wütend auf ihn bin, dass ich ihn mit bloßen Händen erwürgen könnte, ist es doch herzerwärmend, ihn hier neben mir zu wissen. Irgendwie braucht er mich doch. Irgendwie brauche ich ihn doch auch. Und irgendwie brauchen wir uns beide.
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21.
Ich werde wach, weil mich das Sonnenlicht blendet. Ist es tatsächlich schon Morgen? Verwirrt werfe ich einen Blick auf meine Uhr. Es ist sogar schon fast Mittag. Das gibt`s doch gar nicht. Ich hatte mich doch gerade erst zu Tom gelegt... bin ich einfach so eingeschlafen? Mit der Illusion, alles wäre wieder gut, wenn wir händchenhaltend einschlafen? Oder hab ich am Ende alles nur geträumt? Auf einen Schlag bin ich hellwach und schon klebt mein Blick auf der Seite neben mir im Bett. Auf der leeren Seite.
Tom ist nicht da. Jetzt bin ich endgültig durcheinander. Ruck zuck sitze ich im Bett und dann tapere ich immer noch schlaftrunken ins Bad. Eiskaltes Wasser wird mir jetzt sicherlich gut tun.
In meinem Kopf rotiert alles. Aber nein, ich habe nicht geträumt. Bill fällt mir wieder ein, und dann bin ich zu Hause gewesen. Ich hatte definitiv nichts getrunken und ich habe auch nicht geträumt. Tom war da. Aber wo ist er jetzt? Auf der Suche nach irgendeinem Zeichen wandere ich durch die Wohnung. Und werde sogar fündig. In der Küche liegt ein Zettel.
„Bin Frühstück holen. Du hast so süß geschlafen, ich wollte dich nicht wecken. Ich weiß, dass wir reden müssen. Tom“ steht da in seiner unordentlichen Handschrift, bei der ich normalerweise immer lächeln muss. Heute nicht. Heute werde ich von einem komischen Gefühl beschlichen und dann wird mir klar, was es ist: Misstrauen. Mein Vertrauen hat wirklich einen Knacks bekommen. Und jetzt fällt mir noch etwas ein: Tom hat überhaupt kein Geld, um Frühstück zu kaufen...
Ich muss mich dringend ablenken. Duschen. Staubsaugen. Kaffee kochen. Fernsehen. All diese Dinge mache ich hektisch und schnell hintereinander, damit ich bloß nicht zum nachdenken komme. Doch letztendlich starre ich blicklos in den Fernseher und tue doch genau das: Nachdenken. Wo steckt er nur? Warum ist er nicht einfach hier geblieben und redet mit mir? Ich verstehe ihn einfach nicht mehr.
„Shirin“ murmelt es plötzlich hinter mir und ich werfe vor Schreck meine Kaffeetasse um. Ein brauner Fleck breitet sich schnell auf dem Tisch aus, aber ich bin nicht fähig, mich zu bewegen. Seit ein paar Tagen bin ich wirklich das reinste Nervenbündel. „Shirin!“ sagt Tom noch einmal und zieht mich vom Sofa hoch, so dass ich ihn ansehen muss. „Wo warst du denn?“ will ich mit zittriger Stimme wissen. „Hast du meinen Zettel nicht gefunden? Warte mal kurz“ bemerkt er mit einem Blick auf den Kaffeefleck und wuselt in die Küche. Sekunden später steht er mit einem Lappen vor mir und wischt meinen verschütteten Kaffee auf. Ich bin immer noch wie gelähmt. Keinen Muskel kann ich rühren. Wie erstarrt verfolge ich Toms Tätigkeit.
„Shirin, geht’s dir nicht gut? Du bist ganz blass“ meint er zu mir, als er den Lappen wieder zurück in die Küche gebracht hat. „Wo ist das Frühstück?“ frage ich monoton. „Brötchen liegen in der Küche. Hast du Hunger?“ Tom sieht mich besorgt an. „Nein. Woher hattest du das Geld dafür Tom?“ Er senkt den Blick und der Raum füllt sich mit Schweigen. „Woher hattest du das Geld Tom?“ wiederhole ich, er muss mir doch eine Antwort geben. „Das Geld war von gestern Abend“ sagt Tom leise. „Sehr präzise. Geht’s vielleicht noch ungenauer?“ blaffe ich ihn an und durchbohre ihn mit meinem Blick. „Meine Güte. Du warst ja beschäftigt, also hab ich mir eben auch Beschäftigung gesucht. Hat Bill dir das nicht erzählt, nein?“ Sein Blick wechselt von besorgt zu wütend. „Ich verstehe hier grade mal wieder gar nichts. Was soll Bill mir denn erzählt haben?“ Ich bin schon wieder kurz vorm Kollaps. „Shirin, mir war zum sterben langweilig. Ich bin doch völlig überflüssig, wenn Bill dabei ist. Und außerdem wusste ich ja, dass wir keine Kohle mehr haben. Also hab ich mir ne olle Tussi gesucht“ klärt Tom mich jetzt freundlicherweise mal auf. „Ganz alleine?“ frage ich argwöhnisch. „Ja, stell dir vor, der kleine Tom packt`s auch allein, wenn`s sein muss“ sagt er sarkastisch. „Und was hat Bill jetzt damit zu tun?“ frage ich weiter, denn den Zusammenhang hab ich immer noch nicht begriffen. „Er hat mich erwischt, na ja mehr oder weniger. Auf jeden Fall hat er es gewusst. Und ich hab ihm gesagt, dass ich schon mal nach Hause gehe“ erwidert Tom. „Ja, das hat er mir erzählt“ flüstere ich schon fast. „Aber warum hast du mir das nicht selbst gesagt?“ will ich fast verzweifelt wissen. „Fräulein „Mit-Bill-kann-ich-ja-alles-besser“ war ja beschäftigt“ erwidert Tom großspurig. „Du weißt, dass das nicht stimmt“ protestiere ich energisch.
„Tom, wir müssen uns dringend über ein paar Dinge unterhalten“ füge ich dann noch hinzu und merke selber, wie brüchig meine Stimme klingt. Verdammt noch mal, ich will nicht schwach sein. Und trotzdem wird mir jetzt schwindlig und schwarz vor Augen. Nur mit Mühe kann ich mich an der Sofalehne festhalten. „Shirin!“ Ich höre Toms Stimme wie von weit her. Er drückt mich mit sanfter Gewalt zurück auf die Couch und legt meine Beine über die Lehne, so dass wieder Blut in meinen Kopf fließen kann. Schon besser. Langsam werde ich wieder etwas klarer. Wobei die Situation immer noch mehr als unklar für mich ist.
„Tom, wir...“ setze ich wieder an, aber er lässt mich nicht aussprechen. „... müssen reden. Ja, Shirin, ich weiß das. Aber nicht jetzt. Ich hätte das eben nicht sagen sollen. Du ruhst dich jetzt aus. Sonst bekommst du noch einen Nervenzusammenbruch oder so was“ beendet er meinen Satz. „So ein Blödsinn“ widerspreche ich, aber es hört sich nicht wirklich überzeugend an. Trotzdem bin ich von einem Nervenzusammenbruch meilenweit entfernt. „Ich mach jetzt Frühstück, du musst unbedingt was essen. Und heute Abend werd ich dich zwei Stunden allein lassen“ meint Tom und will aufstehen, doch ich halte ihn am Arm zurück. „Wieso? Wo willst du denn schon wieder hin?“
Oh Gott, ich muss mich zusammenreißen. Ich klinge schon fast hysterisch. „Geld besorgen“ antwortet Tom knapp und mir bleibt der Mund offen stehen. Mein Blick muss wohl Bände sprechen, denn er redet von selber weiter, ohne dass ich ihn löchern muss.
„Ich war eben nicht nur Brötchen holen“ sagt er ohne Umschweife, er wird nicht mal verlegen oder dergleichen. „Was?“ hake ich nach. „Gott Shirin, weißt du, was das für ne Belastung für mich ist im Moment?“ versucht er sich zu verteidigen, aber mir platzt jetzt endgültig der Kragen. „Und dann hast du nichts besseres zu tun, als ins nächstbeste Spielcafé zu rennen?“ fahre ich ihn an und kann es immer noch nicht glauben. „Und das nach gestern Abend“ nuschele ich mehr zu mir selbst als zu Tom.
„Was meinst du damit?“ fragt Tom und sieht mich alarmiert an. „Nichts“ rutscht mir raus, ich hab mal wieder geredet ohne nachzudenken. „Sag nicht „nichts“ zu mir, sonst raste ich aus!“ Tom springt von der Couch hoch und rudert aufgebracht mit seinen Händen in der Luft herum.
„Soll das ne Drohung sein Tom?“ Ich schenke ihm einen vernichtenden Blick und stehe ebenfalls auf. Das kann ich echt nicht glauben. Er baut Mist und brüllt mich dann auch noch an. „Natürlich nicht. Aber wenn du „nichts“ sagst, steckt immer was dahinter“ antwortet er schon wesentlich ruhiger. Doch dafür bin ich jetzt in Rage. „Ich hab halt einfach geglaubt, wir hätten uns gestern Abend auch ohne Worte verstanden, aber anscheinend hab ich mich getäuscht“ brause ich auf. „Ich hab gedacht, wir brauchen uns gegenseitig“ füge ich noch etwas leiser hinzu. „Shirin, ich weiß nicht, was wir brauchen. Ich weiß nur, was wir definitiv NICHT brauchen“ faucht Tom und ich weiß, dass er wieder auf Bill anspielt. Aber eben dieser ist gestern mal ausnahmsweise nett zu mir gewesen. „Ja, der böse Bill, genau. Er hat mich nicht mitten in der Nacht alleine stehen lassen!“ Ich hab keine Ahnung, warum ich ihn jetzt verteidige. „Der ist doch glücklich, wenn er sich als Retter aufspielen kann... aber wenn du drauf stehst...“ spuckt Tom mir vor die Füße. „Jetzt wirst du ungerecht“ ist alles, was mir dazu noch einfällt. „Weißt du was Herzchen? Das ist mir grade scheißegal!“ schreit Tom mich an und dann höre ich nur noch die Wohnungstür knallen.
22.
Heulend sitze ich in der Küche. Davon wird’s zwar auch nicht besser, aber es hilft wenigstens ein bisschen. Wenn jetzt eine gute Fee vorbeikommen würde und ich hätte einen Wunsch frei, würde ich die Zeit einfach ein paar Tage zurückdrehen lassen und dann hätte nicht Gustav an der Bar gesessen, sondern irgendein anderer Hampelmann.
`Aber dann hättest du nie erfahren, dass Tom dich belogen hat` dröhnt eine Stimme in meinem Kopf. Na und? Das wäre doch besser für mich gewesen...
`Aber du hättest auch nie erfahren, dass Tom einen Bruder hat!` Wieder diese Stimme. Ist mir doch egal, ob er einen Bruder hat...
`Aber...` geht es schon wieder los, doch die Türklingel reißt mich Gott sei Dank aus meinen kranken Gedanken. Wahrscheinlich drifte ich wirklich gerade in eine andere Welt ab.
Mühsam rappele ich mich auf und schlurfe zur Tür. Mit einer schnellen Handbewegung wische ich die Tränen beiseite, bevor ich sie öffne. Ein fremder Mann steht davor. „Wohnt hier ein Tom Kaulitz?“ fragt er unfreundlich und mustert mich von oben bis unten. „Wer will das wissen?“ stelle ich als Gegenfrage. Und im Mustern bin ich genau so gut. „Geben Sie ihm das“ sagt der Typ ungerührt und drückt mir einen weißen Umschlag in die Hand. Hö? Der sieht jetzt nicht wirklich aus wie der Postbote. „Was soll das? Wer sind Sie überhaupt?“ rufe ich ihm hinterher, aber er läuft schon die Treppen nach unten. Kopfschüttelnd lasse ich die Tür wieder hinter mir ins Schloss fallen und beäuge kritisch, was ich da in der Hand halte. Kein Absender. Aber auch keine Adresse. Hm. Soll ich? Ich kann ja immer noch sagen... ja was eigentlich? Ich ringe nicht lange mit mir. Ehrlich gesagt ist mir das jetzt im Augenblick auch ziemlich wurscht. Ich bin mehr als wütend auf Tom und neugierig bin ich ja schon mal gar nicht... Entschlossen reiße ich den Umschlag auf und falte kurz darauf ein kleines weißes Blatt auseinander.
