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34.
Bill hat sich ein Stück zurückgelehnt und sieht mir wieder in die Augen. Gut. Wenn ich jetzt nicht kopflos werden will, dann sollte ich dieses merkwürdige Knistern zwischen uns zerstören. Außerdem will ich gar nicht rausfinden, was ich für ihn fühle. "Was ist das eigentlich für ne komische Beziehung oder wie soll ich das nennen, die du mit Gustav führst?" frage ich jetzt einfach und ich habe Glück, Bills Gesichtsausdruck verändert sich und wirkt jetzt leicht verwirrt. "Wie meinst du das, Beziehung?" will er wissen und weicht einen Schritt von mir zurück. "Du willst doch wohl nicht behaupten, dass ihr eine normale Freundschaft habt, ich find das mehr als merkwürdig, wie ihr euch aufführt" setze ich noch einen drauf. "Du spinnst ja. Was soll denn diese Fragerei?" Ha. Jetzt hab ich ihn verunsichert. "Du hast ihn Schatz genannt!" kläre ich ihn auf und kassiere einen bösen Blick dafür. "Und?" fragt er wie unbeteiligt. "Und ich finde das nicht normal" bemerke ich lahm. Wer war hier gleich noch mal verunsichert? "Aber du findest es normal, dass man sich verarschen lässt?" Oh nein. Nicht dieses Thema wieder. Er bringt mich durcheinander damit jetzt.
"Ich mein ja nur" sage ich äußerlich ruhig. Wie nervös ich wirklich bin, muss er ja nicht wissen. Kurz lasse ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen über einige Klamotten und Gegenstände, die am Boden verstreut liegen und bleibe schließlich an den zerwühlten Laken im Bett hängen. Ob es bequem ist? Es sieht jedenfalls so aus. Was denke ich nur schon wieder...
"Gustav macht sich halt Sorgen" meint Bill und sieht mich durchdringend an. "Ihr seid wirklich komisch ihr beiden" kommentiere ich, registriere genau, dass Bill zusammenzuckt und weiß trotzdem nicht, wie ich das finden soll. "Wir sind nicht komisch. Shirin, warum bist du hergekommen? Um mir unsinnige Fragen zu stellen?" "Vielleicht wollte ich einfach nur sehen, wie es dem Bruder meines Freundes geht" rutscht mir raus. "Willst du mich provozieren?" Ein wissendes Grinsen schleicht sich um seine Mundwinkel. "Seh ich so aus?" kontere ich und merke, wie Bills Selbstsicherheit mit jedem Atemzug mehr und mehr zurückkehrt, während meine im Gegenzug schwindet. "Du siehst so aus, als wolltest du eine Entscheidungshilfe" meint er immer noch grinsend. "Entscheidungshilfe?" wiederhole ich irritiert. Jetzt hat er mich mal wieder völlig aus dem Konzept gebracht. Nicht, dass ich jemals ein Konzept gehabt hätte...
"Soll ich dir helfen?" fragt Bill weiter und steht plötzlich wieder so nah vor mir wie eben. "Wobei denn verdammt noch mal?" Krampfhaft versuche ich meine Verwirrtheit zu verbergen, doch es ist mehr als aussichtslos. "Du bist doch nicht hergekommen, um mit mir über Gustav zu quatschen" nuschelt er an meinem Mund. Noch einen Zentimeter weiter, und ich vergesse mich. "Doch" beharre ich eisern. "Wir werden jetzt aber nicht reden" bestimmt Bill, während er mir seinen warmen Atem ins Gesicht wirbelt. Oh Gott. Ich sollte gehen. Sofort. Ich kratze das letzte bisschen Verstand zusammen, das ich noch besitze. "Okay. Dann eben nicht. Ein schönes Leben noch" will ich eigentlich mit fester Stimme sagen, aber die Worte huschen nur als Flüstern aus meinem Mund. "Geh doch" grinst Bill, seine Augen funkeln mich an und jetzt hebt er eine Hand, legt sie an meine Wange. Wie automatisch schließe ich die Augen, lasse die Gänsehaut zu, die sich in rasender Geschwindigkeit auf meinem Körper ausbreitet. Wie schafft er das nur immer so schnell? Lässt mich einfach vergessen, was ich sagen wollte, reißt mir die Zügel mühelos aus der Hand. Das ist so ungerecht und gleichzeitig muss ich einsehen, dass ich doch selbst schuld daran bin. Ist es das was ich will? Hier zu stehen und diese ganzen Gefühle auf mich einstürzen zu lassen?
"Geh" bahnt sich Bills Stimme einen Weg durch mein vernebeltes Gehirn.
`Nein` denke ich. "Nein?" fragt Bill und ich reiße die Augen wieder auf. Hab ich das laut gesagt? Offensichtlich. "Du änderst deine Meinung ja verdammt schnell" wispert er und lässt gleichzeitig seine Hand in meinen Nacken wandern, während er mit den Fingerspitzen der anderen langsam meine Wirbelsäule rauf und runter streicht. Die letzte funktionierende Sicherung in meinem Kopf versagt mir den Dienst. Mein Herzschlag nimmt noch einmal gewaltig an Geschwindigkeit zu und ich kann nichts dagegen machen, plötzlich sehne ich mich nach ihm, nach seiner Nähe, seinen Berührungen...
`Ich dreh durch ` ist der letzte Gedanke der durch mein Hirn rast, bevor ich mich ihm in einer schnellen Bewegung entgegendränge. Bill stolpert rückwärts und zieht mich mit, bis ich mich nur Sekunden später auf seinem Bett wiederfinde. Ohne nachzudenken schwinge ich mich auf seinen Schoß und beuge mich runter zu seinem Gesicht. Unsere Blicke kleben für eine gefühlte Ewigkeit aneinander. Wie kann ein Mensch einen so fesselnden Blick haben? "Du bist schön, wenn du dich aufregst" haucht Bill mir mit rauchiger Stimme entgegen und das bricht jetzt endgültig das Eis. Ich kann mich einfach nicht mehr beherrschen und fast ungestüm presse ich meine Lippen auf seine. War es letztes Mal auch schon so gut - so intensiv? Ich weiß es nicht und es wird mir auch zunehmend egal, je mehr Bill meinen Kuss erwidert.

35.
Bill unterbricht kurz den Kuss und sieht mir einige Sekunden nur stumm in die Augen. Das hier ist jetzt meine letzte Gelegenheit, mich umzudrehen und nach Hause zu gehen. Doch ich bin unfähig, irgendwas zu tun, und ich kann immer noch nicht sagen, was mich eigentlich so sehr an ihm anzieht. Ich kenne ihn ja kaum. Aber das hier ist anders. Das hier ist gefährlich. Vielleicht ist grade das der Reiz. Ich weiß es nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen will.
„Weißt du, worauf ich jetzt Lust habe?“ reißt Bill mich aus meinen Gedanken. Was soll jetzt diese bescheuerte Frage? Ich muss wohl ziemlich irritiert gucken, denn Bill fängt an zu grinsen. „Wenn du jetzt anfängst zu quatschen, geh ich“ drohe ich schon wieder halb bei Verstand.
Bill legt eine Hand in meinen Nacken und zieht mich wieder zu sich herunter. „Du gehst nirgendwo hin“ sagt er provozierend, seine Stimme treibt mir Gänsehaut über den Rücken. Er verschließt meine Lippen zu einem erneuten Kuss, bei dem ich endgültig alles um mich herum vergesse. Unter wohligen Seufzern lasse ich es zu, dass er mir mein Shirt über den Kopf zieht und es achtlos neben das Bett wirft. Mein Körper fühlt sich jetzt schon an, als würde er brennen. Zum Umkehren ist es zu spät. Bill beginnt, sanft an meinem Ohr zu knabbern, verteilt Küsse auf meinem Hals und beißt dann leicht hinein. „Nicht aufhören“ flüstere ich atemlos in sein Ohr und ernte ein diabolisches Grinsen. Und plötzlich finde ich, dass er viel zu viele Klamotten an hat. „Zieh das aus“ bestimme ich und zerre ungeduldig an seinem T-Shirt, bis es schließlich unbeachtet auf dem Boden landet. Langsam und genießerisch küsse mich dann an seinem Oberkörper entlang, während Bill sich in meinen Haaren festkrallt, bis ich am Bund seiner Hose ankomme. Auch diese landet samt Boxershorts nach kurzer Zeit neben dem Bett. Ich merke, wie ich ungeduldig werde, immerhin soll das hier keine romantische Liebesnacht werden. Ich will mich hier jetzt nicht länger aufhalten, ihn spüren und nicht mehr denken.
Grinsend stelle ich fest, wie sein Atem sich mehr und mehr beschleunigt. Ohne noch lange zu fackeln helfe ich ihm, mich von meinen restlichen mehr als störenden Klamotten zu befreien und setze mich dann zurück auf seinen Schoß. Wieder zieht Bill mich zu sich runter und küsst mich langsam und verlangend. Vernichtend. Seine Zunge stupst an meine Oberlippe und fordert meine zum Spiel heraus. Er macht mich halb wahnsinnig damit. Immer wieder entweichen mir kleine Seufzer, immer öfter müssen wir den Kuss unterbrechen. Alles was ich fühle, ist Begehren und meine Eingeweide haben sich in ein brodelndes Etwas verwandelt. Seine Hände haben sich verselbständgt und streichen unaufhörlich über meinen Körper, necken mich und bringen mich zum Keuchen. Ich spüre, dass er es nicht mehr länger aushält und auch ich kann mich kaum noch zurückhalten.
„Ich will Dich jetzt“ wispert Bill an meinem Hals. Erneut muss ich grinsen, verschließe seinen Mund mit einem besonders intensiven Kuss und dann spüre ich nur noch, wie er mich endlich ausfüllt und meine Seufzer verwandeln sich in Stöhnen. Es ist gut. Es ist mehr als das. Allein schon diese sanften Bewegungen lassen das Zimmer um mich herum zu einem Schleier verschwimmen. Bill legt die Hände auf meine Hüften und intensiviert das Tempo.
Und plötzlich hört er auf, hat mich in einer schnellen Bewegung auf den Rücken gedrückt und schon wieder dieses verschlagene Grinsen im Gesicht. „Was soll das werden?“ bringe ich schwer atmend hervor. „Unvergesslich soll es werden“ bekomme ich die geflüsterte Antwort. Mein Gott. Will er mich zappeln lassen? Allein schon sein Blick genügt, um mir das Gefühl zu geben, tausend Ameisen würden über meinen Körper krabbeln. „Bill!“ jammere ich und handele mir doch nur wieder ein neuerliches Grinsen von ihm ein. Aufreizend langsam versenkt er sich wieder in mir, sieht mir dabei direkt in die Augen und hält meinen Blick fest, ich kann mich einfach nicht von seinen tiefbraunen Augen lösen. Allein das reicht schon, um wahnsinnig zu werden, doch jetzt fängt er an, sich zu bewegen. Oh mein Gott. Ich kann nichts dagegen tun, ich wimmere unter ihm nach Erlösung. Und er tut mir endlich den Gefallen, schließt die Augen und wird schneller und schneller, stöhnt in mein Ohr. Meine Atmung geht abgehackt und mir ist so heißt, dass ich glaube, innerlich zu verglühen.
Mittlerweile kann ich unser Stöhnen nicht mehr auseinanderhalten. Unkontrolliert kralle ich meine Fingernägel in seinen Rücken und mit einem letzten "Oh mein Gott" explodiere ich schließlich. Nur ganz am Rande bekomme ich mit, wie Bill nach einem letzten Aufbäumen über mir zusammenbricht und schwer atmend auf mir liegen bleibt. Sein Atem geht stoßweise und ich bemerke erst jetzt den leichten Schweißfilm, der unsere Körper überzogen hat. Erschöpft schließe ich die Augen und lasse es wie in Trance zu, dass Bill mich in seine Arme zieht.
* * *

36.
Gedankenverloren starre ich an die Zimmerdecke, während Bill unaufhörlich eine meiner Haarsträhnen zwischen seinen Fingern zwirbelt. "Magst du auch ne Zigarette?" fragt er mich aus heiterem Himmel. "Gerne" bringe ich hervor, bin irgendwie froh, dass er jetzt ein bisschen Abstand zwischen unsere Körper bringt, indem er sich aus dem Bett beugt und in einer Kommode zu wühlen beginnt. Reflexartig ziehe ich die Bettdecke weiter nach oben, als könnte ich damit verstecken, was ich fühle. Und ich fühle mich schrecklich. Das angenehme warme Kribbeln von eben hat Platz gemacht für ein mehr als schlechtes Gewissen und dem Bedürfnis nach Flucht. "Hier" reißt Bill mich erneut aus meinen Gedanken, hält mir eine Zigarette unter die Nase und gibt mir dann Feuer. Uh. Irgendwie beruhigt mich das jetzt für den Moment, auch wenn ich weiß, dass es nur ein bitterer Trugschluss ist. Aber so kann ich wenigstens etwas tun, kann mich auf das Einatmen und Ausatmen konzentrieren, habe etwas in der Hand an dem ich mich festhalten kann und muss Bill nicht in die Augen sehen. Und nach dieser Zigarette werde ich gehen. Für immer. Endgültig.
"Woran denkst du?" fragt Bill während er den Rauch ausstößt und ich wage einen kurzen Seitenblick, sehe, wie er mich aufmerksam beäugt. "An nichts" lüge ich fast routinemäßig. Bill runzelt die Stirn. "Hör zu Shirin, ich weiß jetzt schon, dass du zurückgehen wirst und wahrscheinlich nie mehr wiederkommst. Aber bitte lüg mich nicht an" sagt er mit Nachdruck. Und macht damit Eindruck auf mich. Ich nicke langsam, bedächtig. Und stelle dann eine Frage, die mir seit vorhin im Kopf rumspukt. Nur hatte ich sie für eine Weile verdrängt. "Warum hast du Gustav Schatz genannt Bill?" will ich erneut wissen und jetzt sehe ich ihm offen ins Gesicht. "Ist das noch wichtig?" gibt er nach einem Augenblick Überlegen zurück und ich schüttele den Kopf. Nein. Eigentlich ist es nicht mehr wichtig. „Ich werd trotzdem versuchen, es dir zu erklären“ redet Bill einfach weiter. „Er war für mich da in einer Zeit, in der es mir nicht so besonders ging. Es geht einfach tief und manchmal rutschen mir dann halt so Sachen raus“ fügt er hinzu und ich hab trotzdem immer noch das Gefühl, dass mehr dahinter steckt. Aber ich werde mich wohl mit seiner Antwort zufrieden geben müssen. „Hm“ mache ich deshalb nur.
Gleichzeitig drücken wir unsere Zigaretten aus und jetzt will ich wirklich nur noch weg. Das hier war wahrscheinlich der größte Fehler meines Lebens und am liebsten würde ich alles aus meinem Gedächtnis streichen. Müde setze ich mich auf und angele nach meinen Sachen, die neben dem Bett verstreut liegen. Bills Blicke, die er mir immer wieder zuwirft, sind mir mehr als unangenehm. Natürlich bin ich nicht aus Spaß mehr oder weniger über ihn hergefallen. Und doch möchte ich es jetzt rückgängig machen. Bill schweigt die ganze Zeit und erst als ich vollständig angezogen bin, wage ich es wieder, ihn anzusehen. Er sitzt aufrecht im Bett und verfolgt meine Tätigkeiten stumm. Und ich weiß einfach nicht, was ich jetzt sagen soll. Jedes Wort wäre das falsche, mit nichts könnte ich den inneren Kampf, der in mir tobt, zum Ausdruck bringen. Alles, was mir einfällt, kommt mir lächerlich und albern vor. Doch an der Tür drehe ich mich noch einmal um. Vielleicht versteht er ja auch so, dass ich jetzt nichts sagen kann. Der Blick, den ich von ihm auffange, berührt mich ganz tief drin, zumindest für eine Sekunde. Dann tritt mein natürlicher Abwehrmechanismus wieder in Kraft und ich setze mich meine Flucht fort. Gerade, als ich durch die Tür schlüpfen will, hält mich seine Stimme auf. „Shirin, du kannst vielleicht dir selber was vormachen. Aber ich hab`s gesehen. Ich hab`s in deinen Augen gesehen, als du unter mir gewimmert hast!“ Wie kann er es wagen, so etwas zu sagen...
„Bill, hör auf damit! Lass es einfach, okay?“ Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt und sofort tut es mir wieder leid. Ich weiß, dass er Recht hat. Aber ich kann einfach nicht. Bill reagiert nicht auf mich, hat sich abgewendet und sieht aus dem Fenster. Scheiße. Er soll mich nicht damit konfrontieren. Wo ist der provozierende, gemeine, durchtriebene Bill hin, über den ich mich so maßlos aufgeregt habe? Das hier ist nicht fair.
Anscheinend hat er nicht vor, mich noch eines Blickes zu würdigen und so trete ich jetzt endgültig in den Flur. Die Tür ist nur noch einen kleinen Spalt geöffnet, als doch noch einmal ein leise gerufenes „Shirin“ an meine Ohren dringt. Ich halte inne. Wende den Kopf und sehe ihn an. „Was denn Bill?“ Jetzt habe ich wesentlich freundlicher als noch vor ein paar Sekunden geklungen. „Nichts“ sagt Bill und mir ist trotzdem, als könnte er in mein Innerstes sehen. Mit einem Ruck schlage ich die Tür zu und bleibe einen Moment wie benommen stehen. Versuche meinen Herzschlag zu beruhigen, mich zu sammeln, regelmäßig zu atmen und nicht den Verstand zu verlieren.
Irgendwann fühle ich mich in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzten, ohne Gefahr zu laufen dabei die Treppen runterzufallen. Wie soll ich jetzt eigentlich nach Hause kommen? Der Weg war ganz schön weit. Aber vielleicht hilft mir ein Spaziergang, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und mir zu überlegen, wie ich Tom gegenübertreten soll.
Unten an der Tür dreht sich gerade der Schlüssel im Schloss und Gustav steckt seinen Kopf herein. „Du siehst schrecklich aus“ kommentiert er meinen Anblick. „Ja danke Gustav, darauf wird eine Frau besonders gern hingewiesen“ sage ich sarkastisch. „Was ist denn passiert?“ fragt er unbeeindruckt und schließt die Tür hinter sich. „Das willst du nicht wissen. Ich geh jetzt einfach nach Hause“ murmele ich, schon wieder halb in Gedanken versunken. „Nee, nee, warte mal kurz“ meint er und verschwindet in einem angrenzenden Raum. Kurz überlege ich, doch einfach zu gehen, aber da taucht er schon wieder auf, wedelt mit einem Schlüssel vor meinem Gesicht herum und ruft „Ich bring dich schnell!“ „Ich hab jetzt keine Lust auf Motorrad“ wehre ich ab, aber er fährt mir schon wieder dazwischen. „Nein, wir nehmen Bills Karre!“ Perplex schaue ich ihn an. Darf er das denn so einfach? Will er nicht lieber erst mal fragen? Andererseits möchte ich jetzt nichts sehnlicher als hier weg und Gustav wird schon wissen, was er tut. „Von mir aus“ willige ich schließlich ein.
„Habt ihr euch gestritten?“ löchert Gustav mich weiter, nachdem er sich in den Verkehr eingefädelt hat. Ich schüttele den Kopf. „Was dann?“ fragt er nochmals. „Mensch Gustav, lass es doch jetzt. Streich mich aus deinem Leben und sag Bill das Gleiche. Wir sind uns einfach nie begegnet“ muffele ich vor mich hin und wünsche mir gleichzeitig, dass es wirklich so einfach wäre. „Mhmh“ macht Gustav neben mir, sagt aber dann nichts mehr, bis wir vor meinem Haus ankommen. „Ich bin ja noch nicht davon überzeugt, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben“ meint Gustav zu mir. „Ich schon. Und lass dir nicht noch mal so eine Aktion wie heute einfallen, ja?“ gebe ich zurück und er nickt. „Ihr seid schon wirklich eigenartig, ihr beiden“ bemerke ich mehr zu mir selbst als zu Gustav, während ich gleichzeitig aussteige. Er schenkt mir einen nicht deutbaren Blick und dann fährt er auch schon davon.
Und jetzt stehe ich hier, die graue Fassade unseres Hauses türmt sich vor meinen Augen auf wie ein unüberwindbarer bedrohlicher Berg und mir wird schlecht. Ich muss jetzt da rein. Ich muss jetzt mit Tom reden, es nützt alles nichts.
* * *

37.
Im Treppenhaus ist es merkwürdig still, nur meine Schritte hallen ungewöhnlich laut von den Wänden wider. Jedenfalls kommt es mir so vor. Und mit jedem Schritt werde ich langsamer und das kommt mir nicht nur so vor, das ist eine Tatsache. Doch schneller als mir lieb ist, stehe ich trotzdem vor unserer Wohnung. Mit Magenkrämpfen und Kopfschmerzen. Vielleicht habe ich es nicht besser verdient.
Vorsichtig stecke ich den Schlüssel ins Schloss und schiebe die Tür auf. Alles ruhig. Viel zu ruhig. „Tom?“ rufe ich verhalten und doch laut genug, dass er mich gehört haben müsste – wenn er denn da wäre. Aber die Wohnung ist totenstill und irgendwie veranlasst es mich grade dazu, erleichtert aufzuatmen. So kann ich den großen Knall noch ein bisschen vor mir herschieben, kann noch ein bisschen in meinem Selbstmitleid zerfließen und mir tausend Gedanken machen. Als erstes sehe ich zu, dass ich unter die Dusche komme. Danach fühle ich mich zwar rein körperlich gesehen wieder sauber, aber das schlechte Gewissen ist wie zu erwarten leider nicht im Abfluss verschwunden.
Und dann sitze ich im Wohnzimmer auf der Couch, starre blicklos aus dem Fenster und hänge meinen Phantasien nach. Die brennendste Frage die mir auf der Seele liegt ist, wohin Tom schon wieder verschwunden ist. Und wann er wohl wiederkommt. Ob er überhaupt wiederkommt. Spätestens wenn er mich sieht, wird er es mir an der Nasenspitze ansehen können, davon bin ich überzeugt. Und ich habe auch gar nicht vor, ihn anzulügen. „Bau keinen Mist“ hat er zu mir gesagt. Immer wieder rast dieser Satz durch meinen Kopf. Hat er schon vorher gewusst, dass ich genau das tun werde? Und wenn ja, warum hat er mich dann quasi zu Bill geschickt?
Gerade als ich kurz davor bin, wahnsinnig zu werden, dreht sich der Schlüssel im Schloss und Tom kommt durch die Tür. Und schon steht er im Wohnzimmer. Und dann direkt vor mir. Nur kurz schaue ich hoch in seine Augen, senke dann sofort wieder den Blick. Er weiß es. Selbst in dieser einen Sekunde Blickkontakt habe ich gesehen, dass er es weiß. In solchen Dingen bin ich eben eine miserable Lügnerin. Laut schnaufend lässt Tom sich neben mir auf der Couch nieder. Ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben, obwohl ich denke, dass jeden Moment mein Herz explodiert. „Shirin, hast du mir was zu sagen?“ fragt er schließlich so leise, dass ich ihn kaum verstanden habe. Mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Panik sehe ich ihm endlich ins Gesicht. Äußerlich wirkt er ganz ruhig, aber ich weiß, dass es unter der Oberfläche brodelt. „Tom, ich weiß, nicht wie ich das sagen soll“ fange ich an zu stammeln und breche dann ab, warte, ob er mir zu Hilfe kommt. Aber Tom scheint die Macht über mich jetzt zu brauchen, kostet es aus, dass ich mich so beschissen fühle wie noch nie in meinem Leben und lässt mich zappeln. Es dauert gefühlte Minuten, bis er wieder etwas sagt. Gefühlte Minuten, in denen ich krampfhaft versuche, seinem Blick standzuhalten und nicht die Fassung zu verlieren. „Ich will es aber hören Shirin. Ich will aus deinem Mund hören, was du zu sagen hast“ meint er ganz ruhig, aber immer noch hab ich das Gefühl, seine Augen würden mich durchbohren. Quält er mich absichtlich so? Bringt ihm das Genugtuung? „Du weißt doch, was passiert ist“ würge ich mit brüchiger Stimme hervor. „Na und? Hab ich nicht wenigstens das Recht, es aus deinem Mund zu hören?“ fragt er kalt und mein Gefühl ändert sich langsam, jetzt mischt sich ein bisschen Wut dazu. „Scheiße. Ja. Ja, ich hab mit Bill geschlafen. Bist du jetzt zufrieden?“ gebe ich zu, während die erste Träne ungehindert meine Wange herabläuft. Tom verengt die Augenbrauen und schaut dann regelrecht angeekelt in eine andere Richtung, als könne er sich das Elend nicht länger mit ansehen. „War es gut?“ stellt er als nächste Frage, sieht mich aber immer noch nicht an. Ich glaube zuerst, ich hab mich verhört, so desinteressiert hat Tom geklungen. „Tom...“ bringe ich hervor, verstumme wieder, weiß nicht, wie ich auf ihn reagieren soll. Muss er es denn noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist? „Ich hab dich was gefragt“ schreit er plötzlich los und springt gleichzeitig vom Sofa hoch. „Es ist doch bedeutungslos“ quetsche ich zwischen zwei Schluchzern heraus. Aber genauso ist es auch unvergesslich, so wie Bill es mir vorhin zugeflüstert hat. Das wird mir eigentlich erst jetzt so richtig bewusst. Es ist egal, was ich tue, nichts macht es ungeschehen. Eine widerliche Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus.
„Es ist nicht bedeutungslos, das weißt du genauso gut wie ich Shirin“ reißt Tom mich aus meinen Gedanken. Wahrscheinlich hat er Recht. Für uns ist es nicht bedeutungslos. „Und so sehr ich auch drauf stehe, wenn du mit anderen Männern flirtest, irgendwo ist Schluss. Ich kann das einfach nicht“ ruft Tom, während er mit den Armen in der Luft herumfuchtelt. Was meint er denn damit? „Was kannst du nicht?“ frage ich wie ein Roboter, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, nur um Platz für neue zu machen. „Ich kann einfach nicht glauben, dass er so großen Einfluss auf dich hat. Und ich hab dich auch noch zu ihm geschickt. Ich muss verrückt geworden sein!“ Tom schüttelt den Kopf über seine Dummheit, Leichtsinnigkeit oder was auch immer. Vielleicht hat er mir auch einfach nur vertraut...