„Hallo Tom,“ steht da in einer feinsäuberlichen Handschrift. „ich denke, du erkennst meine Schrift wieder? Jedenfalls solltest du das, denn ich weiß Bescheid. Ich weiß, was du und deine kleine Freundin treiben. Lass dich nicht dabei erwischen... Kuss“
Moment mal. Kuss? Wer zum Teufel ist das? Ich frage mich in diesem Moment ernsthaft, ob es noch mehr Verwirrung in meinem Leben geben kann.
Es kann, wie ich Sekunden später feststelle. Es klingelt nämlich schon wieder an der Tür. Ich schmeiße den Brief gedankenverloren auf die Kommode im Flur. Wenn das jetzt wieder so ein merkwürdiger Typ ist, der mir nicht mal meine berechtigten Fragen beantwortet, dann... schon starre ich in Gustavs Gesicht. Reflexartig gebe ich der Tür einen Schubs, aber es ist schon zu spät. Er hat bereits seinen Fuß dazwischen geklemmt. „Was wird das denn, wenn’s fertig ist?“ fahre ich ihn ungehalten an. „Was willst du schon wieder von mir?“ Ich muss erst mal Luft holen, ich stelle eindeutig zu viele Fragen in zu kurzer Zeit heute. „Liebste Shirin, ich wollte nur eben fragen, ob Bill hier ist?“ Wenn Gustav seine Tonlage noch ein klein wenig nach oben schraubt, werde ich rote Herzchen um sein Gesicht tanzen sehen. „Warum sollte er?“ stelle ich meine nächste Frage, bin wild entschlossen, mich jetzt nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Na ich dachte nur... ich bin eben erst nach Hause gekommen...“ hier macht er eine theatralische Pause und grinst schief, „... und Bill ist nicht da“ schließt er dann seinen Monolog. „Und wie kommst du auf die absurde Idee, er könnte hier sein?“ Wobei, bei näherer Betrachtung ist diese Idee gar nicht sooo absurd. „Also nein“ sagt Gustav resigniert. „Ja, nein“ bestätige ich. „Wie jetzt: Ja oder Nein? Kleine, ich hab nen Kater, du darfst mich nicht so verwirren“ schimpft er mit mir. „Gustav, du nervst. Du nervst noch mehr als Bill. Er ist nicht hier okay? Würdest du mich jetzt einfach in Ruhe lassen? Und ich sag es auch dir gern noch mal, Bill hat es anscheinend ja endlich begriffen: Nenn mich nicht Kleine!“ Puhh. Atmen nicht vergessen.
Gustav guckt jetzt wirklich irritiert aus der Wäsche. „Das war mir zu viel Input jetzt am frühen Morgen“ mault er als Antwort. „Früher Morgen? Mensch Gustav... wenn du versprichst, nicht wieder einen deiner fiesen Anfälle zu kriegen, koch ich dir jetzt nen Kaffee“ biete ich todesmutig an. Woher ich diesen Mut nehme, weiß ich auch nicht. Letztendlich will ich wahrscheinlich nur nicht allein sein.
„Das ist nett – und ja, ich versprech`s dir“ nuschelt Gustav, der wohl immer noch nicht ganz klar im Kopf ist. „Aber Bill ist wirklich nicht hier?“ will er dann noch einmal wissen. „Doch sicher, ich hab ihn unterm Bett versteckt“ sage ich ironisch und muss bei Gustavs Gesichtsausdruck sogar leicht lächeln. „Sag mal, wie viel hast du denn getrunken gestern?“ Er winkt nur ab.
Ich bin viel zu freundlich, fällt mir gerade so auf. Aber eigentlich war Gustav ja wirklich immer nett – bis er durchgedreht ist... oder bis er sein wahres Gesicht gezeigt hat? Ach egal, Hauptsache ich muss nicht alleine heulend in meiner Küche sitzen. Und ich muss nicht über diesen mysteriösen Brief nachdenken.
„Hast du geweint?“ reißt Gustav mich aus meinen Gedanken. „Quatsch“ wehre ich ab, viel zu schnell. Er runzelt die Stirn, sagt aber nichts mehr dazu. Mit einem undefinierbaren Gefühl gebe ich die Tür frei und Gustav stapft wie selbstverständlich in die Küche. Dort lässt er sich schwerfällig auf den nächstbesten Stuhl fallen. „Wo ist denn dein Göttergatte?“ will er wissen. „Unterwegs“ erwidere ich knapp, während ich haufenweise Kaffee in die Maschine schaufele. Das mit dem Göttergatten lasse ich jetzt mal so stehen, man muss sich ja nicht an jeder Kleinigkeit hochziehen...
Gustav gibt sich mit meiner Antwort zufrieden und schließlich sitzen wir uns schweigend bei einer Tasse Kaffee gegenüber. Eigentlich hatte ich schon genug Kaffee heute, wobei ich die Hälfte ja über unseren Tisch verschüttet habe.
Wo Tom wohl jetzt ist? Ich will mich nicht ständig mit ihm streiten. Aber wenn ich an diesen Brief denke, ist der nächste Streit wohl schon vorprogrammiert.
„Shirin?“ Erstaunt blicke ich Gustav an. “Hast du mir zugehört?” Energisch schüttele ich den Kopf. „Ich hab gesagt, vielleicht ist es besser, wenn du das nächste Mal mit Bill allein gehst“ sagt Gustav und sieht mir eindringlich in die Augen. „Warum?“ frage ich blöd. „Weil ich die nächsten Tage beschäftigt bin und Tom und Bill zusammen kann ja kein Mensch ertragen“ fährt Gustav fort. Ah. Sehr logisch, das Ganze. „Was machst du denn?“ Die Neugier hat mal wieder gesiegt. „Ich bin geschäftlich unterwegs“ meint Gustav vage. Toll. „Und Bill? Ist der vielleicht auch mal ein paar Tage `geschäftlich` unterwegs und lässt mich ausnahmsweise in Ruhe?“ Gustav lacht über meine dämliche Frage. „Sicher nicht, da kann ich dich beruhigen“ grinst er . Als ob mich das beruhigen würde. „Ich werd dann mal so langsam verschwinden. Danke für den Kaffee. Und Bill treibe ich schon irgendwo auf“ sagt Gustav und erhebt sich. Also von mir aus könnte der auch in der Versenkung verschwinden... Aber mich fragt ja niemand.
„Das nächste Mal mache ich einfach nicht auf, wenn’s wieder klingelt“ nuschele ich leise, als ich Gustav in den Flur bringe. „Na na, ich hab dir ja gar nichts getan. Oder?“ Unwillkürlich muss ich grinsen, so grotesk das alles hier auch sein mag. „Trotzdem ist hier heute nicht Tag der offenen Tür“ meine ich mit einer Mischung aus Resignation und Belustigung in der Stimme. Gleichzeitig reiße ich schwungvoll die Tür auf – und werde von Bills braunen Augen fixiert. „Ach Bill, da bist du ja, ich hab dich schon gesucht“ freut sich Gustav und fällt Bill um den Hals. Okay. Das muss der Restalkohol sein. Gustav sollte eindeutig weniger trinken. „Nun mach mal halblang“ sagt Bill und schiebt ihn mit einiger Anstrengung zur Seite. „Was tust du hier?“ will er dann wissen. „Dich suchen“ antwortet Gustav unschuldig. „Hier?“ Bill zieht eine Augenbraue nach oben. „Als ob das so abwegig wäre“ grinst Gustav. Bill sagt gar nichts mehr. Was will der eigentlich schon wieder?

23.
Die ganze Zeit hab ich mir dieses faszinierende Schauspiel zwischen den beiden angesehen. Jetzt will ich mich auch endlich einmischen. „Sagt mal, habt ihr euch alle abgesprochen mir heute auf die Nerven zu gehen?“ werfe ich in die Runde. Bill wendet mir seine Aufmerksamkeit zu. Der Blick ist ja mal ganz was Neues, den kenn ich noch nicht. Gustav anscheinend um so besser. „Ich geh schon mal nach Hause, aber bevor ich heute Abend weg bin, muss ich mit dir sprechen!“ beeilt er sich Richtung Bill zu sagen. Der nickt stumm. Und schon ist Gustav weg. Langsam bekomme ich Angst.
„Was soll das?“ frage ich, nur um überhaupt irgendwas zu sagen. „Ist Tom da?“ „Nein. Dann kannst du ja wieder gehen“ stelle ich hoffnungsvoll fest. „Ich wollte aber zu dir“ zerstört Bill meine Illusion sofort wieder. „Und was willst du von mir?“ Ich werde ihm jetzt einfach so lange blöde Fragen stellen, bis er freiwillig das Feld räumt. „Hast du geweint?“ Boing. Damit hat er mich mal wieder völlig aus dem Konzept gebracht. „Nein“ sage ich wenig überzeugend. „Doch, hast du. Warum?“ löchert Bill mich weiter. „Wegen Tom“ gebe ich zu und starre angestrengt auf den Fußboden. Nur nicht in Bills Augen sehen, irgendwie wäre das gerade fatal fürchte ich. „Was hat er gemacht?“ Langsam wird’s aber ätzend jetzt. Haben wir die Rollen getauscht? Wollte ich nicht diejenige sein mit den Fragen? Und ich merke schon, wie sich wieder ein Kloß in meinem Hals bildet. Kann er sich nicht einfach in Luft auflösen? Also Bill natürlich. Und der Kloß auch.
Gut. Angriff jetzt. Meistens geht so was bei mir ja nach hinten los... also Angriff.
„Bist du nur gekommen um mir dämliche Fragen zu stellen?“ motze ich also los und werde von seiner folgenden Reaktion völlig überrumpelt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen macht er einen Schritt auf mich zu, hebt mit dem Zeigefinger mein Kinn an, so dass ich ihm in die Augen sehen muss. Hab ich nicht gerade noch festgestellt, dass das ziemlich fatal heute wäre? Nun gut. Also Augen auf und durch. Heißt das nicht Augen zu und durch? Irgendwas benebelt schon wieder meinen Kopf. Bills Atem auf meinen Wangen? Bills Geruch, der unaufhörlich auf mich einströmt? Ehe ich mich entscheiden kann, flüstert er mir ins Ohr:
„Gekommen bin ich heute noch gar nicht. Aber daran kann man ja arbeiten...“
Ich reiße die Augen auf und das Glitzern in den seinen ist nicht zu übersehen. Plötzlich ist sein Mund gefährlich nah an meinem. „Sag mal spinnst du?“ Letzter verzweifelter Versuch, mich zu retten. Bill stockt einen Moment. Und ich nutze die Gunst der Stunde und schiebe ihn beiseite. „Willst du einen Kaffee?“ stammele ich leise und ignorierte hartnäckig mein Herzrasen und die Gänsehaut, die sich auf meinem Körper ausgebreitet hat. Aber was zum Teufel brabbele ich eigentlich schon wieder? Eine noch sinnlosere Frage ist mir wohl nicht eingefallen. Doch wieder einmal überrascht mich Bill.
„Gern“ sagt er und mustert mich grinsend. Ich merke, wie ich rot werde. Das darf einfach alles nicht wahr sein. „Gut“ nuschele ich und flüchte in die Küche. In die mir Bill prompt folgt. Kaffee ist ja noch da, also krame ich zwei Tassen aus dem Schrank und gieße ein. Meine Hände zittern. Aber nur ein wenig. Warum hab ich ihm Kaffee angeboten? Ist das jetzt das neue Rezept für alle Lebenslagen?
„Zucker?“ will ich wissen, ohne ihn anzusehen. „Nein.“ „Milch?“ „Nein.“ „Schwarz.“ „Schwarz.“ „Fein.“ „Fein.“ Wow. Wir sind die Meister der Einwortsätze, wie mir scheint. „Danke“ schiebt Bill noch hinterher, als ich ihm die Tasse reiche und ich verkneife mir nur mit Mühe ein „Bitte“.
Tieeef durchatmen. Gaaaaanz ruhig bleiben. Okay. Und noch mal alles auf Anfang.
Stille. Bill rührt in seiner Kaffeetasse, in der es eigentlich nichts zu rühren gibt. Und ich zähle die Flecken an der Wand. Diese existieren reichlich, weil wir kein Geld fürs Renovieren haben. Zwischendurch werfe ich immer mal wieder einen unsicheren Blick auf Bill. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich kann es einfach nicht leiden, wenn er hierher kommt und mich anschweigt. „Warum bist du... ähm, hier Bill?“ Scheiße. Fast hätte ich wieder dieses Wort gesagt. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass wir beide heute Abend allein gehen“ erwidert er und irgendwie kommt es kälter bei mir an, als er es ausgesprochen hat. „Wie schön, dass du mich vorwarnst. Ich nehme an, protestieren hat keinen Sinn?“ Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. „Na ja... du kannst es ja versuchen... nein im Ernst, Gustav ist ein paar Tage nicht da und mit Tom allein hat es keinen Sinn.“ Das sehe ich sogar ein. Wir würden uns wahrscheinlich gegenseitig umbringen oder so.
Wieder breitet sich Stille aus. Seine Anwesenheit macht mich nervös. Ich will das nicht. Und wenn ich dann auch noch heute Abend allein mit ihm bin... lieber nicht dran denken.
Bill macht gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, als sich der Schlüssel in der Tür dreht. Keine Sekunde später steht Tom im Flur. Er sieht in die Küche, in seinem Blick flackert Erkennen auf, und sofort danach verdüstert sich seine Miene schlagartig. „Bill?“ Tom ist wütend, das kann ich sehen und hören. “Ja” sagt Bill ungerührt. „Was tust du da?“ fragt Tom weiter. „Kaffee trinken“ antwortet Bill mit einer unglaublichen Ruhe. „Sag mal Shirin, drehst du jetzt durch? Hast du nichts besseres zu tun als mit meinem Bruder hier ein Kaffeekränzchen zu veranstalten?“ geht Tom jetzt auf mich los. Ich kann seinem Blick nicht standhalten. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, obwohl ich überhaupt nichts getan habe. „Ich geh wohl besser. Bis heute Abend“ sagt Bill zu mir und steht auf. Unter den mordlustigen Blicken von Tom verschwindet er schließlich aus der Wohnung. „Was hast du dir dabei gedacht?“ fährt Tom mich an. Mehr als ein Schulterzucken bringe ich nicht zustande. Was soll ich auch sagen? Bill wollte mich küssen und ich hatte daraufhin die glorreiche Idee, ihm einen Kaffee anzubieten? Wohl kaum.
Immerhin hat Bill sich blöde Sprüche gegenüber Tom verkniffen. Das ist doch auch schon mal was.
Und dann ist da plötzlich wieder dieser dicke Kloß in meinem Hals, der einfach nicht weggehen will. Ich kann nichts dagegen machen, dass mir die Tränen über die Wangen laufen und mein Körper unkontrolliert anfängt zu zittern. Schluchzend vergrabe ich das Gesicht in meinen Händen. „Shirin!“ Plötzlich ist Toms Stimme ganz nah und gar nicht mehr so laut wie eben.
“Bitte nicht weinen” fordert er sanft und zieht mir die Hände vom Gesicht weg. „Tom... ich...“ „Schon gut“ beruhigt er mich und Sekunden später finde ich mich in seiner Umarmung wieder. „Wir schaffen das schon alles irgendwie“ murmelt er in mein Haar. „Aber bis dahin bin ich durchgedreht“ schluchze ich. „Shirin, wir hatten es ohne das alles hier schon schwer. Und ich bin ein Idiot. Aber wir müssen zusammenhalten, sonst wird es noch viel schlimmer“ redet er auf mich ein. Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. In meinem Kopf herrscht ein einziges Chaos. Aber ich liebe Tom. Ich liebe ihn trotz allem was passiert ist und was vielleicht noch passieren wird. Und jetzt im Augenblick ist nur das wichtig. Ohne darüber nachzudenken drücke ich meine Lippen auf seine und Tom entfährt ein überraschter Laut. Doch er wäre nicht Tom, wenn ihn so etwas ernsthaft aus der Fassung bringen würde. Ich spüre, wie er sich gegen mich lehnt und den Druck verstärkt. Gott, wie hab ich das vermisst...
Eine kleine Ewigkeit stehen wir da, halten uns fest und küssen uns. Für mich ist die Zeit stehen geblieben. Doch schließlich löst er sich von mir und haucht mir ein „Ich bin sofort wieder da“ zu. Ich nicke und sehe ihm hinterher, wie er im Flur verschwindet. Vielleicht kommt ja doch alles wieder in Ordnung.
Sekundenbruchteile später höre ich ein entsetztes „Oh mein Gott“ aus dem Flur. Erschrocken hechte ich hinterher. Tom steht da und hält den Brief in der einen Hand, die andere hat er vor den Mund geschlagen. Sein Gesicht ist schneeweiß geworden.
24.
"Wer hat das geschrieben Tom?" Die Frage kommt lauter aus meinem Mund als ich geplant hatte und Tom schaut erschrocken auf. Einen kurzen Moment starrt er mich nur an, dann lässt er langsam seine Hand sinken und ich kann sehen, wie sehr er sich bemüht, ruhig zu bleiben. "Woher kommt das?" übergeht Tom dann meine Frage und schaut mich dabei an, als hätte ich diesen absurden Brief geschrieben. "Keine Ahnung, da hat so ein komischer Typ geklingelt und mir den Umschlag in die Hand gedrückt" plappere ich einfach drauflos in der Hoffnung, er wird mir meine eben gestellte Frage jetzt beantworten. "Das gibts doch einfach gar nicht" flippt er statt dessen aus und beginnt im Flur hin und her zu rennen. "Tom!" versuche ich mich nach einer Weile bemerkbar zu machen, aber er beachtet mich gar nicht. "TOM! Wer hat das geschrieben?" Etwas mehr Nachdruck und Festhalten am Ärmel lassen ihn endlich stehen bleiben. "Eva" bekomme ich die knappe Antwort, die ich mir eigentlich hätte selber geben können. Eva. Als ob wir noch nicht genug Probleme haben. "Eva" wiederhole ich, als würde es etwas an der Tatsache ändern, dass wir anscheinend nicht nur von Gustav und Bill behelligt werden, nein nun kommt noch eine verrückte Ex-Freundin dazu. Herzlichen Glückwunsch.
"Und was willst du jetzt machen?" will ich von Tom wissen, der sein Rumgetigere wieder aufgenommen hat. "Mich an den nächsten Baum hängen" nuschelt er mir entgegen und verschwindet im Wohnzimmer. "Nimmst du mich mit?" frage ich hoffnungsvoll, als ich ihn auf der Couch sitzend gestellt habe. "Shirin, das ist nicht lustig!" schimpft Tom und blickt mich böse an. "Find ich auch nicht" stelle ich fest und lasse mich mit geschlossenen Augen laut seufzend gegen seine Brust sinken. Zum Weinen hab ich heute keine Kraft mehr. "Ich geh nachher mit Bill allein" sage ich kurze Zeit später völlig zusammenhanglos. "Wie schön. Und wessen grandiose Idee war das?" motzt Tom los und schiebt mich von sich runter. "Na seine" beeile ich mich zu sagen. "Shirin, mach einfach, was du willst. Ich muss mich um wichtigere Dinge kümmern" entgegnet Tom scharf und ich zucke bei seinem Ton merklich zusammen. "Mein Gott, ich kann ja auch nichts dafür, dass du einen verrückten Bruder und jetzt auch noch diese bekloppte Tusse hast!" Hui. Jetzt ist mir aber mal die Stimme etwas durchgegangen. Eigentlich macht mir dieser Brief ziemliche Angst, aber ich werde das nie und nimmer zugeben. Und warum ich angefangen habe, von Bill zu quatschen ist mir schleierhaft.
Tom runzelt die Stirn und wendet dann seinen Blick von mir ab. Wahrscheinlich hält er mich langsam für etwas irre. Wobei man bei diesem Chaos ja auch verrückt werden muss. Das ist ganz normal. "Lass mich in Ruhe nachdenken" unterbricht Tom meine Gedankengänge. "Was?" Fragend sehe ich ihn an. Tom hat eine Augenbraue hochgezogen und sieht damit seinem Zwilling verdammt ähnlich. "Würdest du mich bitte in Ruhe nachdenken lassen?" pampt er mich an und macht eine wegscheuchende Handbewegung Richtung Tür. Ich kann es nicht glauben. Er schickt mich weg. "Ja, tolle Idee, Tom. Die beste, die du je hattest" erwidere ich sarkastisch und bin froh, heute schon mein Pensum an Tränen vergossen zu haben. "Shirin, so mein ich das doch gar nicht, ich..." "Mir egal, was du meinst. Ich geh jetzt duschen" fahre ich ungehalten zwischen seinen Erklärungsversuch. "Willst du dich aufbrezeln für Bill?" wirft Tom mir an den Kopf und ich gebe als Antwort nur ein Schnauben von mir. Jetzt dreht er wohl komplett durch. Mit einem letzten vernichtenden Blick auf meinen Freund steuere ich das Badezimmer an. Soll er doch seine ganzen verdammten Probleme allein lösen. Bitte.
Als ich eine halbe Stunde später aus der Dusche komme, ist Tom weg. Wie immer, wenn es eigentlich sinnvoller wäre, wir würden uns mal in Ruhe zusammensetzen. Aber ich habe jetzt weder Lust noch Zeit, mir darüber Sorgen zu machen, wo er sich schon wieder rumtreibt. Auf dem Weg ins Schlafzimmer bleibt mein Blick an diesem ominösen Brief kleben. Gedankenverloren nehme ich ihn nochmals in die Hand und lese ihn wieder und wieder. Eva. Was will sie von uns? Rache? Am Ende steckt sie mit den anderen beiden unter einer Decke... ich werde noch paranoid, wenn ich so weitermache. Kopfschüttelnd werfe ich dieses vollgekritzelte Stück Papier in den Müll und mache mich daran, mich "aufzubrezeln", wie Tom es vorhin so schön ausgedrückt hat.
Und ich bin kaum damit fertig, als es auch schon an der Tür klingelt. Gemächlich schlendere ich zu eben dieser, denn der liebenswürdige Bill kann sich auch mal ein bisschen in Geduld üben. Ich bin ganz cool. Ich rege mich nicht auf. Und mein Herz rast auch nicht. Mit jedem Schritt hämmere ich mir einen dieser denkbar unsinnigen Sätze in meinen Schädel, ohne Erfolg. Ich bin alles andere als cool und die Ruhe in Person. Und mein Herz macht Galoppsprünge. Egal, ich habs wenigstens versucht.
Entschlossen reiße ich schließlich die Tür auf und sowohl Bill als auch mir entfährt ein "Wow!"
Heute hat er sich richtig in Schale geschmissen, mit Anzug und allem drum und dran. Meine Güte, was hat er vor? "Du siehst toll aus" schmeichelt Bill und ich merke, wie ich schon wieder rot werde. Verdammt. "Du auch" sage ich gedankenlos und quetsche mich an ihm vorbei. "Solche Worte von dir zu hören..." sabbelt er weiter, aber ich sprinte schon im Laufschritt die Treppen runter. Vor der Haustür bleibe ich stehen. "Ich bin mit dem Auto da" informiert mich Bill und deutet auf ein aufgemotztes Auto direkt vor meiner Nase. "Was ist das denn für ne Protzschleuder?" entfährt mir und Bill straft mich mit einem bösen Blick. Das kann ja lustig werden heute, ich seh es schon kommen...
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25.
Mein Atem geht heftig und mich muss mich arg zusammenreißen, damit ich nicht alle paar Sekunden erschrocken quieke. Bill wirft mir immer weder amüsierte Seitenblicke zu. „Geht’s dir gut?“ fragt er irgendwann, kann aber den belustigten Unterton in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Das ist ja auch ein großer Spaß, wenn man wie ein Vollidiot durch die Straßen brettert... unglaublich lustig.
Bevor ich Bill eine giftige Antwort geben kann, fährt er in mörderischem Tempo auf einen Parkplatz und ich sehe nur noch einen Baum auf mich zurasen. Entsetzt schließe ich die Augen, kralle mich ins Leder meines Sitzes und warte auf mein Ende. Vielleicht hat das ja alles einen tieferen Sinn, immerhin hab ich erst ein paar Stunden zuvor mit Tom über die Vorteile des Todes an einem Baum diskutiert. „Shirin, alles okay?“ bahnt sich eine Stimme den Weg durch meine Gedanken. Ich muss im Himmel sein.
Vorsichtig blinzele ich und schaue direkt in Bills besorgtes Gesicht. Korrektur: Ich bin in der Hölle.
„Hast du noch alle Latten am Zaun?“ platze ich heraus und traktiere Bill mit wütenden Blicken. Dieser fängt an zu lachen und meint dann unbekümmert: „Wieso? Ist doch alles gut!“ Damit steigt er beschwingt aus seinem Auto, in das ich garantiert nie wieder einen Fuß setzen werde. Immer noch am ganzen Körper zitternd wie Espenlaub mache ich die Beifahrertür auf und schlage beleidigt Bills Hand weg, der mir anscheinend aus dem Wagen helfen will. „Lass mich“ fauche ich gereizt. Die Aktion war jetzt bestimmt die Rache für meinen Ausspruch mit der „Protzschleuder“.