Als mir dieser Gedanke in den Sinn kommt, vergrabe ich gequält das Gesicht in meinen Händen. „Shirin, bitte hör auf zu weinen“ dringt Toms Stimme plötzlich ungewohnt sanft an mein Ohr. „Ich kann das nicht ertragen, wenn du weinst“ bekräftigt er noch einmal, kniet sich vor mich und nimmt mir die Hände vom Gesicht. Immer noch schluchzend sehe ich ihn an. „Unser ganzes Leben ist doch scheiße“ sage ich schließlich fast trotzig. „Quatsch. Ich frage mich nur ernsthaft, welchen Teil von „Bau keinen Mist“ du nicht verstanden hast“ erwidert Tom, aber es klingt nicht vorwurfsvoll. Es klingt resigniert. Wie geschlagen senke ich den Blick gen Fußboden, als müsste ich dort etwas unheimlich spannendes studieren. „Shirin, ich muss nachdenken. Ich brauch jetzt Zeit für mich. Ich werde ein paar Tage zu Markus ziehen“ sagt Tom und lässt dabei meine Hände los. Seine Worte höre ich nur wie durch Watte, und doch treffen sie mich mit voller Wucht. Er will also nicht mehr. Er will mich nicht mehr. Erneut beginnen die Tränen zu laufen, ich kann einfach nicht glauben, dass er einfach wegläuft. Sein jetzt geflüstertes „Ich liebe dich“ geht fast völlig an mir vorbei und gleichzeitig macht es mich unendlich wütend. „Du liebst mich? Toll, Tom. Bin ich gegangen, als ich deine ganze Lügerei erfahren hab?“ schreie ich lauter als geplant und sehe befriedigt, wie er zusammenzuckt. Ich bin dabei, alles gänzlich kaputtzumachen, aber in diesem Augenblick ist es mir völlig egal.
Tom steht auf und straft mich mit einem Blick, der mich bis ins Mark erschauern lässt. Dann dreht er sich um und lässt mich sitzen. Auf einmal fühle ich mich leer und ausgebrannt, und ich habe nicht die Kraft, etwas zu sagen, geschweige denn ihm hinterher zu laufen. Das letzte was ich höre ist die klappende Wohnungstür.
38.
Die nächsten Tage verbringe ich weitestgehend im Bett, um an die Decke zu starren. Ich kann mittlerweile nicht mal mehr sagen, welchen Wochentag wir haben. Ich esse kaum und als ich an diesem Nachmittag zum ersten Mal wieder vor dem Badezimmerspiegel stehe, trifft mich fast der Schlag. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so entsetzlich ausgesehen zu haben. Meine Augen sind verquollen, die Haare stehen mir wirr vom Kopf und wie ich rieche möchte ich gar nicht so genau wissen. Und plötzlich werde ich wütend auf mich selbst. „Du lässt dich gehen Shirin!“ fauche ich mein Spiegelbild an. Denn eigentlich ist es nicht meine Art, mich hängen zu lassen. Eigentlich bin ich eine Kämpfernatur. Aber ich habe auch noch nie so einen Scheiß gebaut und noch nie habe ich mich so nach jemandem gesehnt wie die letzten Tage nach Tom.
Auch Bill spukt in meinem Kopf herum, auch ihn vermisse ich irgendwie, aber anders als Tom. Und ich schaffe es fast immer relativ schnell, ihn wieder zu verdrängen. Es ist nun mal passiert. Ich kann es nicht ungeschehen machen, aber es ist vorbei. Ich sollte mir jegliche Gedanken an ihn verbieten. Außerdem hab ich mich lange genug selbst bemitleidet.
„Heute tu ich mal was für mich“ murmele ich leise vor mich hin, während ich unter die Dusche steige. Ich werde mich hübsch machen, mein letztes Geld zusammenkratzen und mir etwas vernünftiges zu Essen kaufen. Und dann zusehen, dass ich ein bisschen Kohle auftreibe. Besser wär ja noch ein Job, aber man soll ja nicht zu viel auf einmal verlangen...
Zwei Stunden später bin ich einigermaßen zufrieden mit mir und mein Magen knurrt sogar. Muss an der ungewohnten Bewegung liegen oder so... die letzten Tagen habe ich mich ja kaum aus dem Bett getraut. Mit gemischten Gefühlen schnappe ich mir meine Tasche und werfe die Wohnungstür hinter mir zu. Auf dem Weg nach unten kommen mir schon wieder Zweifel. Was, wenn Tom es sich ausgerechnet heute einfallen lässt, mit mir reden zu wollen? `Dann wird er auf dich warten müssen – was tust du denn seit Tagen?` erklingt eine Stimme in meinem Kopf. „Ich gehe jetzt!“ sage ich noch einmal laut, so dass es im Treppenhaus hallt. Wenn ich noch länger tatenlos in meiner Wohnung sitze, werde ich verrückt. Die ersten Anzeichen haben wir ja schon. Wer redet denn mit sich selber?
***
Ich bin so blöd. Warum bin ich hergekommen? Ich bin doch nur satt und die frische Luft genießend durch die Gegend gelaufen und mit einem Mal stand ich vor dieser Bar – vor genau der Bar, in der ich Gustav und Bill kennen gelernt habe... und jetzt stehe ich mitten drin im Getümmel. Warum? Hat mich mein Unterbewusstsein hierher gelockt, damit es mit all seinen Erinnerungen und Gesprächsfetzen wieder auf mich einprügeln kann? Am liebsten würde ich gleich wieder rückwärts rauslaufen – andererseits, ja andererseits bin ich doch eine starke Frau. Niemand sieht mir an, wie es mir tief innen drin geht. Außerdem kann man in diesem Laden hier Geld machen, das weiß ich aus Erfahrung. Und Geld brauche ich mal wieder mehr als dringend.
Nach einem Blick auf den Stuhl, auf dem Gustav damals gesessen hat, beruhige ich mich wieder ein bisschen. Er ist leer. Kein Gustav ist hier, kein Bill... aber auch kein Tom, der mir den Rücken stärkt.
Ich muss mich ablenken. Etwas Geld hab ich ja noch übrig und so setze ich mich schließlich hin und bestelle einen Tequila Sunrise. Alkohol. Anders werde ich den Abend nicht überstehen. Nach den ersten paar Schlucken geht mein Atem wieder regelmäßig und mein Herzschlag hat sich normalisiert. Kein Grund zur Aufregung.
Aber mit einem gelangweilten Blick durch den Raum leider auch kein passendes Opfer in Sicht. Alle Männer die auch nur halbwegs in Frage kommen, sind entweder nicht allein oder so widerlich, dass ich es im Leben nicht drauf anlegen werde. Ich sollte nach Hause gehen und den Abend unter allgemeine Katastrophen verbuchen.
Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick schweifen und bleibe mit meinen Augen plötzlich geschockt mitten auf der kleinen Tanzfläche kleben. Jetzt muss ich wirklich hier raus. Kein geringerer als Gustav tanzt sich da die Seele aus dem Leib und befingert dabei mal wieder irgendeine Tussi. Und ich sollte jetzt hier schnellstens verschwinden, bevor er mich entdeckt. Hektisch werfe ich mein Geld auf den Tresen und springe von meinem Stuhl. Ich merke, wie mir das Adrenalin durch die Adern pumpt und muss mich arg zusammenreißen, um nicht zu rennen. Wo ist bloß meine Gelassenheit abgeblieben? Früher konnte mich auch nichts aus der Ruhe bringen. Erst seit ich diese beiden Jungs kenne, drehe ich regelmäßig durch.
Kopfschüttelnd laufe ich dem Ausgang entgegen und beruhige mich auch ganz langsam wieder. Anscheinend hab ich noch mal Glück gehabt und Gustav ist viel zu beschäftigt, um nach bekannten Leuten Ausschau zu halten.
Endlich kommt der rettende Ausgang in Sicht und gerade als ich mich durch die Tür quetsche, pralle ich mit jemandem zusammen. Wütend schaue ich auf und blicke in ein dunkelbraunes, überrascht aussehendes Augenpaar. Ich hätte es einfach wissen müssen. Niemals hätte ich einen Fuß vor meine Tür setzen und niemals hätte ich dieses Lokal betreten dürfen. Sekundenlang starrt er mir in die Augen, nur um dann der Überraschtheit ein verschlagenes Grinsen folgen zu lassen. „Schön dich zu sehen“ sagt er unbekümmert, während ich ihm nur ein böses „Bill!“ entgegenknurre. Ich will einfach weiterlaufen, weg von ihm, weg von seinem auf mich einströmenden Geruch, der Erinnerungen weckt, die ich lieber für immer begraben will. Aber er hält mich am Arm zurück. „Was soll das?“ fahre ich ihn aufgebracht an. „Wo du schon mal hier bist und das ganz allein wie ich sehe“ er lässt seinen Blick einmal in die Runde schweifen, „darf ich dir jemanden vorstellen?“ Wovon redet dieser Mensch? Ich bin zu perplex um zu antworten.
Erst jetzt sehe ich, wie ein Mädchen hinter seinem Rücken hervortritt. Noch während ich denke, was für ein makaberes Spielchen er jetzt wohl wieder mit mir treiben will, sehe ich ihr flüchtig ins Gesicht. Und der Anblick lässt mein Herz zu Eis gefrieren.

39.
Das gibt’s doch einfach nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie ist meine Schwester. Sie sieht mir so verdammt ähnlich, dass ich sie nur fassungslos anstarren kann, während gleichzeitig meine Gedanken rasen wie verrückt. Ihren Blick kann ich nicht deuten, aber jetzt reißt sie sich von meinem Anblick los und fragt Bill: „Ist sie das?“ Bill nickt nur.
Hallo? Bin ich nicht eigentlich diejenige, die hier Fragen stellen sollte? Auf einmal wird mein Kopf wieder klar. „Du weißt doch ganz genau, wer ich bin“ fauche ich sie an, denn den kleinen schmutzigen Brief an Tom hab ich noch nicht vergessen. Und jetzt tut sie hier so unschuldig. Und was verdammt noch mal macht sie hier mit Bill? War ich doch nur eine kleine Spielfigur in einem Spiel, das ich noch nicht verstehe? Wurde ich nur nach Belieben hin und her geschoben, wie es den anderen grade gepasst hat? Und hat Bill mich deshalb von Anfang an so provoziert, weil ich ihn an sie erinnert habe?
„Ja, ich weiß, wer du bist, aber weißt du auch wer ich bin?“ fragt sie mich und unterbricht damit meine Gedankengänge. „Eva“ gebe ich schwach von mir und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Mund aus. „Ja, Eva. Ein schöner Name, findest du nicht? Fast so schön wie Shirin“ stellt sie fest, streicht sich dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sieht mir damit noch ähnlicher. „Was soll das alles hier?“ pampe ich jetzt Bill an, der schweigend daneben steht. Er gibt mir keine Antwort, noch nicht. Es scheint ihm Spaß zu machen, mich zu verwirren. „Ich bin nur mit einem alten Freund unterwegs. Und was machst du hier so ganz allein?“ ergreift Eva wieder das Wort, immer noch zuckersüß lächelnd und die Ruhe selbst. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich kann nichts erwidern. Am liebsten würde ich einfach davonrennen, aber ein bisschen Würde muss ich mir dann doch noch bewahren. „Es war ja nicht geplant, dass du heute hier auftauchst, du wirfst unsere ganzen Pläne damit über den Haufen“ bringt Eva mich jetzt völlig aus dem Konzept. „Was?“ Ich wollte nicht, aber ich hab geschrien und jetzt drehen sich ein paar Leute verständnislos dreinschauend nach uns um. „Eva, hör auf! Und Shirin, schrei hier nicht so rum! Hast du schon vergessen, was ich dir zu deinem Temperament gesagt hab?“ Bills Stimme klingt scharf in meinen Ohren und das bringt mich jetzt endgültig zum ausrasten. „Sag mal hast du sie noch alle? Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?“ schreie ich noch lauter als eben und will gerade auf ihn losgehen, als ich von hinten festgehalten werde. „Loslassen!“ kreische ich weiter und versuche mich verzweifelt zu befreien. Ich kann mich halb in den Armen desjenigen drehen, der mich festhält und erkenne Gustav. „Shirin, ich lass dich los, wenn du dich beruhigst“ redet er beschwichtigend auf mich ein, aber das macht mich nur noch rasender. „Ich soll mich beruhigen? Dreht ihr alle durch?“ Ich hab meine Stimme nicht mehr unter Kontrolle und höre mich langsam an wie eine durchgedrehte Irre. „Shirin!“ schnauzt Gustav mich an, dreht mich um und hält mich an den Schultern fest, so dass ich nicht weglaufen kann. „Shirin, bitte reg dich nicht auf. Merkst du denn nicht, dass Bill dich nur verletzen will?“ Ich werfe einen Blick auf Bill, dessen Miene sich versteinert hat. Allem Anschein nach gefällt ihm Gustavs Auftritt ganz und gar nicht.