„Wo sind wir hier überhaupt?“ will ich wissen, nachdem ich mich wieder einigermaßen stabilisiert habe. Oh-mein-Gott. Ich weiß, wo wir sind. Wir sind vor dem angesagtesten Restaurant der ganzen Stadt. Nicht, dass ich besonderes Interesse daran habe oder jemals dahin wollte...
„Was zum Henker soll ich hier?“ löchere ich Bill weiter, der sich immer noch nicht zu einer Erwiderung herabgelassen hat. „Essen“ meint er jetzt gnädigerweise. „Essen? Aber...“ setze ich zu einer weiteren Schimpftirade an, doch Bill bringt mich mit erhobener Hand zum Schweigen. „Wir hatten eine Verabredung zum Essen, ich kann mich da an eine gewisse Abmachung erinnern“ hilft er meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Ich weiß, was er meint. „Du hast da was falsch verstanden“ versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen. Ich werde doch nicht mit ihm Essen gehen in aller Seelenruhe, wo ich dringend Geld brauche und nicht mal weiß, wo mein Freund sich rumtreibt. Und überhaupt...
„Komm schon, ich werd schon nicht mitten auf dem Tisch über dich herfallen“ grinst Bill und zieht mich am Ärmel hinter sich her. Das kann jetzt unmöglich sein Ernst sein. „Du wirst überhaupt nicht über mich herfallen! Außerdem hab ich gar keine Zeit Essen zu gehen und...“ widerspreche ich energisch, aber er lässt mich schon wieder nicht ausreden. „Jetzt lass dich nicht so bitten. Du bist eingeladen und ums Geld kümmern wir uns später“ fällt er mir ins Wort und ich verstumme. Bill lässt meinen Arm los und nimmt statt dessen meine Hand, die ich ihm sofort wieder entreiße. „Dein Temperament ist wirklich sagenhaft“ zieht er mich auf, lässt seine Griffel aber bei sich. „Er ist unfair, unglaublich arrogant, überschätzt sich selbst, ist total hinterlistig...“ nuschele ich mehr zu mir selbst als zu Bill. „Das wird Tom aber gar nicht gefallen, dass du so über ihn sprichst“ sagt Bill und lacht über mein empörtes Schnaufen. Ich beschließe, mich gar nicht mehr zu äußern und stapfe schweigend neben ihm her. Genau. Neuer Plan für heute: Bill anschweigen und weitestgehend ignorieren. Soll er doch sein Essen mit mir kriegen, aber er wird nicht viel Freude daran haben...
Dieses Vorhaben gelingt mir genau so lange, bis Bill die nächste Provokation auf mich loslässt. „Schmeckt`s dir nicht?“ fragt er mich mit undeutbarem Gesichtsausdruck mitten im Hauptgang, als ich gerade dabei bin zu überlegen, ob ich das Essen nur toll oder doch genial finden soll. Ich quittiere seine Frage mit einem tödlichen Blick. „Wie lange willst du das Spielchen hier noch weitermachen?“ nervt Bill mich ungerührt weiter. Ihn gar nicht beachtend, schiebe ich mir eine weitere Gabel Gemüse in den Mund. „Hey Kleine!“ „Nenn misch nischt...“ rege ich mich mit vollem Mund auf, stocke dann aber mitten im Satz. Scheiße. Jetzt hat er mich wieder so weit. Ich wage einen vorsichtigen Blick in Bills Gesicht, schlucke und betrachte dann schnell die überaus schöne Tischdecke. Toll. Jetzt kann er sich mal wieder auf meine Kosten amüsieren.
„Ich zahl dir das alles zurück“ schnaube ich wütend und lasse die Gabel sinken. „Darauf geh ich jede Wette ein“ sagt Bill betont ruhig und setzt zu einem neuen Satz an, aber ich lasse ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich meinte das Essen“ kontere ich und registriere grinsend, wie er einen Moment aus der Fassung gerät. „Von mir aus. Shirin, können wir das jetzt mal lassen? Ich will mich mit dir unterhalten“ macht er jetzt einen auf unschuldig. „Ich mich aber nicht mit dir“ erwidere ich bockig. „Okay. Dann lass uns gehen. Schließlich brauchst du Geld, um mir das hier,“ er macht eine weitläufige Geste über den Tisch, „zurückzuzahlen.“ Ich nicke geschlagen. Ich habs ja nicht anders gewollt. Und Hunger hab ich plötzlich auch keinen mehr.
Schweigend sehe ich zu, wie Bill sich die Rechnung geben lässt und seine Kreditkarte zückt. Wahrscheinlich wird er das hier heute Abend von der Steuer absetzen. Wobei mir wieder einfällt...
„Sag mal, was machst du eigentlich beruflich?“ frage ich und sehe, wie er eine Augenbraue nach oben zieht. „Pass auf Shirin, ich mach dir einen Vorschlag: Du unterhältst dich mit mir über Tom – und ich erzähl dir dafür was über mich“ kommt es von Bill, während er aufsteht. Ich gebe ihm erst mal keine Antwort. Den ganzen Weg nach draußen überlege ich, was er damit wohl wieder bezwecken will. „Was hast du denn immer mit Tom?“ gebe ich schließlich resigniert von mir, während wieder dieses furchtbare Auto in mein Blickfeld gerät. Allerdings ist der Fahrer noch viel furchtbarer...
„Ich will nur verstehen, warum du dich so ausnutzen lässt“ sagt Bill und hält mir die Beifahrertür auf. Moment. Stopp. Das war doch der springende Punkt! „Ich steige auf keinen Fall in dieses Auto!“ japse ich erschrocken bei der Erinnerung an die Hinfahrt und übergehe damit gleichzeitig seine Frage von eben. „Was? Wieso denn nicht?“ Bill sieht mich verwirrt an. „Weil du fährst wie der letzte Henker!“ setze ich noch einen drauf. „Also das ist aber leicht übertrieben jetzt... nun steig schon ein“ versucht er mich zu überreden, aber wenn ich was nicht will, dann will ich nicht. „Nein“ bocke ich also weiter, fehlt nur noch, dass ich mit den Füßen im Sand scharre. Leider ist hier weit und breit kein Sand in Sicht. „Du bist wirklich stur wie ein Esel. Okay, ich werd auch ganz langsam fahren, versprochen“ lenkt Bill ein. „Niemals setze ich mich wieder neben dich in ein Auto“ verteidige ich meinen Standpunkt. „Und wenn wir die Seiten tauschen?“ macht Bill jetzt einen neuen Vorschlag. „Bitte?“ Ich steh mal wieder auf der Leitung. „Na, was ist, wenn du fährst?“ Bill wedelt einladend mit seinem Schlüssel vor meinem Gesicht herum. „Das ist natürlich was anderes, dann muss ich wenigstens nicht um mein Leben fürchten“ sage ich leichthin und entwende ihm gekonnt den Schlüssel.
Ob ich ihn darauf hinweisen soll, dass ich keinen Führerschein besitze und bis auf ein paar Schwarzfahrerversuche äußerst jungfräulich hinter dem Lenkrad bin? Besser nicht. Mit einem hinterhältigen Grinsen lasse ich mich auf den Fahrersitz fallen und starte den Motor.
26.
„Um Gottes Willen“ kreischt Bill neben mir in den höchsten Tönen und ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Gut, die Ampel war jetzt kirschgrün, ich geb`s ja zu, aber er soll sich mal nicht so anstellen. Schließlich fährt er selbst nicht besser. Ich trete also entschlossen wieder das Gaspedal durch und der Motor jault auch nur ein ganz kleines bisschen. Ich höre Bill tief einatmen und dann hält er die Luft an. Ha, dann kann er mich wenigstens nicht vollsabbeln. Die nächste Kurve meistere ich geschickt, auch wenn ich eigentlich gar nicht so richtig weiß, wo ich überhaupt hinfahren soll. Irgendwie hab ich den Weg vergessen in meiner ganzen Aufregung. „Shirin, pass auf!“ reißt Bill mich aus meinen Gedanken und nach einem Blick aus der Fensterscheibe trete ich erschrocken auf die Bremse. Vollbremsung. Circa einen Zentimeter vor einer Mauer. Puh. Das ist ja grade noch mal gut gegangen. Ich wage einen vorsichtigen Blick auf meinen Beifahrer, der ganz tief in seinen Sitz gesunken ist. „Sag mal Shirin, willst du mich ärgern oder was soll das?“ kommt es jetzt giftig von der Seite. „Nein, ich will dich ganz und gar nicht ärgern“ widerspreche ich mit einem leisen ironischen Unterton in der Stimme.
Bill reißt die Tür auf und springt so schnell aus dem Auto, dass ich es kaum registrieren kann. Zwei Atemzüge später fliegt meine Fahrertür auf und er zerrt mich ziemlich unsanft auf die Füße. „Spinnst du?“ motze ich los, aber ein Blick in seine wütend funkelnden Augen genügt, um mich zum Schweigen zu bringen. „Die Frage sollte ich DIR stellen“ zischt Bill und spießt mich fast mit dem Zeigefinger auf. Ob er weiß, dass er ausgesprochen sexy ist, wenn er sich so aufregt? Ich bin schon wieder abgelenkt.
„Wo hast du denn deinen Führerschein gemacht?“ blafft Bill mich jetzt an und durchbohrt mich mit seinem Blick. „Nirgends“ gebe ich unschuldig zur Antwort und kann förmlich sehen, wie dieses eine kleine Wörtchen langsam in sein Bewusstsein sickert. „Willst du damit andeuten, dass du...“ setzt er an, aber ich falle ihm wie schon so oft heute Abend ins Wort. „Ja, ich hab keinen Führerschein. Ich kann mich aber auch nicht erinnern, dass du mich danach gefragt hast“ beende ich seinen Satz und Bill explodiert.
„Das kann ich doch nicht wissen, dass du nicht mal nen Führerschein hast, so was gibt’s doch gar nicht! Und wenn wir nun in eine Polizeikontrolle geraten wären?“ Seine Augen sprühen Funken und mein Herz beginnt zu rasen. Das ist bestimmt ein verspäteter Adrenalinstoß von meiner coolen Autofahrt eben. „Sind wir aber nicht“ sage ich frech. Bill fasst mich an den Schultern, damit ich ihm nicht ausweichen kann. „Wenn du einen Unfall gebaut hättest“ fängt er wieder an auf mich einzureden. „Mann Bill, hab ich aber nicht. Jetzt reg dich mal nicht künstlich auf!“ Mühsam versuche ich zu verbergen, dass ich so im Nachhinein betrachtet wohl durchaus leichtsinnig war. Und außerdem macht er mich schon wieder unheimlich nervös.
„Ich soll mich nicht aufregen? Du bringst uns fast um und ich soll mich nicht aufregen?“ quetscht Bill durch die Zähne und sieht in diesem Moment so unglaublich anziehend aus, dass bei mir eine Sicherung durchbrennt. Die Sicherung, die für vernünftiges Denken verantwortlich ist. Wie ein hypnotisiertes Kaninchen starre ich auf seine Brust, die sich heftig hebt und senkt, dann wandert mein Blick in sein Gesicht und bleibt schließlich an seinen Augen hängen. Oh Gott. Ich hätte das jetzt nicht tun sollen. Nicht in seine Augen sehen. Ich sollte mich einfach umdrehen und flüchten, aber ich kann nicht. Immer noch stehe ich wie festgewachsen hier und kann mich nicht von seinen Augen losreißen. Hibbelig beginne ich an meiner Unterlippe zu knabbern.
„Komm ich bring dich nach Hause“ sagt Bill plötzlich ganz ruhig. Überrascht reiße ich die Augen auf. Was ist nur in ihn gefahren? Er muss doch merken, dass er mich total verrückt macht... Und er muss doch merken, dass er im Moment alles mögliche mit mir tun könnte...
„Aber...“ bringe ich stockend hervor, „wir haben doch noch gar nicht...“ „Was?“ hakt er nach und ich versinke schon wieder in seinen Augen. „Ähm, wir haben uns noch gar nicht unterhalten und wir haben noch kein Geld besorgt und wir haben noch gar nicht...“ rede ich wie ein Wasserfall, stoppe dann aber abrupt. Ich bin schon wieder dabei, mich hier um Kopf und Kragen zu reden. Warum lasse ich mich nicht einfach nach Hause bringen und freue mich darüber, dass ich mich nicht mit ihm über Tom unterhalten muss? „Shirin, ich mach dir ein Angebot. Ich fahre dich jetzt nach Hause und wir vergessen diese ganze Geschichte einfach. Ich werde wieder aus deinem Leben verschwinden und lass dich in Zukunft in Ruhe“ sagt Bill und ich verstehe grade mal wieder gar nichts. Also ich verstehe schon, was er gesagt hat, aber nicht den Sinn.