Sollte Gustav womöglich Recht haben mit dem, was er sagt? Aber ergibt das dann mehr Sinn?
Eigentlich bin ich noch verwirrter als vorher, aber wenigstens hab ich mich wieder einigermaßen im Griff. „Komm mit“ befiehlt Gustav, nimmt meine Hand und schleift mich hinter sich her nach draußen.
„Jetzt sag mir endlich, was hier los ist, verdammt noch mal!“ Ich drohe schon wieder die Fassung zu verlieren, als ich Gustav draußen gegenüber stehe und er absolut keine Anstalten macht, mich aufzuklären.
„Sie stand einfach vor unserer Tür Shirin, und ich kann dir sagen, dass sie mir sofort unsympathisch war“ fängt Gustav zusammenhanglos an zu brabbeln. „Aha“ mache ich teilnahmslos. „Und sie ist böse, glaub mir“ redet er weiter und ich fange hysterisch an zu kichern. Das ist so paranoid.... ich dachte, Bill wäre böse, dann dachte ich, Tom wäre böse und zum Schluss dachte ich das auch noch von Gustav. Und jetzt stellt er sich hier hin und erzählt mir, Eva wäre böse... das ist alles zu verrückt, um es zu begreifen. „Was ist?“ fragt Gustav mich und mustert mich irritiert. „Nichts, erzähl ruhig weiter“ antworte ich, und versuche, meinen Lachanfall unter Kontrolle zu bringen. „Na jedenfalls hat sie doch leichtes Spiel mit Bill gehabt, so wie der drauf ist seit ein paar Tagen“ sagt Gustav und jetzt bekomme ich einen `und du bist Schuld daran-Blick` geschenkt. „Was willst du mir eigentlich damit sagen Gustav?“ Juhu, ich kann wieder normal sprechen. „Shirin, merkst du denn nicht, dass er sie benutzt, um dich eifersüchtig zu machen?“ regt Gustav sich auf. Ich muss mir auf die Zunge beißen, um den schmerzhaften Stich in meinem Herzen zu ignorieren. „Es ist schon komisch, dass diese Eva ausgerechnet jetzt auftaucht“ fügt Gustav hinzu. „Das finde ich allerdings auch. Tom meinte, sie würde uns in Ruhe lassen jetzt“ murmele ich vor mich hin und muss gleichzeitig bei dem Gedanken an Tom schlucken. „Ich versteh das alles genau so wenig wie du“ gesteht Gustav und irgendwie glaube ich ihm das nicht so ganz. „Aber ihr konntet doch gar nicht wissen, dass ich heute hier bin“ gebe ich zu bedenken. Irgendwie ist das alles unlogisch. „Das stimmt Shirin. Aber es hätte sich schon eine Gelegenheit gefunden für eine Konfrontation. Wenn nicht heute, dann eben morgen oder so!“ Gustav klingt wieder ehrlich und ich zucke mit den Achseln. Was weiß denn ich. Noch immer verstehe ich den Sinn des Ganzen nicht. „Ich geh nach Hause, mir wird das zuviel alles“ nörgele ich halb wütend, halb resigniert. Bevor Gustav etwas erwidern kann, steht Bill auf einmal neben uns. „Kann ich kurz mit dir reden bevor du gehst?“ wendet er sich an mich. „Hast du denn was Wichtiges zu sagen? Ich würde nämlich gern wissen, was hier gespielt wird“ fauche ich. Bill zuckt nicht mal mit der Wimper. „Shirin“ sagt er nur sanft und ich werde weich. „Okay“ gebe ich nach. Bill funkelt Gustav an, auf dass er verschwinden möge, doch der scheint das nicht zu begreifen oder sich schlicht zu weigern. Jedenfalls rührt er sich keinen Millimeter. „Gustav!“ zischt Bill schließlich gefährlich leise. „Ich bin schon weg. Aber glaub ja nicht, dass ich dich hinterher wieder aus der Scheiße fische“ brummelt er, zieht aber von Dannen.
„Also?“ Abwartend blicke ich Bill ins Gesicht. „Du weißt ja, wer Eva ist“ beginnt Bill und ich kann nicht anders, mir rutscht nur ein böses „deine Ex“ heraus. „Ja. Und Toms auch“ sagt Bill und ignoriert, dass ich zusammenzucke. „Das war ein blöder Auftritt eben da drin“ redet Bill weiter und deutet auf die Bar hinter mir. Dazu kann ich nur nicken. „Ich konnte ja nicht wissen, dass du hier bist“ meint er fast entschuldigend und jetzt muss ich auch mal wieder was sagen. „Und ich konnte nicht wissen, dass du mit dieser Tante abhängst“ gifte ich ihn an und für einen Sekundenbruchteil schleicht sich ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel. Und schon wird er wieder ernst. „Was hat sie denn gemeint damit, ich durchkreuze eure Pläne oder so?“ will ich jetzt endlich wissen. Wir reden doch schon wieder nur um den heißen Brei herum. „Das ist doch Quatsch Shirin. Eva spielt sich gern ein bisschen auf, nichts weiter“ sagt Bill leichthin und ich würde ihm das gerne glauben. „Sie stand einfach vor meiner Tür, ich hab sie ewig nicht gesehen, soll ich sie da wieder wegschicken?“ ereifert er sich. „Du bist mir keine Rechenschaft schuldig Bill“ kontere ich und er verstummt. „Sie sieht mir so ähnlich“ fällt mir wieder ein, während mir bei dem Gedanken an sie ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft. Bill beobachtet mich aufmerksam, sagt aber nichts dazu. Ich will dieser Frau nicht ähnlich sehen. „Hast du mich deshalb von Anfang an so provoziert?“ frage ich geradeheraus. „Shirin, das ist eine lange Geschichte und ich mag nicht hier in der Kälte stehen und diskutieren. Wenn du es wirklich wissen willst, sollten wir uns mal vernünftig unterhalten. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob das alles noch Sinn macht...“ erwidert Bill. Ich bin hin- und hergerissen. Und ich weiß absolut nicht, ob ich ihm trauen kann oder er nur wieder eins von seinen makaberen Spielchen mit mir treibt. „Deine Entscheidung“ kommt es noch mal von Bill. „Gut“ willige ich schließlich ein. „Okay. Dann geh ich jetzt wieder rein. Wann hast du denn Zeit?“ Ich muss wohl ziemlich verwirrt aussehen, denn Bill huscht ein Lächeln übers Gesicht. „Shirin, ich meinte nicht jetzt. Gustav wartet da drin auf mich“ hilft er mir auf die Sprünge und ich weiß nicht, ob er Eva absichtlich nicht erwähnt. Denn sie wartet da drin auch auf ihn.
Ich bin immer noch durcheinander und antworte nicht. „Ich mag das sehr, wenn du so verwirrt bist...“ flüstert Bill und streicht mir eine Haarsträhne aus den Augen. „Lass das bitte“ sage ich unwirsch und fege seine Hand beiseite. „Du willst doch gar nicht, dass ich das lasse“ haucht er mir entgegen. Die Bemerkung übergehe ich jetzt mal ganz gekonnt, auch wenn er mich schon wieder aus der Fassung bringt. Ich straffe meinen Körper und bemühe mich angestrengt um einen klaren Kopf. „Also, Zeit hab ich morgen... holst du mich ab?“ lenke ich das Gespräch wieder in die richtige Richtung und ärgere mich, dass ich so unmobil und auf ihn angewiesen bin. Und dass ich so schnell nachgegeben habe. „Mach ich. Um 8?“ Er hat sich wohl entschlossen, keine Annährungsversuche mehr zu machen, denn er spricht wieder ganz normal mit mir. Ich nicke, wenn auch mit einem flauen Gefühl im Magen. „Dann bis morgen – und Bill? Wir werden nur reden, klar?“ Ich will nicht, dass er sich wieder sonst was dabei denkt. „Sicher Shirin, was denn sonst?“ gibt er in undeutbarem Tonfall zurück, dreht sich um und geht wieder Richtung Bar. Ich glaube nicht, dass er eine Antwort von mir hören will.
40.
In dieser Nacht finde ich keinen Schlaf, wie so oft in letzter Zeit. Zu viele Gedanken schwirren mir durch den Kopf und die Stille in der Wohnung scheint mich fast zu erdrücken. Sogar meinen Herzschlag höre ich unnatürlich laut. Schließlich stehe ich seufzend wieder aus dem Bett auf, koche mir einen Tee und finde mich letztendlich grübelnd am Küchentisch wieder. Ich denke nach über Tom, was er wohl jetzt gerade macht und ob ich das überhaupt wissen will. Dann wandern meine Gedanken weiter zu Bill, der mir wirklich ein absolutes Rätsel ist. Und mittlerweile bin ich nicht mehr so davon überzeugt, ob es gut ist, sich mit ihm zu treffen. Letztendlich habe ich ja so gut wie gar nichts über ihn rausgefunden. Warum sollte das diesmal anders sein? Über Gustav kann ich mich auch nur wundern. Und immer wieder bleibe ich bei Eva hängen. Warum sieht diese Frau mir ähnlich? Ist sie mir auch ähnlich? Irgendwie kann ich mir nicht helfen, immer wenn ich an sie denke muss ich mich schütteln.
***
Der nächste Tag vergeht unglaublich schnell, obwohl ich eigentlich nichts zu tun habe. Mit gemischten Gefühlen stehe ich schließlich abends unruhig im Flur und warte darauf, dass Bill kommt. Tom hat sich immer noch nicht blicken lassen und so langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen. Gerade als ich in meine Jacke schlüpfe, klingelt es an der Tür und ich zucke erschrocken zusammen. Wow, Bill ist sogar pünktlich, wie mir ein Blick auf meine Uhr verrät. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann laufe ich eilig die Treppen herunter. „Hallo“ sage ich zurückhaltend, als ich endlich vor Bill stehe. Und sofort werde ich wieder in seinen Bann gezogen. Heute hat er sich für komplett schwarze Klamotten entschieden, die das gewisse Etwas, das er ausstrahlt, nur noch mehr betonen. Ob er das absichtlich macht? „Hallo Shirin“ meint er leise und ich reiße mich von seinem Anblick los. „Traust du dich heute ins Auto?“ ist seine nächste Frage und er grinst. „Das kommt auf dich an... was hast du überhaupt vor?“ will ich zögernd wissen. So ganz geheuer ist mir das alles immer noch nicht.
„Naja, ich dachte wir fahren ein bisschen durch die Gegend, von mir aus können wir auch im Wald spazieren gehen... ich weiß es nicht“ erwidert Bill und ich merke förmlich, wie meine linke Augenbraue nach oben schießt. Im Wald spazieren gehen? Warum denke ich schon wieder an etwas anderes als an spazieren gehen? Wo hat er diesen Quatsch überhaupt her? „Nun schau nicht so skeptisch. Willst du lieber mit zu mir kommen? Gustav ist übrigens nicht da“ sagt Bill breiter grinsend und ich schüttele schnell den Kopf. „Dann fahren wir halt nur so rum“ beschließe ich schnell und steige in den Wagen. Gleichzeitig frage ich mich aber schon wieder, ob das alles so eine gute Idee ist.
Bill lässt sich auf den Fahrersitz fallen, startet den Motor und fährt los. Und ich weiß nicht, wie ich ein Gespräch beginnen soll. Die Stille die sich ausgebreitet hat, ist zwar nicht unangenehm, aber doch irgendwie merkwürdig. So, als würde etwas in der Luft hängen, das ich nicht greifen kann. So was kann ich gar nicht leiden. „Wie läuft`s mit Tom?“ durchbricht Bill schließlich das Schweigen und wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Die Frage hat geklungen, als wäre ich seine beste Freundin und er erkundigt sich danach, was ich heute Morgen zum Frühstück hatte. „Gar nicht“ schießt es aus meinem Mund, den ich anschließend wütend über mich selbst zusammenpresse. Das geht ihn eigentlich absolut nichts an. „Oh“ kommentiert Bill. „Aber wir wollten doch über Eva sprechen“ lenke ich ab. „Ja, Eva“ sagt Bill, zieht ihren Namen in die Länge, verstummt dann wieder. „Nun sag schon“ fordere ich ungeduldig. „Eva sieht dir ähnlich, das stimmt, aber sonst hat sie so gar nichts von dir“ meint Bill und lässt wieder einen seiner Blicke folgen. „Toll. Bill, das interessiert mich nicht. Ich will wissen, was sie hier plötzlich macht und was sie gemeint hat mit Plänen und so“ schnaube ich genervt. „Sie ist hierher gezogen. Frag mich nicht, wie sie meine Adresse rausgefunden hat, ich hab keine Ahnung und sie wird es mir auch nicht verraten. Ich hab mich einfach gefreut, sie wiederzusehen nach so langer Zeit“ sprudelt es aus ihm heraus. Er scheint nicht sauer zu sein, dass ich ihn eben so angefahren hab. „Aber was will sie denn?“ frage ich mehr mich selbst als Bill. „Nichts. Sie hat einen neuen Job hier und nichts weiter“ wehrt Bill ab. Das kann ich nun so gar nicht glauben. „Also wenn das alles ist, was du mir über Eva erzählen kannst, hätten wir uns das heute echt sparen können“ gebe ich genervt von mir. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber sicherlich nicht dieses Geplänkel hier.
Bill fährt rechts ran, damit er mich ungehindert mich seinen Blicken malträtieren kann. „Was hast du denn gedacht, was ich dir erzähle?“ fragt er mich und in seinen Augen glitzert es gefährlich. „Die Wahrheit“ sage ich ungehalten. „Die Wahrheit ist, dass sie dich und Tom fertig machen will. Und ich werde ihr sicherlich nicht im Weg stehen“ sagt er mir ins Gesicht. „Was?“ Meine entsetzte Reaktion scheint Bill irgendwie komisch zu finden, denn er fängt an zu lachen. „Shirin, ich hab dich nur aufgezogen. Was soll sie denn wollen? Meinst du nicht, das ist ein bisschen paranoid?“ fährt er fort und ich kann das immer noch nicht witzig finden. „Ehrlich gesagt kann ich darüber nicht lachen. Und ich finde es auch nicht paranoid. Eher beängstigend. Sie hat Tom einen Drohbrief geschrieben“ widerspreche ich. Jetzt ist es an Bill, fragend die Augenbrauen hochzuziehen. „Sie hat was?“ „Sie hat geschrieben, dass sie uns beobachtet Bill! Und jetzt taucht sie bei dir auf. Etwas reichlich merkwürdig oder?“ Meine Stimme ist schrill. „So ein Quatsch“ kommentiert Bill, sieht mich aber nicht mehr an. „Fahr mich nach Hause“ fordere ich, plötzlich werde ich nervös und fühle mich unwohl. „Shirin, wir unterhalten uns gerade mal zehn Minuten. Willst du das wirklich?“ Jetzt sieht er mir wieder offen ins Gesicht. Ich kann ihm keine Antwort geben, weil ich sie selbst nicht kenne. „Eva ist kein schlechter Mensch. Sie hat einfach nur den Fehler gemacht, sich von Tom um den Finger wickeln zu lassen“ redet er jetzt einfach weiter, als hätte er gar nicht gehört, was ich ihm eben gesagt hab. „Tom ist auch kein schlechter Mensch“ halte ich dagegen. „Wenn du das sagst“ kommt es mit vor Ironie triefender Stimme zurück. „Bill, das bringt doch alles nichts. Entweder weißt du nichts oder du sagst mir nichts. Und das geht mir auf die Nerven. Fahr mich heim jetzt“ maule ich wütend. „Okay“ gibt er nach, wenn ich auch deutlich spüren kann, dass ihm das gar nicht gefällt. Und ich kann auch nicht sagen, ob es mir gefällt.
Kurze Zeit später stehen wir wieder am Ausgangspunkt, vor meinem Haus. „Hat sie dir denn nicht gesagt, warum sie auf einmal wieder Kontakt zu dir will?“ mache ich einen letzten Versuch, doch noch etwas aus Bill heraus zu kitzeln. „Nein“ erwidert er einsilbig. Na toll. „Gustav hält sie übrigens für böse“ rutscht mir raus, während ich den Anschnallgurt löse. „Gustav hält jeden für böse, der sich mit mir abgibt“ gibt Bill zu Protokoll. „Hä?“ mache ich verständnislos. „Das ist eine andere Geschichte“ meint er augenzwinkernd. „Dann erzähl sie mir... ich hab die ganze Nacht Zeit!“ Uh. Da war mein Mund wohl mal wieder schneller als mein Verstand.

41.
„Ach, auf einmal hast du die ganze Nacht Zeit? Hört, hört...“ Ich kann nicht so richtig ausmachen, ob Bill mich jetzt aufzieht oder ob ihm das Ganze einfach unangenehm ist. Deshalb halte ich lieber erst mal meinen Mund und versuche, aus seinem Gesichtsausdruck schlau zu werden. Fehlanzeige. „Findest du nicht, dass du ein ganz klein wenig ZU neugierig bist?“ fragt er mich jetzt. Will der mich veräppeln? Immerhin hat er mich ins Bett gezerrt, da darf ich wohl auch neugierig sein. So weit die Theorie. „Nein, finde ich nicht“ sage ich bockig und verschränke die Arme vor der Brust. Wenn er glaubt, ich würde jetzt aussteigen und in meine schrecklich leere Wohnung gehen, dann hat er sich gewaltig geschnitten. Denn den Gedanken an meine Wohnung und die Stille darin finde ich gerade mehr als grausam.
Bill mustert mich eingehend, während ich seinen Blick stur erwidere. Ich kann das, wenn ich will... und wenn er mir schon nichts über Eva verrät, dann will ich wenigstens seiner komischen Beziehung mit Gustav auf die Schliche kommen. „Shirin, was soll ich denn sagen?“ seufzt Bill schließlich. „Boah Bill, jetzt lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen. Du hast mich lange genug hingehalten und ich will jetzt Antworten. Ich geh nicht eher hier weg, bis du mir sagst, was Sache ist“ stöhne ich völlig entnervt und ich sehe, wie sich Bills Augen weiten. Er scheint von meiner Reaktion leicht überrascht zu sein. „Du bist echt hartnäckig“ gibt er fast bewundernd von sich und ich muss mich zusammenreißen, um nicht blöd zu grinsen. „Okay, aber wenn ich mir das so recht überlege, dass du die ganze Nacht hier sitzen bleibst, wenn ich nichts sage... ich kann schweigen wie ein Grab“ meint er dann selbstsicher lächelnd und wieder einmal bin ich erstaunt über seine Fähigkeit, alles in die Bahnen zu lenken, die für ihn am besten passen. Scheiße ist das. Ich weiß, dass er jetzt einen Temperamentsausbruch von mir erwartet, so wie es immer war. Aber den Gefallen werde ich ihm heute nicht tun. Ich kann den Spieß auch wieder umdrehen, schneller als er gucken kann.
„Gut Bill, dann schlaf mal schön, ich will dich nicht zu einem Geständnis drängen, das dir peinlich sein könnte“ sage ich und muss mir dann schnell auf die Unterlippe beißen, damit er nicht merkt, dass ich ihn nur auf die Probe stellen will. „Das ist mir nicht peinlich!“ braust er auf. „Ach nein?“ Fragend ziehe ich eine Augenbraue nach oben und muss mir jetzt wirklich das Lachen verkneifen. Anscheinend ist er mir auf den Leim gegangen. „Nein“ beharrt Bill, „was soll denn daran peinlich sein?“ „Sag du es mir Bill. Wovon reden wir hier überhaupt?“ hake ich mal so ganz vorsichtig nach. „Von unserer Affäre“ sagt er ohne nachzudenken. „Von unserer Affäre?“ Jetzt bin ich wieder leicht verwirrt. „Nicht von unserer. Von Gustavs und meiner“ korrigiert Bill und schaut anschließend angestrengt durch die Wundschutzscheibe. Uh. Diese Information braucht ein paar Sekunden, bis sie in meinem chaotischen Hirn angekommen ist, aber dann schlägt sie ein wie eine Bombe.
„Okaaay....“ ist erst mal alles, was ich dazu herausbringe. Ich bin wirklich geplättet. Sicherlich ist mir das alles komisch vorgekommen, aber damit hab ich einfach nicht gerechnet. „Und diese... Affäre... existiert die immer noch?“ will ich dann wissen. Bill schüttelt den Kopf. „Aber... ich meine... äh...“ Verdammt noch mal, wer hat eigentlich das Stottern erfunden? Denjenigen werde ich lynchen. „Shirin, nein, ich bin nicht schwul und nein, Gustav auch nicht. Meine Güte, manchmal passieren einfach Dinge, gegen die man sich nicht wehren kann. Und manchmal möchte man sich auch gar nicht wehren“ sprudelt es aus Bill heraus, während er mich gleichzeitig endlich wieder ansieht. „Und manchmal ist es besser, wenn man sich wehrt“ sage ich und er merkt, worauf ich anspiele. Immer noch starre ich ihn gebannt an. „Bist du dir sicher, dass das besser ist?“ fragt er und plötzlich wird sein Blick wieder unglaublich intensiv. Kann diesen Kerl eigentlich irgendetwas aus der Ruhe bringen? Ich bin mir da mittlerweile nicht mehr so ganz im klaren. Mühevoll reiße ich mich von seinen braunen Augen los, die jetzt in der Dunkelheit fast schwarz erscheinen. Für diesen Blick müsste man ihn einsperren. Oder ihm einen Waffenschein geben. Und ich muss jetzt sehen, dass ich das Thema wechsle und auf gar keinen Fall auf seine Frage eingehe.
„Sag mal, du hast doch gemeint, Gustav hält jeden für böse, der mit dir zu tun hat... mich auch?“ Okay, die Frage hab ich jetzt gestellt wie ein Grundschulkind in seiner ersten Deutschstunde, aber dafür kann ich ja auch nichts. Außerdem habe ich gar nicht das Gefühl, dass Gustav mich nicht leiden kann. „Nein, aus irgendeinem Grund scheint das bei dir nicht so zu sein“ gibt Bill grinsend zu. Das beruhigt mich ja jetzt ungemein. „Gut“ sage ich schlicht. Ein paar Sekunden herrscht Schweigen. „Findest du das eigentlich eklig?“ durchbricht er dann doch die Stille. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, was er meint. „Quatsch“ sage ich bestimmend, „aber ein bisschen merkwürdig seid ihr beide schon oder?“ schiebe ich dann noch hinterher. Bill runzelt die Stirn. Aber ich hab doch recht. Ich hab wirklich noch nie so merkwürdige Menschen kennen gelernt wie diese zwei...
Und auf einmal erscheint mir der Gedanke an meine leere stille Wohnung nicht mehr ganz so grauenvoll wie noch vor ein paar Minuten. „Jetzt willst du wieder flüchten stimmts?“ holt Bill mich aus meiner Gedankenwelt in die Wirklichkeit zurück. Er hat wohl meinen sehnsuchtsvollen Blick Richtung Eingangstür bemerkt. „Manchmal ist es besser, wenn man flüchtet“ erwidere ich leise und verfluche mich im inneren für meine Eigenschaft, das Herz auf der Zunge zu tragen. Bill antwortet nicht, sieht mich nur an und mir wird es jetzt endgültig zu viel. Sein Blick ist zu viel, sein Geruch, der mir irgendwie vorher gar nicht so aufgefallen ist, ist zu viel, ER ist zu viel. Ich hab die Hand schon an der Wagentür, als er mich wieder einmal überrascht. „Schlaf gut Shirin“ meint er flüsternd, aber mit unheimlich sanfter Stimme. Sanft? Über diese Verrücktheit muss ich den Kopf schütteln. Eigentlich sollte ich jetzt einfach gehen. Tür aufmachen, Beine rausschwingen, aufstehen, reingehen. Ganz cool, ganz souverän. So wie ich nun einmal gar nicht bin, sobald dieses Wesen namens Bill sich in meiner Nähe aufhält. „Manche Dinge haben von vorneherein keine Chance Bill“ versuche ich mich zu rechtfertigen, und ich weiß schon als ich es ausspreche, wie hohl und phrasenmäßig das klingt. Er sagt nichts mehr dazu und endlich schaffe ich es, mich aus diesem verhängnisvollen Auto zu bewegen und meinen rasenden Herzschlag weitestgehend zu ignorieren. Ich werfe keinen Blick zurück, als ich hinter mir den Motor aufheulen höre. Im Treppenhaus muss ich erst mal Luft holen.
Zu viele Informationen, zu viele Emotionen waren das heute Abend für meine arme Seele. Gustav und Bill – darüber komme ich immer noch nicht so richtig hinweg.
Nach einer Ewigkeit wie mir scheint, stehe ich vor der Wohnungstür. Ich sehne mich nach einer heißen Dusche, einem Kaffee, meinem Bett. Noch im Dunklen ziehe ich meine Jacke aus und schmeiße sie zusammen mit der Tasche in die nächstbeste Ecke. Dann tapere ich langsam ins Wohnzimmer, schalte das Licht ein und schlage mir in der nächsten Sekunde die Hand vor den Mund, um nicht vor Schreck loszuquieken.
42.
`Shirin, ganz ruhig, es ist doch nur Tom` versuche ich mich zu beruhigen. Ja, es ist nur Tom und ich kann mir selbst nicht erklären, was meine plötzliche Panik verursacht hat. Vielleicht die Tatsache, dass er hier im Dunkeln sitzt und offensichtlich auf mich gewartet hat... oder dass ich einfach nicht damit gerechnet hab, dass er wieder da ist - und ob er bleibt. "Hi Süße" begrüßt er mich und ich merke, dass er getrunken hat. "Süße?" Ich runzele die Stirn, während er aufsteht. "Ja, ich hab dich vermisst" lallt Tom. Irgendwie macht er mich grade wütend, obwohl sich auch mein schlechtes Gewissen wieder meldet. "Du hättest nicht gehen müssen" sage ich unnötigerweise. "Und du hättest nicht mit meinem Bruder f*cken müssen" gibt er betont ruhig zurück. "Tom!" zische ich ungehalten. "Stimmt doch. Was bitte habt ihr denn sonst gemacht?" fragt er mich mit verengten Augenbrauen. "Heute haben wir nur geredet" rutscht mir raus und keine Sekunde später senke ich den Blick. Das hätte ich jetzt lieber nicht sagen sollen. "Du hast ihn wieder getroffen?" Seine Frage hört sich eher wie eine Feststellung an. "Ich hab ihn mit Eva gesehen" rede ich weiter, jetzt kann ich eh nicht mehr zurück. Und außerdem hab ich meine Gefühle für Bill unter Kontrolle. Erschrocken über den Gedanken räuspere ich mich. Gefühle? Was denke ich da nur schon wieder...