„Was?“ kommt es perplex aus meinem Mund. „Ich mein das ernst. Irgendwie läuft alles aus dem Ruder und ich will das nicht“ meint Bill und schenkt mir einen seiner undeutbaren Blicke. Ist das wieder eine Falle? Will er mich reinlegen?
„Nein“ erwidere ich fest. „Nein?“ wiederholt Bill ungläubig. „Nein Bill. Du kannst doch nicht hier aufkreuzen, mein ganzes Leben durcheinander bringen und dann einfach wieder verschwinden wie es dir passt!“ keife ich ihn an. "Tja ich dachte, das ist dein größter Wunsch..." sagt er und auf einmal ist seine Stimme ganz leise.
Ich bringe keinen Ton raus, weil in meinem Kopf gerade ein Sturm lostobt. Das ist doch meine Chance jetzt, ihn loszuwerden... warum nutze ich sie nicht?

27.
„Es ist aber nicht das, was ich will“ sage ich stockend nach einer Ewigkeit. Ich hab nicht wirklich über das nachgedacht, was ich sage, die Worte verlassen einfach so meinen Mund.
„Was genau willst du denn?“ fragt Bill leise und in seinen Augen erscheint wieder dieses Glitzern. Irgendwie bringt mich das zum überkochen jetzt. „Ich weiß es doch auch nicht!“ schreie ich ungehalten los, mein Herz rast mittlerweile so schnell, dass ich fürchte, es explodiert jeden Moment. „Schrei mich nicht an“ sagt Bill ruhig und freut sich offensichtlich darüber, dass er wieder die Kontrolle über die Situation hat. „Das war kein Schreien! Soll ich dich mal anschreien?“ brülle ich noch lauter als eben. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was mit mir los ist. Ich dreh durch oder so.
„Du siehst einfach toll aus, wenn du dich so aufregst“ bemerkt Bill wie nebenbei und endlich sehe ich ihm wieder richtig in die Augen. „Du auch“ erwidere ich gedankenlos und beiße mir dann schnell auf die Unterlippe. Was rede ich nur schon wieder...
Immer noch hält Bill meine Schultern fest und ich weiß nicht, ob ich das nun schön oder beängstigend finden soll. „Solche Worte aus deinem Mund...“ sagt Bill lächelnd, aber ohne eine Spur Ironie. Mir wird das jetzt zu viel. Ich kann einfach nicht denken, wenn er mir so nah ist. „Ja, selbst bei mir kommt so was vor. Und jetzt lass uns endlich Geld besorgen!“ Damit schiebe ich ihn hastig von mir weg und husche auf der Beifahrerseite wieder in sein Auto. Wahrscheinlich hab ich damit mein Todesurteil unterschrieben, aber wenn ich mir vorstelle, was passiert wäre, wenn ich noch länger so nah vor ihm gestanden hätte... dann doch lieber Autofahren und sterben.
Doch wie sollte es auch anders sein, ich habe Bill mal wieder falsch eingeschätzt. Er fährt fast übervorsichtig und so langsam, dass uns einige Autos hupend überholen. Will er mich jetzt wieder aufziehen oder einen seiner merkwürdigen Scherze machen? Ich habe jedenfalls beschlossen, nichts dazu zu sagen. Überhaupt schweigen wir uns die ganze Fahrt schon an und ich starre seit einigen Minuten nur noch aus dem Fenster. Immerhin hat sich mein Puls wieder normalisiert und obwohl ich seinen Geruch hier drin mehr als deutlich wahrnehme, bringt es mich nicht mehr ganz so aus der Fassung wie eben.
„So wir sind da“ meint Bill lustlos, als er genau vor der Bar hält, in der wir uns kennen gelernt haben. Ich mustere ihn mit einem kritischen Blick. Mir gefällt sowohl seine offensichtliche Lustlosigkeit als auch diese Bar ganz und gar nicht. „Warum bist du ausgerechnet hierhin gefahren?“ will ich genervt wissen. „Warum nicht?“ kommt es achselzuckend zurück. Schön. Dann will er eben nicht mit mir reden. Aber ich brauche Geld und hab absolut keine Nerven, mir dieses sinnfreie Gespräch anzutun.
Mit einem entnervten Schnauben steige ich also aus dem Wagen und stapfe dem Eingang entgegen. „Warte doch mal“ ruft Bill hinter mir her und hält mich am Arm fest. „Pass auf. Wir ziehen das hier durch jetzt heute Abend und dann sind wir quitt. Einverstanden?“ Wieder fixiert er mich mit einem seiner merkwürdigen Blick. „Einverstanden“ brumme ich und laufe einfach weiter. Er soll bloß nicht glauben, dass er mich so ködern kann.
Anderthalb Stunden später springen wir ins Auto und Bill rast in gewohnter Manier vom Parkplatz. Doch sobald er um die nächste Ecke gebogen ist, verlangsamt er wieder das Tempo und fährt jetzt ganz normal. Wobei, was ich als normal bezeichne... ist ja auch egal. Jedenfalls ging alles reibungslos. Für mich ist es mittlerweile kein Problem mehr, einen geeigneten Kandidaten auszuwählen, aber ich war mir nicht sicher, ob Bill alles so hinkriegen würde ohne aufzufallen. Aber ich hatte mir umsonst Sorgen gemacht. Er war ruhig, souverän und fast routiniert. Und er hat so einiges aus dem Auto mitgebracht... Ein voller Erfolg, wie Tom sagen würde. Schnell schiebe ich den Gedanken beiseite.
„Du hast das gut gemacht“ meine ich anerkennend in Bills Richtung und er fängt an zu lachen. „Danke“ sagt er dann und mir fällt wieder ein, dass ich wirklich so gut wie gar nichts von ihm weiß. Ich hab doch keine Ahnung, ob Klauen nicht vielleicht sein Freizeitsport ist oder dergleichen... aber es kann mir ja auch herzlich egal sein. Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, wird er mich jetzt in Ruhe lassen. Ein perfekter Abend... wenn da nicht das unangenehme ziehende Gefühl in meinem Magen wäre, das ich krampfhaft zu ignorieren versuche. Mit gemischten Gefühlen betrachte ich die Sachen in meiner Hand. Ein Handy, ein bisschen Schmuck und das obligatorische Portemonnaie, was ich als letztes noch abgestaubt habe. Und das erhält auch als erstes meine Aufmerksamkeit. „Na Holla die Waldfee“ rutscht mir raus. „Wie viel ist es denn?“ fragt Bill, aber es hört sich nicht wirklich interessiert an. „Ungefähr 500“ stelle ich nach kurzem geübtem Blick fest. „Gut. Das macht dann 250 für jeden und den anderen Kram kannst du behalten. Tom weiß sicherlich, wie man das in Bares umsetzt“ meint Bill und schaut wieder angestrengt auf die Straße. „Allerdings“ gebe ich leise zu, nehme die Hälfte von dem Geld sowie das andere Zeugs und lasse alles in meiner Tasche verschwinden.
Und wir verfallen wieder in Schweigen.
Als Bill das Auto schließlich vor meinem Haus zum Stehen bringt, weiß ich nicht, wie ich mich verabschieden soll. Ich kann ja schlecht einfach aufstehen und gehen... oder doch? Eigentlich ist es doch genau das, was ich die ganze Zeit wollte.
Ich bin schon wieder verwirrt. Verwirrt von Bill, der einfach immer anders reagiert als ich denke und verwirrt von mir selber, weil ich nie weiß, was ich will. Bill sieht mich abwartend an und irgendwie macht mich der Gedanke traurig, dass es das jetzt gewesen sein soll.
28.
"Also dann" sage ich unglaublich souverän und schwinge mich aus dem Auto. Ich will hier weg, bevor ich noch etwas tue, was ich später bereuen werde. Schon bin ich an der Haustür und stecke den Schlüssel ins Schloss. "Willst du dich nicht wenigstens richtig von mir verabschieden?" haucht mir plötzlich Bill ins Ohr, sein Atem streift meinen Nacken und ich zucke erschrocken zusammen. Da hab ich mich wohl entschieden zu früh gefreut... und die Tatsache, dass mir ein heißer Schauer über den Rücken jagt, ignoriere ich erst mal gekonnt. Aufgebracht fahre ich herum und der Blick in Bills Augen lässt mich fast vergessen, was ich sagen wollte. "Schleich dich nicht so an! Du erschreckst mich ja zu Tode! Und was soll das eigentlich heißen, richtig verabschieden?" Gott, ich klinge nicht halb so wütend wie beabsichtigt. "Das weißt du ganz genau" erwidert er mit rauer Stimme. Oh nein, bitte nicht auch noch Gänsehaut. "Nein das weiß ich nicht. Aber bitte: Machs gut Bill, ich wünsch dir viel Glück in deinem weiteren Leben!" knalle ich ihm hin und drehe mich wieder um. "Okay, das wünsch ich dir auch" murmelt Bill und ich höre, wie seine Schritte sich langsam entfernen. "Warte!" schreie ich ohne nachzudenken hinter ihm her. Nein, ich hab das jetzt nicht laut gesagt, nein, nein, nein!
"Was denn noch Shirin?" Bill ist stehen geblieben und sieht mich an. "Ich weiß immer noch nicht, womit du so deine Zeit verbringst" brabbel ich einfach drauf los und verstehe mich selbst in diesem Moment am allerwenigsten. Ich fühl mich wie ein kleines Kind und ich hab keine verdammte Ahnung, warum ich ihn aufgehalten habe. "Würdest du mir mal erklären, was diese Fragerei jetzt soll?" fragt Bill, während er sich wieder auf mich zubewegt. "Naja, immerhin bist du der Bruder von meinem Freund und ich..." stottere ich mir zusammen, während ein leichtes Lächeln Bills Mundwinkel zu umspielen beginnt. "Bist du nervös?" unterbricht er mein Geschwafel und bleibt so nah vor mir stehen, dass ich jetzt endgültig in seinen Augen versinke. "Nein, ich bin nicht nervös, ich will nur..." "Du willst nur was?" fällt er mir ins Wort und sein Lächeln wird breiter. Scheiße. Was will ich denn eigentlich? Bill hebt die Hand und streicht mir vorsichtig über die Wange. Oh mein Gott. Nur am Rande registriere ich, wie sich die kleinen Härchen in meinem Nacken aufstellen. "Willst du das hier?" flüstert er, beugt sich die letzten Zentimeter zu mir runter und dann spüre ich seine Lippen auf meinen. Im ersten Augenblick bin ich zu verwirrt, um zu reagieren. Doch als er langsam den Druck verstärkt, kommt wieder Leben in mich. Zuerst zögerlich, dann immer stürmischer gehe ich auf sein Spiel ein. Seine Hand hat sich von meiner Wange in meinen Nacken geschlichen und zieht mich noch näher zu ihm. Genussvoll seufze ich in den Kuss und ich kann spüren, wie er grinst. Doch plötzlich muss ich an Tom denken und löse mich abrupt von Bill. "Sorry, ich kann das nicht" murmele ich entschuldigend und werde schon jetzt von meinem schlechten Gewissen aufgefressen. "Schon gut" kommt es leise von Bill, er dreht sich um und lässt mich stehen. Ich bin viel zu durcheinander, um ihn aufzuhalten oder noch irgendwas zu sagen und so stehe ich nur da und sehe hilflos zu, wie er in sein Auto springt und davonfährt.
Irgendwann kann ich mich dann aber doch aufraffen und schließe endlich die Tür auf. Vor der Wohnung sende ich eine stille Bitte an irgendjemanden, der es gut mit mir meint, dass Tom nicht zu Hause ist. Ich hab keinen Schimmer, wie ich ihm gegenübertreten soll. Aber wie war das noch gleich? In meinem Leben existiert niemand, der es gut mit mir meint und so stürmt mir Tom schon im Flur entgegen. "Gott sei Dank, da bist du ja endlich" begrüßt er mich und fällt mir um den Hals. "Tom?" Verwirrt schiebe ich ihn ein Stück von mir weg. Was um alles in der Welt ist nun schon wieder passiert? "Shirin, ich muss dir unbedingt was erzählen, Eva..." Er stockt und mustert mich genauer. "Was hast du gemacht?" fragt er dann und seine Miene verdüstert sich. "Nichts" sage ich leichthin und merke doch, wie ich rot werde. "Was ist denn mit Eva?" will ich mißtrauisch wissen. Dem Braten traue ich nicht. Nichts, was mit dieser Eva zu tun hat, kann irgendetwas Gutes bedeuten, so weit hab sogar ich das mitbekommen. Und außerdem lenkt Eva jetzt von Bill ab.