"Eva?" Jetzt ist es an Tom, die Stirn in Falten zu legen. "Du hast mir nicht gesagt, dass sie mir ähnlich sieht" murmele ich in den Raum. "Das hast du ja jetzt selbst herausgefunden" kommentiert er kühl und ich zucke bei seinem Tonfall zusammen. Irgendwie klingt er auf einmal gar nicht mehr betrunken. "Tom, bist du gekommen um zu bleiben? Um zu reden? Was?" will ich wissen und meine Stimme ist aufgebrachter als beabsichtigt. "Das liegt nicht an mir, sondern an dir. Wirst du Bill weiterhin treffen?" Er macht einen Schritt auf mich zu und wie automatisch weiche ich zurück. "Nein" erwidere ich möglichst ruhig. "Hast du Lust, deine kleine Bettgeschichte weiterzuführen?" fragt er weiter und kommt wieder einen Schritt näher. Diesmal bleibe ich stehen und sehe ihm ins Gesicht. "Nein!" Lüge, Lüge, Lüge schreit es in meinem Kopf. Tom weiß, dass ich lüge, aber entweder geht er absichtlich nicht darauf ein oder... ich weiß es auch nicht. "Ich hab gespielt Shirin" wechselt er jetzt urplötzlich das Thema. "Toll. Meinst du das ist eine Lösung?" Meine blöde Frage ist sicherlich auch keine Lösung, aber ich konnte einfach nicht anders. "Ich schulde ein paar Leuten Geld. Wir sollten noch rausgehen" meint er und mittlerweile trennen uns nur noch weniger Zentimenter voneinander. "Spinnst du?" ist alles, was mir dazu einfällt. So tun als wäre nichts gewesen oder wie meint er das? "Nein Shirin. Ich brauche dich und du brauchst mich auch. Vergessen wir Eva, vergessen wir Bill" nuschelt er mir gegen den Mund. Seiner Nähe bin ich mir nur zu bewusst, aber ich weiß nicht ob sie mir Angst macht oder ob ich mich so nach ihm gesehnt hab, dass ich nicht glauben kann, dass er hier steht. Mein Kopf ist leer.
"Du hast getrunken Tom" stelle ich fest. "Na und?" Er zuckt mit den Schultern. "Ist das jetzt auch schon verboten?" Ich schüttele resigniert den Kopf. Was ist nur los mit uns? "Wir machen uns kaputt Tom" sage ich mehr zu mir selbst. "Aber ich liebe dich" gibt er wie ein kleines KInd zurück und küsst mich dann ohne Vorwarnung. Einen Moment lasse ich mich gehen, dann stoße ich ihn entschlossen zurück. "Ich will zurück zu dir" haut er mir um die Ohren. "Das sagst du nur, weil du betrunken bist!" Die Worte verlassen ohne nachgedacht zu haben meinen Mund und ich weiß, dass ich ihm Unrecht tue. Aber sagen Betrunkene nicht immer die Wahrheit? Oder wie war das gleich?
"Nein Shirin" protestiert Tom und ich kann nicht anders, ich schließe ihn fest in die Arme. Seine Berührung, Nähe tut mir gut und das Gefühl intensiviert sich, je länger der Moment dauert. "Lass uns schlafen gehen und morgen reden wir in Ruhe und besorgen Geld" wispere ich an seinem Hals. "Gute Idee" flüstert Tom zurück und jetzt wirkt er doch wieder betrunken auf mich. Ob wir es schaffen? In diesem Augenblick wünsche ich mir nichts sehnlicher, als es einfach zu schaffen.
Ich will nicht, dass wir uns gegenseitig verletzen und alles kaputt machen. Aber immer noch schwirren Fragen über Fragen in meinem Kopf herum und ich kann meine Gedanken einfach nicht abstellen. "Reden wir morgen?" vergewissere ich mich noch einmal. "Alles was du willst Shirin" sagt Tom und es kommt mir total unwirklich vor. So als wäre es gar nicht er. Unwillig schiebe ich diesen blöden Gedanken beiseite.
Und dann liege ich im Bett. In Toms Arme gekuschelt. Auch das kommt mir wieder unwirklich vor. Ist er überhaupt noch mein Freund? Wir haben nichts geklärt, gar nichts. Aber ich will nicht mit ihm streiten und reden, wenn er getrunken hat. Soll ich es als gutes Zeichen nehmen, dass er wieder da ist? Er scheint mich ja vermisst zu haben. Während Tom schon friedlich neben mir schläft, kann ich einfach keine Ruhe in meinen Kopf bringen. Irgendwie traue ich dem Ganzen nicht. Es ist, als wäre die Atmosphäre geladen wie vor einem Gewitter. Ich bin mir sicher, dass der große Knall noch kommt. Früher oder später.
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43.
Als ich aufwache, bin ich mir zuerst nicht sicher, ob ich alles nur geträumt habe und ich jetzt doch allein hier liege. Aber dafür ist der Platz neben mir eindeutig zu warm, der Geruch von Tom zu intensiv und ein vorsichtiger Blick auf die andere Hälfte des Bettes lässt mich erleichtert aufatmen. Da liegt er. Da liegt Tom mit verwuschelten Dreadlocks, die meiner Meinung nach mittlerweile viel zu lang geworden sind. Die Augen hat er geschlossen, er atmet ruhig und gleichmäßig, der Mund ist leicht geöffnet. Und wie er daliegt als wäre er zu nichts anderem auf der Welt, kann ich gar nicht glauben, dass wir so schwere Zeiten haben. Und ich will gar nicht wissen, was noch alles auf uns zukommt. Ein Seufzen entfährt meinem Mund, dann lasse ich mich noch einmal rückwärts in die Kissen sinken.
Neben mir fängt es an zu grummeln und Tom gräbt sich langsam aus der Bettdecke. Wieder hefte ich meinen Blick auf ihn und muss ein bisschen grinsen bei seinem verschlafenen Anblick, den kleinen Augen, die mich jetzt anblinzeln. „Bist du schon wach?“ nuschelt er und gähnt ausgiebig. „Hm“ brumme ich zurück. Irgendwie beschleicht mich schon wieder so ein beklemmendes Gefühl, ich kann einfach nichts dagegen tun. „Shirin, es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin und der Auftritt gestern auch“ redet Tom weiter. Müsste ich nicht eigentlich diejenige sein, die sagt, dass es ihr leid tut? Aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. „Hm“ brumme ich deshalb nur wieder und starre auf die Bettecke. „Hör mal, ich will nicht so tun, als wäre nichts gewesen, das geht nicht. Aber ich will diesen ganzen Mist endlich vergessen. Was haben wir mit Eva zu tun? Was mit Bill?“ fragt er und aus seinem Mund hört sich das so einfach an, wie es nun mal leider absolut nicht ist. „Er ist dein Bruder Tom!“ sage ich ohne nachzudenken. „Na und? Die letzten Jahre hatte ich auch keinen Bruder, weil mein Bruder nicht mehr mein Bruder sein wollte. Ich hab Mist gebaut, ja. Aber das gibt ihm nicht das Recht, jetzt einfach mein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen“ braust Tom auf, setzt sich gleichzeitig im Bett auf und sieht mich wütend an. „Das hat er doch schon längst“ erwidere ich resigniert. Und damit nicht nur sein Leben, sondern auch meins. Tom schnauft. „Ich lass mir das nicht kaputtmachen“ sagt er und ich muss unweigerlich lachen. „Es liegt doch schon alles in Scherben Tom! Hast du das denn immer noch begriffen?“ Die Worte haben lauter meinen Mund verlassen als geplant und schlagartig werde ich wieder ernst. „Und es liegt an uns, ob das so bleibt“ sagt er leise. „Tom, ich hätte das nicht machen dürfen... mit Bill... aber wenn du dann wegläufst und jetzt auch noch Leuten Geld schuldest, weil du spielen musst...“ Es sollte nicht vorwurfsvoll klingen, aber das hat es wohl, denn Tom verengt die Augenbrauen. „Wie soll ich denn deiner Meinung nach meine Anspannung loswerden? Meinen Frust abbauen? Kannst du mir das sagen?“ Seine Stimme überschlägt sich fast. „Geh boxen“ werfe ich ihm lapidar hin, aber schon im nächsten Augenblick tut es mir wieder leid, als ich sein gefrustetes Schnauben höre. „Okay Tom, das war ein blöder Spruch. Aber wir schenken uns ja wirklich beide nichts im Moment“ gebe ich von mir. Zustimmendes Nicken. „Und nun?“ fragt er dann. „Bleibst du hier?“ stelle ich als Gegenfrage. Erneutes Nicken. „Dann sollten wir zusehen, dass wir an Geld kommen, unsere Beziehung in den Griff kriegen, irgendwie die Ganze Sache mit Eva und Bill klären und nicht durchdrehen dabei. Und was das wichtigste ist: Du musst endlich eine Therapie machen Tom!“ Den ersten Teil meiner Rede habe ich ziemlich nüchtern gehalten, beim letzten Satz lag schon wieder mehr Emotion in meiner Stimme. Ich hab keine Ahnung, wie wir das alles auf die Reihe kriegen sollen.
„Ich kann aber jetzt keine Therapie machen Shirin“ sagt Tom nach minutenlangem Schweigen. Verwirrt sehe ich auf. Was meint er denn damit? „Wenn Bill das mitkriegt, oder Eva, dann...“ „Tom! Erstens, wie sollen sie das mitkriegen? Zweitens, wenn du nicht endlich bereit bist, dir helfen zu lassen, werde ich ausziehen“ schneide ich ihm brüsk das Wort ab. „Wo willst du denn hinziehen?“ will er leicht belustigt wissen. „Ich weiß nicht, was daran komisch sein soll. Tom, ich kann so nicht weiterleben, hast du gehört?“ Tom schüttelt den Kopf. „Ich kann nicht Shirin“ wiederholt er noch einmal. „Tom“ bringe ich warnend hervor. Ich verstehe dieses Theater nicht. „Ich glaube, dass Eva uns immer noch beobachtet, und dann hätte sie ein neues Druckmittel“ rückt er jetzt endlich mit der Sprache raus. „Hä?“ Jetzt bin ich wirklich verwirrt. „Nur mal angenommen deine kleine paranoide Phantasie stimmt – meinst du, es wäre kein Druckmittel, wenn sie dich beim Spielen erwischt? Oder beim Klauen? Immerhin könnte sie uns dann anzeigen“ sage ich, als ich wieder sprechen kann. Unweigerlich muss ich an Evas Brief denken. „Shirin, ich würd das im Moment einfach nicht durchstehen“ gibt Tom zögerlich zu. Daher weht also der Wind. „Und wie lange soll ich mir das noch mit ansehen? Du machst dich kaputt. Du machst uns kaputt. Wann meinst du denn kannst du es durchstehen?“ Ich merke, wie mich eine Gefühlswelle überrollt. Unsere Situation ist einfach so verfahren, dass ich nicht weiß, wie wir das alles bewältigen sollen. „Hauptsache ist doch, dass du da bist“ versucht Tom es jetzt auf eine neue Tour. Und früher wäre ich drauf reingefallen, hätte einfach die Augen zugemacht und gehofft, dass es sich irgendwann schon von allein regeln wird. Aber das hat es nie, und das wird es auch nie. Und egal, wie falsch ich auch gehandelt hab, so ist es doch keine Entschuldigung für seine Ausflüchte.
„Ich bin da Tom – wenn du was dafür tust“ bekräftige ich noch einmal meinen Standpunkt. Ein paar Sekunden lang gehe ich davon aus, dass er mich verstanden hat, dass meine Worte zu ihm durchgedrungen sind und er nachdenkt. Doch plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck, ein verschlagenes Grinsen breitet sich auf seinem Mund aus und seine Augen beginnen gefährlich zu glitzern. „Was soll ich denn tun Schatz? Denkst du da an was bestimmtes?“ schnurrt Tom, rückt näher an mich heran und zieht mich in seine Arme.
Das ist fies und gemein. Er weiß genau, wie er mit mir reden muss, er weiß genau wie gut er riecht und dass ich mich infolge einer Überdosis Tom jetzt gleich an seinen Hals werfen werde. Aber heute nicht. Heute bin ich wie blockiert. Heute ist alles anders als sonst. „Lass das“ wehre ich schwach ab, drücke ihn wieder ein Stück von mir weg, damit ich ihm in die Augen sehen kann. Selbstsicherheit blitzt mir entgegen. „Shirin, ich kenn eine ganz wunderbare Methode, den ganzen Stress zu vergessen...“ lässt er sich nicht beirren und überbrückt wieder den Abstand, knabbert an meinem Ohr und lässt seine Hand unter meinem T-Shirt verschwinden. „Mensch Tom, hör auf hab ich gesagt!“ platzt mir jetzt der Kragen. So gerne ich mich drauf einlassen würde, so gerne ich alles vergessen würde, danach wäre es ja doch wieder da und außerdem kann ich jetzt nicht einfach so abschalten. „Jetzt komm mir bloß nicht wieder mit „ich muss einen freien Kopf haben Tom“ – das glaub ich dir nämlich nicht“ äfft Tom meinen Tonfall nach und sinkt eingeschnappt zurück in die Kissen. „Tom, wir müssen einige Dinge klären. Und ich glaub nicht, dass wir das schaffen wenn wir jetzt übereinander herfallen“ versuche ich zu erklären. „Sonst hast du das aber anders gesehen“ meint er bedrückt. Ja, das kann sein. Aber es ist eben nichts mehr wie sonst. Gar nichts.
44.
Mit geschlossenen Augen sitze ich auf meinem Stuhl und wiege mich im Rhythmus der Musik, im Takt wippe ich mit den Füßen. Keine Ahnung, ob das jetzt schon wieder ein Fehler war, mit Tom hierher zu kommen, aber ich hab nach diesem ätzenden Tag einfach das Bedürfnis, für ein paar Stunden abzutauchen in eine andere Welt, mich abzulenken von dem Chaos um mich herum, das mich innerlich aufzufressen droht. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nichts davon, dass es noch viel chaotischer werden kann.
Nachdem Tom und ich stundenlang diskutiert haben, sind wir immer noch nicht wirklich weitergekommen und irgendwie hab ich fast dankbar Toms Vorschlag angenommen, unseren "Geschäften", wie wir es so gern ausdrücken, nachzugehen. Das haben wir inzwischen hinter uns gebracht und mich hat eine unglaubliche Ruhe eingenommen. Das Wissen, dass wir uns jetzt wenigstens ein paar Tage keine Gedanken um Geld machen müssen, beruhigt mich einfach ungemein. Vorausgesetzt, Tom kommt nicht wieder plötzlich auf die grandiose Idee, seinen "Frust abbauen" zu müssen...
Heute Abend hat es sich aber auch wirklich gelohnt, ich hatte schnell einen geeigneten Kandidaten gefunden und mittlerweile hab ich auch den Blick dafür, bei wem es was zu holen gibt. Ein selbstgefälliges Grinsen schleicht sich um meine Mundwinkel. "Was ist so lustig?" reißt mich Tom aus meinen Gedanken. Dabei beäugt er mich neugierig von der Seite. "Ach nichts" sage ich immer noch grinsend einfach nur so daher und jetzt fängt Tom ebenfalls an zu grinsen. Irgendwie ist er heute anders als sonst. Wenn ich "nichts" sage, explodiert er normalerweise regelmäig. Aber vielleicht hat er an meinem Tonfall gemerkt, dass jetzt ausnahmsweise wirklich mal nichts ist.
Ich weiß gar nicht mehr, wie wir hier gelandet sind. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich auf keinen Fall schon nach Hause wollte, nachdem wir diesen lächerlichen Typen abgezockt hatten, und so haben wir schlicht und ergreifend die Location gewechselt, wie man so schön locker flockig sagt. Und jetzt für den Moment bin ich zufrieden mit mir selbst. Ich kann hier sitzen, höre Musik, deren Bässe mir bis in die Fußspitzen dröhnen und kann an meinem Drink nuckeln. Und so als Dreingabe hab ich noch Tom bei mir, mit dem ich stillschweigend beschlossen habe, die Diskussionen für heute Abend Diskussionen sein zu lassen. Vielleicht will ich auch deswegen noch nicht nach Hause. Aus Angst, über Dinge sprechen zu müssen, über die ich nicht sprechen mag und über die es sich wahrscheinlich auch nicht zu sprechen lohnt.
"Kommst du mit tanzen?" holt Tom mich abermals aus meinen Gedanken zurück und ich sehe ihm erstaunt in die Augen, suche nach einem Anzeichen, dass er mich nur auf den Arm nehmen will - denn er und tanzen? Das passt ungefähr so gut zusammen, wie ein Eichhörnchen und Autofahren. Und ich hab es wirklich selten gesehen, dass Tom freiwillig tanzt, es sei denn, er hat schon einen gehörigen Alkoholpegel intus zum Beispiel.
Aber das hat er heute nicht, wir sind erst beim zweiten Drink angelangt und der Abend ist noch so jung... Trotzdem finde ich auch jetzt immer noch nichts in seinen Augen, was darauf hindeutet, dass er seine Frage eben nicht ernst gemeint hat und so nicke ich schließlich grinsend, denn ich für meinen Teil tanze eigentlich ganz gern.
Es kommt mir vor, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt oder so, aufregend, prickelnd und ich habe nicht schlecht Lust, mich einfach drauf einzulassen, Probleme hin oder her. Die trüben Gedanken von heute Morgen sind auf wundersame Weise aus meinem Kopf verschwunden und ich habe jetzt auch keinen Nerv mich zu fragen, warum das so ist. Vielleicht habe ich auch nur alles für unbestimmte Zeit beiseite geschoben, wie ich es so hervorragend kann und auch äußerst gerne in die Tat umsetze. Doch das ist mir jetzt schlicht egal.
"Wie kommst du denn eigentlich auf tanzen Tom? Das passt so gar nicht zu dir" frage ich halbherzig skeptisch auf dem Weg zur Tanzfläche, denn wenn ich ehrlich bin, will ich die Antwort gar nicht wissen. Außerdem muss ich ihm meine Frage ins Ohr schreien, weil er mich sonst unmöglich verstehen würde. Tom lächelt nur lieb, sagt aber nichts. Und was macht Klein-Shirin? Sie gibt sich ausnahmsweise mal damit zufrieden, lässt sich in seine Arme ziehen und vergisst die Welt um sich herum.
Vier Lieder später hab ich tatsächlich alles um mich herum vergessen. Mit geschlossenen Augen lasse ich mich treiben, mein Gesicht in Toms Halsbeuge vergraben und seinen unvergleichlichen Geruch einatmend, als wäre er eine Droge und ich süchtig danach. Mir wird eigentlich erst jetzt so richtig bewusst, wie sehr ich ihn die letzten Tage vermisst hab. Und ja, ich genieße es, seine Hände auf meinem Rücken zu fühlen, sie sanft meine Wirbelsäule auf und ab streicheln. Für andere Leute müssen wir wirken wie ein frisch verliebtes Paar, das die Finger nicht voneinander lassen kann. Bei dem Gedanken muss ich schon wieder grinsen. Vielleicht sollte ich die Finger lieber vom Alkohol lassen.
Wie von selbst beginne ich Toms Hals zu küssen, beiße schließlich zart hinein und registriere noch breiter grinsend, wie er kurz die Luft anhält und dann sein Griff um mich fester wird. Warum sind wir auch in einer blöden Disco? Ich wäre jetzt viel lieber allein mit ihm, zu Hause oder sonst wo... allein halt.
"Wollen wir nach Hause gehen?" raunt Tom mir in diesem Augenblick ins Ohr, als hätte er meine Gedanken gelesen. Dennoch schaue ich jetzt leicht irritiert auf, denn ich hatte eher damit gerechnet, dass er mich fragt, ob wir schnell aufs Klo verschwinden oder dergleichen. "Ich will dich ganz in Ruhe genießen, nicht nur schnell zwischendurch" kommt die Erklärung prompt, woraufhin ich leise in mich hineinkichere. Tom ist wie ausgewechselt. Das denke ich anscheinend auch nicht zum ersten Mal heute...
Worte halte ich für unangemessen, jetzt müssen Taten folgen. Kurz entschlossen nehme ich also einfach seine Hand und ziehe ihn hinter mir her. Keine zwei Schritte weiter und einen kurzen Blick geradeaus später bleibe ich wie angewurzelt stehen.
DAS ist jetzt definitiv nicht wahr, ein Traum, ein Alptraum, was auch immer. Ich träume!
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45.
Tom stolpert fast über mich, weil ich so abrupt stehen geblieben bin. „Was ist los?“ fragt er hinter mir, aber ich kann nur weiterhin an den Tisch keine fünf Meter vor uns starren. Tom folgt meinem Blick in gleicher Richtung und dann höre ich ihn nur ein völlig entnervtes „Oh nein, bitte nicht“ hinterher schieben. Also hab ich doch keine Sinnestäuschung, mein letzter Hoffnungsschimmer wurde soeben gnadenlos zerstört.
Denn an besagtem Tisch sitzt niemand geringeres als Bill und gleich nebendran Gustav. Sie haben uns anscheinend noch nicht bemerkt, denn sie stecken die Köpfe zusammen und jetzt wirft Bill den Kopf in den Nacken, fängt schallend an zu lachen. `Na toll, die haben Spaß` denke ich frustriert, kann aber immer noch nichts weiter tun als die beiden wie ein hypnotisiertes Kaninchen anzustarren. Fehlt ja nur noch Eva zu unserer vollkommenen Zufriedenheit, die ist bestimmt auch nicht weit. „Komm, lass uns von hier verschwinden“ nuschelt mir Tom ins Ohr und die feine Nuance von Wut in seiner Stimme bringt mich dazu, wie automatisch wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Doch das Glück, einfach so unbemerkt zu verschwinden, ist uns natürlich nicht vergönnt. Um aus der Disco zu gelangen, müssen wir zwangsläufig an eben dem Tisch vorbei, an dem Bill und Gustav sitzen.
Und genau in diesem Moment hebt Gustav den Kopf, unsere Blicke treffen sich und Erkennen flackert in seinen Augen auf. Dann beginnt er hektisch zu winken. Das ist nicht sein Ernst oder? Erwartet er jetzt wirklich, dass ich mich dazustelle, am besten noch setze und ein bisschen Small Talk betreibe? Unwillig schüttele ich den Kopf. Und im nächsten Augenblick fällt mein Blick auf Bill. Er schaut mich an, aber seinen Blick kann ich absolut nicht deuten. Doch er sieht alles andere als überrascht aus. Hat er uns schon früher gesehen als ich auch nur ahnen kann? „Komm Shirin“ drängelt Tom wieder und will mich hinter sich herziehen, denn ich halte immer noch seine Hand fest. Umklammern wäre mittlerweile wohl der bessere Ausdruck. Mühsam reiße ich mich von Bills Anblick los und gehe weiter. Doch Gustav springt auf und stellt sich uns mitten in den Weg.
„Hallo ihr zwei! Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?“ fragt er locker, wobei ich merke, dass er wohl schon einiges getrunken hat. „Sicher nicht“ faucht Tom an meiner Stelle, denn ich bin mal wieder leicht sprachlos. Ist es dreist oder will Gustav nur nett sein? Es ist dreist beschließe ich im Stillen. „Das ist keine gute Idee Gustav, glaub mir. Wir sind doch keine Freunde“ stimme ich Tom zu. Ich spüre, wie dieser neben mir tief Luft holt. „Aber der Abend hat doch gerade erst angefangen und wir haben eine Menge Spaß“ fängt Gustav wieder an, ein dickes Grinsen im Gesicht. Das werde ich ihm gleich aus selbigem schlagen, wenn er nicht sofort damit aufhört. „Lass uns gehen Tom“ sage ich mit fester Stimme zu dem stocksteif dastehenden Etwas neben mir. Gleichzeitig taucht wie aus dem Nichts Bill vor uns auf und ich stöhne innerlich. Mir bleibt heute aber auch wirklich gar nichts erspart. „Wollt ihr schon verschwinden? Das ist aber schade“ meint er grinsend.
Der gute alte Bill. Da ist er wieder. Provokanter Tonfall, sich seiner selbst sicher. Zu sicher. Wenn man gemein wäre, könnte man auch arrogant sagen. „Ja, unglaublich schade Bruderherz. Würdest du uns jetzt vorbeilassen?“ Toms Frage hört sich eher wie eine Drohung an. „Nein“ erwidert Bill knapp. Nein? Ich hab mich wohl verhört. Und nebenbei sinkt auch meine Hochstimmung wieder auf ein nicht mehr vorhandenes Maß. „Wir trinken jetzt wenigstens was zusammen“ höre ich nun wieder Gustav sagen, allerdings bin ich mir nicht sicher ob er überhaupt weiß, mit wem er redet. „Wir wollen aber nichts mit euch trinken“ rege ich mich auf. „Doch das wollt ihr. Ich hab dir nämlich was zu erzählen Shirin“ sagt Bill und wechselt einen kurzen Blick mit Tom. Bilde ich mir das ein oder wird Toms Griff um meine Hand noch eine Spur fester? „Hör auf damit Bill“ antwortet er böse. „Nein, das werde ich nicht. Wo ihr doch schon mal hier seid...“ redet Bill weiter, für mich leider in Rätseln. „Worauf genau willst du hinaus?“ hakt Tom nach und ich merke an der Art, wie er es sagt, dass er die Antwort schon kennt und er innerlich bebt. Angst? Zorn? Ich kann es nicht einschätzen, aber es verwirrt mich ungemein. Kommen jetzt wieder tolle Neuigkeiten ans Licht, von denen ich nicht mal in meinen kühnsten Phantasien zu träumen gewagt hätte? Irgendwie beginnt sich mein Herzschlag gerade zu verdoppeln. Das kann aber auch an Bill liegen.