"Shirin! Was hast du gemacht? Dein Lippenstift ist verschmiert" grollt Tom und ich stürze erschrocken ins Bad. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße. Er hat Recht und ich versuche umständlich, das Schlimmste zu beseitigen. Aber was soll das noch, er kann sich sicherlich denken, was ich getan habe. Und das ist der Moment, in dem ich wieder wütend werde. Immerhin hat er mich auch betrogen und wer weiß, was er mit dieser Eva jetzt schon wieder hatte...
Bereit zum Kampf trete ich schließlich wieder in den Flur. "Jetzt siehst du auch nicht besser aus" sagt Tom fast resigniert. "Ich glaub nicht, dass du das Recht hast, mich hier blöd von der Seite anzumachen!" fahre ich ihn an. Tom fängt an zu lachen, doch es klingt hohl in meinen Ohren. "Also stimmt es. Du knutscht in aller Seelenruhe mit meinem Bruder rum? Ich glaub das einfach nicht! Wer weiß, was ihr noch alles getrieben habt, lange genug warst du ja weg" motzt er aufgebracht. "Ich hab überhaupt nichts getrieben, wie du das so schön ausdrückst. Tom, ich hab keine Lust, mich zu streiten" gebe ich schnaubend von mir. "Ich auch nicht, Shirin" erwidert Tom und auf einmal verändert sich sein Gesichtsausdruck. Was zur Hölle hat er vor?
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29.
"Tom?!" Langsam wird er mir direkt unheimlich, wie er sich raubkatzenartig auf mich zubewegt. "Tom? Was wolltest du mir mit Eva sagen?" frage ich weiter, um diese komische Stille zu überbrücken. "Falsche Frage" sagt Tom und ich gehe automatisch einige Schritte rückwärts, bis ich nur noch die Flurwand hinter mir spüren kann. "Falsche Frage? Was soll das heißen?" Meine Stimme wird immer leiser, jetzt macht er mir wirklich langsam Angst. "Wir werden uns jetzt nicht über Eva unterhalten" meint Tom und drückt mich gegen die Wand. "Ach nein?" Das hat jetzt provozierend geklungen, obwohl ich wohl die Letzte bin, die hier provozierend klingen sollte. "Nein. Und? Hat`s mein Bruder drauf?" will er wissen und jetzt verändert sich auch sein Tonfall. Er hört sich fast - verlangend an. Moment mal. Verlangend? "Tom, was soll das?" versuche ich mich drum rum zu reden, aber Tom scheint anderes im Sinn zu haben. "Ich will nur wissen, ob es sich gelohnt hat, jemand anderes zu küssen als mich" raunt Tom mir zu. "Das ist doch jetzt nicht dein Ernst. Tom, es tut mir leid..." "Es soll dir nicht leid tun. Du sollst nur meine Frage beantworten" fährt er mir dazwischen und ich kann seinen Gesichtsausdruck absolut nicht zuordnen. "Ich weiß es nicht Tom" bringe ich hervor und kann nichts dagegen machen, dass er mir mit seiner Nähe Gänsehaut macht. "Du weißt es nicht? Soll ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?" nuschelt Tom, während er beginnt an meinem Hals zu knabbern. "Tom!" ist alles, was ich hervorbringe. Das ist unfair. Er weiß einfach genau, was er machen muss, damit ich völlig den Verstand verliere. "Ja?" Er lässt von mir ab und sieht mir in die Augen. Und grinst. "Was machst du?" frage ich schon leicht atemlos. "Dir zeigen, zu wem du gehörst" kommt es leise von Tom. "Aber ich... ich meine... ah!" Weiter komme ich nicht, denn er beißt mir fest in den Hals und leckt dann fast entschuldigend über die mit Sicherheit feuerrote Stelle. Ich kann nichts dafür, ich werde wie Wachs in seinen Händen. Er kennt mich zu lange und zu gut und er nutzt es jetzt aus. Tom entfernt sich ein Stück von meinem Hals, damit er mir ins Ohr flüstern kann. "Hörst du jetzt auf zu quatschen Shirin?" Dann sieht er mich wieder an. Tom hat provozierend geklungen und für sein Grinsen gehört er eigentlich geschlagen. Statt dessen schließe ich genüsslich die Augen, als er jetzt anfängt, an meiner Unterlippe zu knabbern. Und dann küsst er mich. Er küsst mich unglaublich intensiv und er bittet nicht um Einlass, er nimmt ihn sich einfach. Und ich vergesse alles um mich herum. Ich vergesse Bill, ich vergesse Eva, jetzt hier und in diesem Moment gibt es nur noch Tom und mich.
Ungeduldig zerrt er an meinem Kleid, bis es mir über die Schultern hängt. Und ich kann nichts anderes tun, als mich an seinem T-Shirt festzukrallen. "Tom" keuche ich atemlos. "Was denn? Geht`s dir nicht schnell genug?" Wieder dieses Grinsen. "Halt die... Klappe" stammele ich abgehackt, denn jetzt hat er den Weg unter mein Kleid gefunden. Eigentlich merke ich erst jetzt, wie sehr ich seine Nähe die letzten Tage, in denen wir im Chaos versunken sind, vermisst habe.
Energisch schiebt er meinen Slip zur Seite und bringt geschickt seine Finger ins Spiel. "Sag es" fordert er mich auf und ich reiße die Augen wieder auf. Was? "Sag, dass du mich willst" wird Tom deutlicher und jetzt ist es an mir, zu grinsen. "Ich..." fange ich stockend an, kann aber nicht weitersprechen, weil er seine Finger fordernder bewegt. "Ich will dich" bringe ich dann endlich schweratmend über die Lippen und dann geht alles ganz schnell. Mit der freien Hand öffnet Tom seine Hose und presst mich dann wieder hart gegen die Wand. Wie automatisch schlinge ich ein Bein um seine Hüften. Als er in mich eindringt, erstickt er gleichzeitig mein Stöhnen mit einem verlangenden Kuss. Ich bin schon dermaßen aufgeheizt, dass es eigentlich nicht lange dauern kann. Aber ich habe Tom unterschätzt. Kurz bevor ich endgültig abhebe, hält er inne und sieht mich an. "Was machst du denn?" keuche ich irritiert. Tom grinst. "Ich mach jetzt gar nichts mehr" flüstert er mir entgegen, löst sich von mir und lässt sich dann mit dem Rücken zur Wand an dieser herrunterrutschen, bis er vor mir auf dem Boden sitzt. "Komm her" raunt er mir zu und ich werde mich jetzt bestimmt nicht lange bitten lassen. Keine Sekunde später sitze ich auf seinem Schoß und genieße das Gefühl, jetzt mal zur Abwechslung Macht über ihn zu haben. Und dieses Mal hört er nicht auf, als mich die Welle überrollt. Unregelmäßig stöhnt Tom mir ins Ohr und lässt mich alles um mich herum vergessen.
Und dann komme ich langsam wieder zu mir, lasse mich erschöpft gegen Toms Oberkörper sinken. Er atmet immer noch schnell und schließt jetzt einfach seine Arme um mich, hält mich fest. "Komm wir gehen schlafen" flüstert er mir irgendwann ins Ohr und nur widerwillig erhebe ich mich, lasse mich mehr oder weniger von ihm ins Schlafzimmer schleifen. So viele Fragen tauchen schon wieder in meinem Kopf auf...
"Shirin?" Tom sitzt auf dem Bett, vor dem ich stehen geblieben bin und mustert mich aufmerksam. "Hm" grummele ich. Nicht reden jetzt, bitte. "Bitte komm jetzt einfach ins Bett und lass uns schlafen ja? Lass uns wenigstens heute so tun, als wäre alles in Ordnung. Wir müssen uns früh genug damit auseinandersetzen" sagt er leise, aber fest. Und mal wieder bin ich erstaunt über meinen Freund. Kann er Gedanken lesen? Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich tue oder getan habe, genau so wenig wie ich weiß, ob es richtig ist, was Tom macht. Aber jetzt im Moment scheint es das einzig richtige zu sein, nicht mehr nachzudenken.
Also nicke ich, lege mich zu Tom ins Bett und schmiege mich in seine Arme. "Schlaf gut" flüstert er in die Dunkelheit und küsst mich auf meinen Haaransatz.
"Du auch" nuschele ich müde. Es tut einfach gut, jetzt seinen Körper neben mir zu spüren, der mich wärmt. Ein paar Minuten später bin ich eingeschlafen.
30.
Als ich die Augen aufschlage, blicke ich direkt in Toms Gesicht. "Was tust du da?" murmele ich verschlafen. "Dich beobachten" kommt es zurück und Tom sieht nicht so aus, als wäre er erst seit fünf Minuten wach. "Und hat das Ganze einen tieferen Sinn?" frage ich weiter und muss unweigerlich grinsen. "Nein... du siehst nur so friedlich aus, wenn du schläfst und es fühlt sich so richtig an, neben dir zu liegen. Ich hab ein bisschen nachgedacht" erwidert Tom, lässt mich immer noch nicht aus den Augen und ich frage mich langsam, ob er sich über Nacht in jemand anders verwandelt hat. Dann fällt mir wieder ein, dass er mir eigentlich etwas erzählen wollte, als ich gestern nach Hause kam.
"Was wolltest du mir mit Eva sagen gestern?" frage ich vorsichtig und augenblicklich zieht Tom seine Hand zurück, die er nach mir ausgestreckt hatte. "Musst du jetzt gleich am frühen Morgen wieder damit anfangen?" nölt er halb gereizt, halb resigniert. "Tooom" sage ich warnend. "Okay." Tom holt Luft, bevor er weiterspricht. "Ich bin gestern einfach so durch die Straßen gelaufen und plötzlich stand sie vor mir - wie aus dem Nichts..." Er bricht ab. "Und?" hake ich nach. "Und sie weiß so viel... über uns und überhaupt." Wieder stockt Tom. "Also beobachtet sie uns oder wie? Wie krank ist das denn?" rutscht mir raus. "Genau so krank wie unser ganzes Leben" antwortet Tom resigniert. "Und nun?" frage ich ratlos. Ich dachte immer, schlimmer kann es nicht mehr werden, aber wie so oft hab ich mich wohl getäuscht. Blicklos starre ich auf den Fußboden.
"Sie wird uns in Ruhe lassen" sagt Tom. Erstaunt sehe ich auf. "Wie hast du das denn geschafft?" In meiner Frage steckt Misstrauen. Vielleicht mehr, als mir zusteht, ich weiß es nicht. "Das ist doch ganz egal, auf jeden Fall wird sie uns in Zukunft in Ruhe lassen okay?" Er kann mir nicht in die Augen sehen, als er mir antwortet. "Ich will glaub ich gar nicht wissen, was genau da gelaufen ist" nuschele ich leise. "Und was ist mit meinem Bruder gelaufen?" Toms Gesichtsausdruck hat von schuldig zu wütend gewechselt. "Ach Tom. Ich will dich nicht anlügen. Wir haben uns geküsst" fange ich an und höre, wie Tom hörbar die Luft einzieht. "Aber auch Bill wird uns zukünftig in Ruhe lassen" beende ich meinen Satz. Tom bricht wieder in eines seiner unechten Gelächter aus. "Das glaubst auch nur du Shirin" bringt er hervor, nachdem er wieder sprechen kann. "Er hat es mir versprochen" beharre ich. Tom springt vom Bett auf. "Und du glaubst, weil du einmal mit ihm Rumknutscht lässt er uns in Frieden? Sag mal, wie naiv bist du eigentlich?" schreit er mich an und ich zucke zusammen. "Ich werde mich jetzt nicht mit dir streiten Tom" sage ich betont langsam. "Das will ich auch nicht. Das wollte ich nie. Sag mir nur eins Shirin - was fühlst du für ihn?" "Nichts" schießt es aus meinem Mund und ich weiß im gleichen Augenblick, dass es eine Lüge ist. Aber was soll das noch? Ich werde Bill nie wieder sehen und ich liebe Tom trotz allem. "Du hast schon besser gelogen" kommt es von Tom, während er aus dem Schlafzimmer stürmt. So schnell ich kann, renne ich hinterher. "Tom, ich hab keine Ahnung, was ich fühle okay? Ich bin einfach durcheinander! Außerdem könnte ich dich genau so gut fragen, was du mit dieser Eva hattest!" Sicherlich sind Vorwürfe nicht die beste Methode jetzt, aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll. Tom fährt herum und blitzt mich an. "Ich hab sie flachgelegt, was denkst du denn?" sagt er mir auf den Kopf zu und für eine Sekunde bleibt mein Herz stehen. Ist das die Wahrheit? Oder sagt er das nur, weil er in seinem Ego verletzt ist und mich jetzt ebenso verletzen will? Meine Gedanken rasen und gleichzeitig steigen mir Tränen in die Augen.
Hier stehen wir nun, in unserem schäbigen Flur und blicken uns an wie zwei Raubtiere, die gleich aufeinander losgehen. Und gerade als ich zu einer Erwiderung ansetzen will, klingelt es an der Tür. "Wenn er das ist, kann er was erleben" knurrt Tom und reißt die Tür auf, so schnell, dass ich nicht reagieren kann.
* * *

31.
"Frau Neumann?" Fast muss ich lachen, als ich unsere Nachbarin vor der Tür erblicke, die Tom Gott sei Dank mit seinem Schwung so weit aufgerissen hat, dass ich einen Blick auf den Eindringling erhaschen kann. Tom hat sie so ungläubig "begrüßt", dass Frau Neumann irritiert einen Schritt zurückweicht. "Ähm, entschuldigen Sie die Störung, ich wollte nur fragen, ob Sie meine Blumen gießen könnten, weil ich morgen in Urlaub fahre..." fängt sie an zu reden und Tom nickt eifrig. Ja, wir sind nette Nachbarn, auch wenn man es kaum glauben mag. Solche Gefälligkeiten haben wir für die nette Dame älteren Semesters schon öfter erledigt. Und ich käme dabei nie auf dumme Gedanken. "Kein Problem, das machen wir gern" mische ich mich jetzt ein und ich sehe, wie sie fast erleichtert aufatmet. "Das ist nett von Ihnen, danke. Ich lege morgen die Wohnungsschlüssel in den Briefkasten" sagt Frau Neumann und verabschiedet sich dann schnell.
Als ich wieder mit Tom alleine bin, tritt eine unangenehme Stille ein. Natürlich bin ich froh, dass nicht Bill oder noch schlimmer Eva vor der Tür gestanden hat. Und doch sind wir jetzt keinen Schritt weiter als vorher und ich bin absolut nicht in Stimmung, mit Tom zu diskutieren. Vergessen sein Verständnis gestern Abend, vergessen seine liebevollen Worte heute morgen. Und am liebsten würde ich auch den Streit danach vergessen. Und ich weiß immer noch nicht, ob er jetzt wirklich etwas mit dieser Eva hatte. Und ich weiß auch nicht, ob ich es wissen will.
"Ich geh duschen" sage ich irgendwann, als mir die gegenseitige Anstarrerei zu blöd wird. In der Badezimmertür drehe ich mich noch einmal um. Tom steht immer noch mitten im Flur und es scheint fast so, als hätte er in der Zwischenzeit nicht mal mit einem Muskel gezuckt. "Gehst du einkaufen solange?" Okay. Noch mal von vorn. Was hab ich mir dabei jetzt wieder gedacht? Habe ich überhaupt nachgedacht? Tom zieht fragend eine Augenbraue nach oben. "Und von welchem Geld Schätzchen, verrätst du mir das auch?" will er wissen und klingt dabei provokanter als nötig. "Mein Gott. Ich hab Geld von gestern Abend. In meiner Tasche" werfe ich ihm genervt hin und Tom nickt. "Ah" macht er und ich kann nicht einschätzen, ob es nun abwertend oder einfach nach gar keiner Emotion klingt. Ich verstehe mich selbst nicht. War das jetzt ein Test? Ein Test für Tom? Nimmt er das ganze Geld? Und was macht er dann damit? "Ich hab nicht mit ihr geschlafen!" Tom reißt mich mit dieser Bemerkung aus meinen Gedanken. Lügt er jetzt wieder? Angestrengt suche ich sein Gesicht nach irgendeinem Anzeichen für eine Lüge ab, doch ich finde keins. "Okay" sage ich schließlich und Tom macht einen Schritt auf mich zu. "Hör mal Shirin, ich habs wirklich nicht getan. Können wir diesen ganzen Mist nicht einfach vergessen?" Jetzt will er mich wirklich verarschen. "Tom, wie könnte ich vergessen, dass du mich belogen hast? Willst du einfach so weiter machen wie vorher? Wie stellst du dir das denn vor? So à la vergessen wir Bill, es hat ihn nie gegeben, vergessen wir Eva oder wie?" Tom steht einfach da und lässt mein Geschrei auf sich einprasseln. "Wolltest du nicht duschen?" fragt er mich jetzt und ich hab das Gefühl, als müsste ich platzen.
"Du kotzt mich an" ist das letzte, was ich ohne nachzudenken von mir gebe und bin auch schon im Bad verschwunden. Warum läuft nur alles schief? Sind wir schon so abgestumpft? Ich schiebe alle Gedanken dieser Art weit von mir und steige in die Dusche. Als ich später aus dem Bad komme, ist Tom weg und ich kann nicht widerstehen, ich sehe in meiner Tasche nach, wieviel Geld er mitgenommen hat. Na wow. Ganze 50 Euro. Hat er wirklich mal gute Absichten? Ich kann es nicht so richtig glauben, aber es scheint tatsächlich so zu sein. Und als Tom später nach Hause kommt, hat er sogar brav zwei Einkaufstüten im Arm. "Hättest du nicht gedacht was?" kommentiert er meinen kritischen Blick. "Nein, hätte ich nicht" muss ich zugeben. "Shirin, ich hab nachgedacht. So kann das doch nicht weitergehen. Morgen werde ich mich um einen Platz in einer Klinik oder was auch immer kümmern" gibt Tom zu Protokoll und mustert mich dann eingehend, als ich mich nicht dazu äußere. Das Thema hatten wir einfach schon zu oft. "Ich mein das ernst" bekräftigt er seine Worte und ich würde ihm so gerne glauben. Ich würde so gerne glauben, dass unsere Welt in Ordnung und unsere Beziehung harmonisch ist. Heile Welt.
"Gut" sage ich schließlich, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Die nächsten drei Tage kriechen so dahin. Tom hat sich um gar nichts gekümmert. Wir streiten nicht, aber wir reden auch nicht. Und weder Bill noch Eva haben sich irgendwie gemeldet. Zumindest habe ich davon nichts mitbekommen. Ich bin mit Nachdenken beschäftigt. Ich denke nach über mein Leben, über das was ich will, das was ich mir erträumt hatte. Mit dem bisschen Geld, was noch übrig ist, kommen wir noch ein paar Tage über die Runden. Und was ist dann?
Am Nachmittag komme ich gerade die Treppen von Frau Neumanns Wohnung herunter, als ich höre, dass Tom mit jemandem im Treppenhaus diskutiert. Und die Stimme kommt mir verdammt bekannt vor.
Und richtig. Da steht kein geringerer als Gustav und redet auf Tom ein. Als er mich erblickt, verdüstert sich seine Miene. "Was hast du mit Bill gemacht?" fragt er mich wütend und mein Herz setzt für einen Schlag aus.
32.
"Was soll ich denn mit ihm gemacht haben?" frage ich Gustav harmlos und ignoriere gekonnt Toms Schnaufen. "DAS würde ich gern von dir wissen!" schnauzt Gustav mich an und sein Gesichtsausdruck verdunkelt sich noch mehr. "Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst" tue ich weiter unschuldig und mustere dabei interessiert seine Lederkluft. Das ist ja mal ganz was Neues. "Ich geh wieder rein" nölt Tom und ist in der Wohnung verschwunden, ehe ich zu einer Reaktion fähig bin. Und ich werde ihm garantiert jetzt nicht hinterherlaufen wie ein Hündchen. "Also?" reißt Gustav mich aus meinen Gedanken. "Gustav, was willst du von mir?" frage ich gereizt. Muss er jetzt hier auftauchen und den Aufstand proben? "Ich will wissen, was du mit Bill gemacht hast. Sprech ich so undeutlich?" Hui. Wenn Blicke töten könnten, läge ich jetzt als kleiner Aschehaufen am Boden. "Ich hab gar nichts mit ihm gemacht!" Ich kann auch böse werden, wenn ich will...
Doch Gustav lässt sich absolut nicht von mir beeindrucken. "Dann erklär mir doch bitte mal Herzchen, warum ich nach Hause komme, Bill sich in seinem Zimmer verschanzt und noch nicht mal mit mir reden will... mit MIR, verstehst du?" faucht Gustav und macht noch einen bedrohlichen Schritt auf mich zu. "Was ist daran so außergewöhnlich?" stelle ich als Gegenfrage. "Shirin, ich stell hier die Fragen. Und du kommst jetzt mit und klärst das mit ihm, was immer es ist!" "Du spinnst ja. Ich werde nirgendwo hingehen" widerspreche ich energisch und weigere mich eisern daran zu glauben, dass allein schon bei dem Gedanken an Bill sich mein Herzschlag beschleunigt hat. "Doch das wirst du. Und wenn ich dich zwingen muss" giftet Gustav weiter. "Du kannst mich zu gar nichts zwingen. Und jetzt geh nach Hause. Bill wird sich schon wieder beruhigen. Außerdem haben wir keinen Kontakt mehr." Ich muss mich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. "Wie keinen Kontakt mehr... euch kann man nicht mal ein paar Tage allein lassen, dann wird schon alles über den Haufen geworfen!" Langsam frage ich mich ernsthaft, warum sich Gustav eigentlich so aufregt. "Mein Gott, ihr seid doch nicht verheiratet oder hab ich da was verpasst? Und übrigens war das Bills Vorschlag und nicht meiner" verteidige ich mich.
Ehe Gustav noch etwas sagen kann, steht Tom plötzlich wieder im Treppenhaus. "Seid ihr bald mal fertig hier?" Böse schaut er von Gustav zu mir. "Ich bin schon lange fertig" sage ich achselzuckend. "Nein, das bist du nicht. Du kommst jetzt mit" zischt Gustav und greift nach meinem Arm, um mich hinter ihm herzuzerren. "Moment! Was soll denn das werden?" ruft Tom dazwischen und Gustav hält inne. "Dein Bruder sitzt in seinem Zimmer und redet mit niemandem. Und ich vermute, dass deine kleine Freundin daran schuld ist" erklärt Gustav. "Ich bin nicht..." setzte ich an, doch Tom lässt mich nicht ausreden. "Und du großer Held meinst jetzt du kannst hier aufkreuzen und meine Freundin entführen? Bei dir piept`s wohl!" fährt Tom aus der Haut. "Darf ich dazu auch mal was sagen?" melde ich mich genervt wieder zu Wort. "Ja, du kannst Bill dazu was sagen!" Gustav erntet für diese Bemerkung einen wütenden Blick samt aufgebrachtem Schnauben von Tom. "Ich hab jetzt gar keine Zeit" versuche ich es anders. Gustav lacht. "Das kannst du deiner Oma erzählen" zieht er mich auf. "Shirin, komm mal kurz mit" meint Tom plötzlich zu mir und zieht mich in die Wohnung. Ich bin viel zu perplex, um mich zu wehren. "Und du wartest hier" befiehlt er Gustav, der zum ersten Mal an diesem Tag sprachlos zu sein scheint. Er schaut nur etwas verdattert. Was hat Tom denn nun schon wieder vor?
Er macht die Tür hinter uns zu und beginnt auf mich einzureden. "Vielleicht solltest du mitgehen und das ein für allemal klären - und zwar mit Bill UND mit Gustav. Auf dass sie uns danach nie wieder auf die Nerven gehen!" Toms Worte prasseln auf mich herunter und mit jeder weiteren Silbe entgleisen mir meine Gesichtszüge mehr, ich kann es förmlich fühlen. "Und woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel wenn ich fragen darf?" kommt es argwöhnisch aus meinem Mund. Tom sieht für eine Sekunde unsicher aus. Aber er hat sich erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle. "Weil ich denke, dass dieser Wicht da draußen keine Ruhe geben wird. Und ich hab keinen Bock auf den Scheiß!" "Das kann man auch gepflegter ausdrücken" erwidere ich schon fast resigniert. "Muss man aber nicht" gibt Tom zurück und ich würde lachen, wenn es nicht so absurd wäre. "Tom, ich versteh dich einfach nicht" starte ich nochmal einen Einwand. "Ich versteh mich selbst nicht Shirin. Ich will nur, dass das alles endlich aufhört" antwortet Tom und ich nicke ergeben. "Ich weiß nicht, was das bringen soll, aber bitteschön..."
Erst ein paar Augenblicke später wird mir bewusst, was ich grade im Begriff bin zu tun. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Und außerdem kann ich dann endlich mal ein bisschen was über die beiden erfahren, wo sie wohnen, wie sie leben...
Energisch reiße ich die Tür auf und Gustav blickt mir ungerührt entgegen. "Ich komme mit, aber nur fünf Minuten" sage ich hoheitsvoll. "Na bitte, geht doch" grunzt Gustav und am liebsten würde ich ihm eine runterhauen. Dieser selbstverliebte Schnösel. Augenrollend will ich hinter ihm herlaufen, aber Tom hält mich am Arm zurück. "Bau keinen Mist okay?" Kurz, aber intensiv sieht er mir in die Augen während ich mich frage, ob das jetzt ein Ratschlag oder eine Drohung sein soll. Schließlich nicke ich nur dazu und Tom lässt mich los.
Draußen vor der Tür trifft mich fast der Schlag. "DAS ist nicht dein Ernst oder?" frage ich entsetzt, als Gustav mir einen Motorradhelm entgegenhält. "Ich hab kein Auto" meint er fast entschuldigend. Oh lieber Gott im Himmel, vielleicht fährt er ja genau so schlimm wie ich vermute und wir kommen gar nicht lebend bei Bill an und dann müsste ich gar nicht mit ihm reden und mir keine Gedanken machen, was sonst noch alles passieren könnte...
"Kommst du jetzt?" holt Gustav mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Er nimmt seinen Helm vom Lenker seines wie ich zugeben muss, wirklich schönen Motorrades und schwingt sich auf den Sitz. Soll ich jetzt lachen oder weinen? Oder beides?
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33.
Na wow. Gustav KANN wirklich fahren. Und das meine ich ganz und gar nicht ironisch. Ich bin völlig ruhig und als er jetzt in die Einfahrt eines niedlichen kleinen Häuschens abbiegt, finde ich es fast ein bisschen schade, dass ich absteigen muss. Und so ziemlich gleichzeitig kehrt auch die Nervosität zurück. Die ganze Fahrt hierher hab ich so genossen, dass ich nicht mal nachgedacht habe... und das will schon was heißen. Gustav schwingt seinen netten Hintern vom Bike und zieht sich den Helm vom Kopf. "Du siehst gar nicht so mitgenommen aus, wie ich dachte" stellt er mit befriedigter Miene fest und ich kann nicht anders, ich muss lachen. Zumal seine Haare wirr vom Kopf abstehen und irgendwie passt das alles eigentlich gar nicht zu ihm. Am Anfang war er doch auch nicht so wie jetzt.... und schon hat mich meine alte Lieblingsgwohnheit wieder fest im Griff: ICH DENKE NACH.
"Nun komm, Kleines" meint Gustav und ich schrecke zusammen. Eine Sekunde später hab ich schon den Mund aufgerissen um zu protestieren, als Gustav die Hand hebt. "Ich nenn dich nie wieder Kleines, aber du musst mir was versprechen." Bitte? "Und was?" Die Neugier hat mal wieder bei mir gesiegt. "Du trennst dich von Tom" sagt Gustav todernst, streicht sich die Haare glatt und ich reiße empört die Augen auf. Ein sadistisches Grinsen breitet sich auf seinem Mund aus. "Kleiner Scherz am Rande. Vielleicht etwas makaber. Aber im Ernst: Ich weiß nicht, was mit Bill gelaufen ist, aber klär das jetzt." "Ja Papa" gebe ich maulend von mir. Das Thema hatten wir doch schon. Bei Gustav weiß ich immer nicht, ob ich mich über ihn aufregen oder ihn lustig oder niedlich finden soll. Im Moment ist es eine Mischung aus allem irgendwie. "Dann komm jetzt endlich" meint Gustav und zerrt mich schon wieder am Arm. Machen das eigentlich alle Männer? Scheint eine ansteckende Krankheit zu sein oder so. Kurze Zeit später betreten wir das Haus, und mit jedem Schritt geht mein Atem schneller. Was wird mich hier erwarten? Zuerst einmal erwartet mich ein heller, freundlicher Flur und ich bin mehr als erstaunt. Das hätte ich nicht gedacht. Die beiden scheinen wirklich Geschmack zu haben. Doch meine Aufmerksamkeit wird schnell auf etwas anderes gelenkt.
Durch das ganze Haus dröhnt ohrenbetäubend laute Musik. Keine Ahnung, was es ist, aber wirklich unglaublich laut. "Moah" motzt Gustav los und ich muss wider Willen grinsen. "Siehst du was ich meine? Das kann doch kein Mensch aushalten" wendet er sich wieder an mich und ich kann nichts anderes tun als nicken. Gustav lässt mich einfach stehen und stampft die Treppen nach oben. "Ey Bill, mach mal den Radau leiser, du hast Besuch!" schreit er gegen den Lärm an, der jetzt abrupt verstummt. Ich höre, wie eine Tür aufgerissen wird. "Lass mich in Ruhe mit dem Scheiß" meckert Bill und mir rutscht das Herz in die Hose. Jetzt werde ich ihn gleich sehen... und er scheint nicht wirklich gut gelaunt zu sein... soll ich flüchten? Ich könnte doch einfach den Rückwärtsgang einlegen, mich an die Straße stellen und nach Hause trampen... oder so. Während ich noch überlege, geht das Gemotze oben weiter. "Beweg deinen Arsch nach unten! Jetzt sofort!" Hui. Ich würde Gustav nicht widersprechen, wenn er so mit mir reden würde. Definitiv.
"Gustav, was hast du wieder genommen?" fragt Bill und seine Stimme ist irgendwie gefährlich leise geworden. "Gar nichts. Wie lange willst du sie noch warten lassen?" Gustav scheint unbeeindruckt zu sein. Ich fühle mich von Sekunde zu Sekunde unwohler. "Sie? Von wem redest du da eigentlich?" fragt Bill weiter und ich höre Gustav genervt schnaufen. "Mann Bill, frag nicht so viel, das kann ich jetzt echt gar nicht aushalten. Geh endlich runter und werd wieder normal" befiehlt er. "Du wirst immer wunderlicher" erwidert Bill und ich kann sein Kopfschütteln förmlich vor mir sehen.
Und dann: Schritte auf der Treppe. Ich werde kleiner und kleiner. Da ist er. Bleibt mitten auf der Treppe wie angewurzelt stehen und starrt mich an wie eine Fatamorgana. "Du?" Ungläubigkeit schwingt in Bills Stimme mit, aber auch Wut und noch etwas anderes. Seine Augen blitzen. Hat er schon immer so gut ausgesehen?
"Was willst du?" schleudert er mir die nächste Frage entgegen, bewegt sich aber immer noch keinen Millimeter weiter. "Gustav hat mich entführt" piepse ich unheimlich intelligent. Bill verdreht die Augen. "Toll" kommentiert er das Ganze und macht Anstalten, wieder nach oben zu verschwinden. "Hey! Warte!" Wie automatisch verlassen diese Worte meinen Mund und wieder fühle ich seinen stechenden Blick auf mir haften. Ich schweige. Bill schweigt. Und ich schweige immer noch.
Das war eine dumme Idee. Eine dumme Idee von Gustav. Und ich werde ihn verprügeln dafür, dass ich mich hier zum Affen mache. "Ich danke dir für dieses überaus geistreiche Gespräch Shirin" verliert Bill schließlich die Geduld, dreht sich jetzt endgültig um und geht schnellen Schrittes die Stufen nach oben. Dann höre ich eine Tür knallen.
Wie gelähmt stehe ich da und kann mich nicht rühren. Ich bin so blöd. Warum hab ich mich nur darauf eingelassen? Das bringt doch sowieso alles nichts und mir kann es doch egal sein, ob Bill komisch drauf ist oder ob Gustav das stört. Was bitte hab ich damit zu tun? Gustavs Gesicht taucht vor mir auf und ich kreische erschrocken, als er mich die Treppen hochzerrt. Wo kommt der denn so plötzlich her? "Spinnst du? Lass mich sofort los!" wehre ich mich und reiße an meinem Arm, was mir außer Schmerzen rein gar nichts einbringt. "Wie soll ich denn mit ihm zusammenleben, wenn er so drauf ist? Und du bist schuld daran, ich ahne, ach was, ich weiß es. Geh und bereinige das" zischt Gustav mir im Laufen von der Seite zu. "Zieh doch aus" schreie ich ungehalten und registriere nur halb, dass wir mittlerweile vor einer verschlossenen Tür stehen. Drinnen randaliert anscheinend jemand. "Wenn hier jemand auszieht, ist das Bill und nicht ich" klärt Gustav mich auf. Aha. Und was hab ich jetzt von dieser Information? "Gustav. Das ist mir schnurz, okay? Fahr mich nach Hause jetzt" nöle ich schon fast weinerlich. Irgendwas fliegt gegen die Tür und mir entfährt ein entsetztes Quieken. In welchem Irrenhaus bin ich nur gelandet?
Gustav lässt mich los und beginnt gegen das Holz zu hämmern. "Bill! Komm mal runter jetzt!" Die Tür fliegt auf und Bills Gesicht erscheint wie ein Racheengel in meinem Blickfeld. "Ich soll runterkommen? Was versprichst du dir davon, sie hier anzuschleppen? Tickst du noch richtig?" fährt er Gustav an. "Du redest ja nicht mit mir. Und ich kann mir schon denken, dass es was mit Shirin zu tun hat. Was habt ihr gemacht ihr beiden, hm?" Sein Blick wandert wissend von Bill zu mir und wieder zurück. "Du solltest das Denken lassen Schatz" faucht Bill Gustav an, fasst mich am Handgelenk, zieht mich ins Zimmer und schmeißt die Tür ins Schloss. Schatz? Hab ich hier was verpasst?
"Ich geh dann mal, macht keinen Blödsinn, ihr Süßen" flötet Gustav von draußen und dann entfernen sich schnelle Schritte. Ganz toll. Jetzt stehe ich hier in der Höhle des Löwen, die mir auch noch dummerweise ausgesprochen gut gefällt. Okay. Jetzt bloß nicht einlullen lassen von dem Geruch, der hier vorherrscht und von allem anderen auch nicht. Nicht von dem Wesen, das hier mit sich schnell hebender und senkender Brust vor mir steht und sich die Haare rauft.
"Setz dich" sagt Bill ruhig und deutet auf das Bett. Auf das Bett? Nein nein, dahin werde ich mich garantiert nicht setzen. "Ich steh lieber" gebe ich zu Protokoll. "Warum bist du hier?" ignoriert er meine Bemerkung. Gute Frage. Warum bin ich noch mal hier? Um mich von seinem Duft benebeln zu lassen? "Ähm" mache ich äußerst souverän. "Mann Shirin, stammel hier nicht rum. Gustav hat dich entführt... so einen Quatsch hab ich noch nie gehört. Was soll dieser Auftritt? Ich dachte, wir hätten alles geklärt" redet er weiter und er wirkt ziemlich aufgebracht auf mich. "Motz mich nicht so an" rege ich mich künstlich auf. "Beantworte mir meine Frage oder geh einfach" fordert Bill mich auf und übergeht gekonnt meinen Einwand. "Mensch Bill, Gustav hat mich einfach überrumpelt und... ich weiß nicht, warum ich hier bin" sage ich verwirrt. Ich weiß es wirklich nicht. "Okay, lass mich mal kurz zusammenfassen: Gustav kreuzt bei dir auf, bringt dich hierher und du weißt nicht mal warum? Was genau stimmt daran nicht?" fragt er und stellt sich so nah vor mich, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Oh Gott. Bitte nicht so nah, dann kann ich gar nicht mehr denken. "Bill, ich..." setze ich an, verstumme aber wieder. "Wenn ich dir so egal bin, wie du tust, warum stehst du dann hier? Warum redest du mit mir? Was fühlst du? Jetzt im Moment?" Das sind mir zu viele Fragen auf einmal. "Ich weiß nicht" wiederhole ich. "Dann finde es raus" flüstert Bill an meinem Ohr. Gänsehaut ist meine Reaktion darauf. Was tut er mit mir?
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