„Ich glaube du weißt ganz gut, worauf ich hinaus will, Tommy“ klärt Bill Tom auf und er scheint zu verstehen. Nur leider verstehe ich mal wieder gar nichts. Und warum nennt er ihn Tommy? Tommy? Hallo? Ist das ein Überbleibsel aus glücklicheren Kindertagen?
Toms Antwort, wenn er denn eine gegeben hat, hab ich nicht mitbekommen, ich registriere nur, dass ich jetzt auf eben jenen Tisch zugezogen werde, an dem eben noch Bill und Gustav gesessen haben. Ich bin zu aufgeregt, um Fragen zu stellen, um mich zu wehren, ja, um überhaupt irgendetwas zu tun. Wie eine Marionette stolpere ich hinterher. Keine zwei Sekunden später stehe ich vor dem besagten Tisch. „Wie schön, ach wie schön“ freut sich Gustav leicht lallend, und es fehlt nur noch, dass er juchzend auf- und abspringt. Anscheinend weiß er gar nicht, worum es hier geht. Ein bisschen rüttelt mich das wieder wach.
„Was soll das Theater? Tom?“ fahre ich Tom an, der nur beschwichtigend meine Hand drückt und sich dann hinsetzt, mich somit zwingt, es ihm gleich zu tun. Toll. Ganz toll. Ich bin begeistert. Verwirrt suche ich Bills Blick. Er lächelt milde. „Haben sich meine beiden Turteltäubchen wieder vertragen wie ich sehe...“ meint er dann plötzlich mit Blick auf unsere verschränkten Hände und mal wieder gehen die Pferde mit mir durch. „Halt die Klappe Bill. Oder besser noch: Klär mich auf! Was bitte soll das hier? Habt ihr euch abgesprochen?“ Kritisch wandern meine Augen zwischen Tom und Bill hin und her. „Wir haben uns nicht abgesprochen. Aber es trifft sich gut, dass ihr heute Abend hier seid“ quakt Gustav mich von der Seite an und ich quittiere diese Bemerkung mit einem Blick, der ihn sofort verstummen lässt. Wenigstens das kann ich noch. Einen betrunkenen Gustav zum Schweigen bringen. Nachher werde ich mir selbst dafür auf die Schulter klopfen.
„Ihr seid ja schon niedlich, wenn ihr euch gegenseitig auf der Tanzfläche fast verschlingt“ ergreift Bill wieder das Wort, aber es hört sich nicht so an, als würde er das wirklich niedlich finden. „Wie lange sitzt du schon hier?“ frage ich wütend. „Lange genug“ ist die kurze knappe Antwort und meine Ahnung von eben wird zur Gewissheit. Wütend fixiere ich Bill, würde ihn am liebsten aufspießen, ihm an die Gurgel springen und kann mich doch auch wieder nicht dem Ausdruck in seinen Augen entziehen. Jetzt im Moment sieht er seinem Zwilling wieder so unglaublich ähnlich, dass ich unwillkürlich die Luft anhalten muss. „Jetzt hört doch auf damit, wir wollen doch nett zueinander sein“ mischt sich Gustav wieder ein. Schon mutig, der gute Junge. Diesmal erhält er einen Blick von Tom, der ihn augenblicklich zum Schweigen bringt. Fast tut er mir ein bisschen leid.
„Gustav sei doch so lieb und hol den beiden was zu trinken, Shirin wird es bestimmt brauchen gleich“ wendet sich Bill an Gustav. Der springt wie von der Tarantel gestochen hoch und in dieser Sekunde kann ich mir richtig gut vorstellen, dass die beiden was miteinander hatten.
Doch schnell wende ich mich wieder dringenderen Themen zu. Warum hat sich Tom so bereitwillig mit hier hingesetzt? Mein Kopf schwirrt mir schon wieder, weil tausend Sachen gleichzeitig durch meine Gehirnwindungen gejagt werden.
Nervös beginne ich an meiner Unterlippe zu kauen, eine wie ich zugeben muss schreckliche Angewohnheit, die ich in solchen Situationen einfach nicht ablegen kann. Bill verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Sagst du es ihr oder soll ich es für dich tun?“ Die Frage hat er an Tom gerichtet, aber mich sieht er an, die ganze Zeit, unverwandt. Mir wird auf einen Schlag kalt. „Bill, warum machst du das? Ist es die Genugtuung? Kannst du uns nicht einfach unser Leben leben lassen?“ Toms wütende Stimme lässt mich ihn ansehen. Er ist ganz blass geworden. Und mir wird gleich schlecht. „Tommylein, Geheimnisse sind schlecht für eine Beziehung, hat dir das noch keiner gesagt? Und du willst doch die nächsten Jahre mit unserer Kleinen glücklich werden hab ich Recht?“ Da ist es wieder. Das Wort, für das ich Bill eine runterhauen könnte. Und schon wieder erfindet er für Tom Kosenamen, bei denen ich mich schütteln muss. „Meinst du nicht, sie hätte es verdient, einfach in Ruhe gelassen zu werden?“ fragt Tom eisig. „Und meinst du nicht, sie hätte die Wahrheit verdient?“ fragt Bill in gleicher Tonlage zurück und lehnt sich dabei gefährlich weit über den Tisch.
Übrigens kann ich es absolut gar nicht leiden, wenn über mich geredet wird, als wäre ich gar nicht anwesend. Irgendwie legt genau diese Tatsache in diesem Moment einen Schalter in meinem Kopf um. „Bill!“ rufe ich herrisch und sehe aus den Augenwinkeln, wie sie alle beide zusammenzucken. Bill sieht mich an, Erstaunen und noch etwas anderes liegt in seinem Blick. „Ich will es gar nicht wissen, was immer es ist!“ schreie ich gegen den Lärm an, springe so hastig von meinem Stuhl auf, dass er nach hinten umkippt und laufe schnellen Schrittes Richtung Ausgang.
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46.
Draußen vor dem Club bleibe ich stehen, mit geschlossenen Augen an die nächstbeste Hausmauer gelehnt und verzweifelt bemüht, meinen Herzschlag zu beruhigen. Ich kann nicht fassen, was grade passiert ist und ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher, dass dieser Alptraum immer noch schlimmer werden kann, wo es eigentlich nicht mehr geht. Beziehungsweise, wo ich gerade denke, dass es sich einigermaßen beruhigt hat. Und doch ist das nicht ganz richtig, denn ich belüge mich selbst, wenn ich so denke. Ein Seufzen verlässt ungehindert meinen Mund. Obwohl ich eigentlich lieber heulen würde.
„Shirin, da bist du ja“ ertönt vor mir aus der Dunkelheit Toms Stimme. „Ja, meinst du ich hab mich in Luft aufgelöst?“ fange ich sofort an zu keifen. Schon wieder bin ich unglaublich sauer auf ihn, da er mich anscheinend ein weiteres Mal belogen hat. Oder mir einfach nur irgendetwas nicht erzählt hat. Ist das dann auch lügen?
„Shirin, bitte...“ „Lass es einfach okay?“ fahre ich ihm über den Mund und er verstummt tatsächlich. Mittlerweile ist er so nah an mich herangekommen, dass ich sein Gesicht erkennen kann. Er ist immer noch ganz blass. Oder sieht es nur so aus? „Was war das für ein Auftritt da drin?“ will ich dann wissen. Irgendwie lässt es mir ja doch keine Ruhe. „Ich denke du willst es nicht erfahren“ druckst Tom herum. „Nicht von Bill jedenfalls“ zische ich ungehalten. „Ich denke, wir sollten vielleicht erst mal nach Hause gehen“ weicht Tom mir wieder aus. Ein paar Sekunden überlege ich, weiß selber nicht was ich will und kämpfe innerlich mit mir. „Und ich denke, ich will das hier und jetzt klären“ sage ich schließlich unüberzeugt. Will ich das wirklich? „Gut Shirin, hör zu, wenn du das wirklich möchtest, dann sag ich es dir auch. Ich verstehe nur nicht, warum es noch schlimmer gemacht werden muss als es sowieso schon ist“ rattert Tom runter und holt kaum Luft dabei. „Weil ich nicht will, dass irgendetwas zwischen uns steht. Und ich kann auch bestens auf solche Aufritte von Bill verzichten“ sage ich schon wieder etwas ruhiger. Woher ich die Kraft nehme, weiß ich selbst nicht so genau. „Okay. Gut. Also das war so... Bill.. und Eva ... und ich, wir….“ stammelt Tom, stockt, hört dann auf zu sprechen und ich versuche mich zusammenzureißen. „Ihr.. was?“ helfe ich ihm vorsichtig auf die Sprünge. „Mensch, das ist doch alles schon Ewigkeiten her und ich hatte es verdrängt... wir hatten eine Dreierbeziehung oder wie immer du das ausdrücken willst“ erwidert Tom schließlich zögernd und senkt dann den Blick. „Eine was?“ frage ich ungläubig. „Wir hatten alle drei was miteinander und das eine ganze Zeit lang“ kommt es klar und deutlich von Tom. „Nur damit ich das richtig verstehe Tom.... also hat niemand irgendwem die Freundin ausgespannt?“ hake ich nach. „Nein. Nur irgendwann ging das so nicht mehr weiter. Das macht dich kaputt weißt du? Und dann entsteht Eifersucht und... ach, was soll`s, es lohnt sich nicht mehr, darüber nachzudenken“ erwidert er. „Oh mein Gott“ sage ich geschockt, als mir endlich die Trageweite des Ganzen bewusst wird. Irgendwie ist das im Moment alles, was mir dazu einfällt, meine Gedanken rasen, meine Gefühle fahren Achterbahn und ich bin jetzt völlig durcheinander. „Weißt du Shirin, es kam einfach eins zum anderen, Eva war Bills Freundin und Bill und ich hatten schon immer ein enges, besonderes Verhältnis – Zwillinge eben“ Tom unterbricht kurz und lächelt versonnen, als würden vor seinem geistigen Auge Filme von damals ablaufen. „Und dann kam dieser Abend – der Abend, an dem wir alle zu tief ins Glas geschaut hatten... na ja. Und jetzt ist es so, als würde ich meinen Bruder gar nicht mehr kennen. Er war nicht immer so zynisch und kalt wie jetzt“ fügt er dann hinzu und ich glaube ihm das ungesehen. Außerdem ist Bill gar nicht immer zynisch und kalt – aber ich bin so schlau und behalte den Gedanken für mich.
„Ich weiß, dass er dich will“ sagt Tom plötzlich in die eingetretene Stille hinein. „Was?“ kommt es fragend aus meinem Mund. „Ich bin mir nicht sicher, was er von mir will, aber ich weiß, dass er auf dich steht“ wird Tom deutlicher und unwillkürlich bekomme ich eine Gänsehaut. „Ich brauch was zu trinken“ sage ich zusammenhanglos. Sicher ist das keine Lösung, aber vielleicht lindert es für eine kurze Zeit das Chaos in meinem Kopf. „Lass uns nach Hause gehen Shirin“ bittet Tom mich noch einmal und ich nicke ergeben. „Aber vorher kaufen wir irgendwo eine Flasche Wein“ bestimme ich, während ich mich in Bewegung setze. „Von mir aus“ brummt Tom und ich merke, dass er alles andere als begeistert von meiner Idee ist. Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinander her, jeder hängt seinen Gedanken nach und als eine Tankstelle in Sicht kommt, atme ich erleichtert auf. Alkohol. Ich sehne mich wirklich nach Alkohol und in diesem Augenblick kann ich verstehen, warum Tom immer wieder seinem Drang zum Spielen nachgibt.
Eine halbe Stunde später sitzen wir zusammen auf unserem Sofa im Wohnzimmer und ich habe schon das dritte Glas Wein geleert. Langsam setzt auch die Wirkung ein und ich finde die Vorstellung von Bill und Tom nicht mehr merkwürdig sondern ulkig irgendwie. Leise kichere ich in mich rein. „Was hast du denn?“ fragt Tom leicht besorgt. „Nichts... ich muss mich euch nur zusammen vorstellen“ grinse ich und nippe wieder an meinem Glas. „Mir wäre es viel lieber, wir würden mal vernünftig miteinander reden, wenn wir uns schon ständig über den Weg laufen. Damit wir uns nicht eines Tages zerfleischen...“ unkt Tom, aber es hört sich trotzdem ernst an. Und ich finde das wieder irrsinnig komisch. „Wieso laufen wir uns eigentlich ständig über den Weg? Das ist ja vorher auch nicht passiert“ fällt mir dann ein und ein bisschen verwunderlich ist es ja wirklich. „Ich weiß es doch auch nicht“ gibt Tom schnaufend zurück. „Ich bin mal kurz im Bad“ höre ich Tom dann sagen und schon ist er verschwunden. Hm. Zeit für ein viertes Glas Wein. Doch ich habe gerade das Glas halb vollgegossen, als es an der Tür klingelt. So spät? Leicht verwundert und wie ich zugeben muss auch etwas schwankend stolpere ich in den Flur. Im Bad herrscht Stille. Hoffentlich ist Tom nicht ins Klo gefallen. Ich muss mir auf die Lippe beißen, um einen erneuten Lachanfall zu verhindern. Sonst benehme ich mich auch nicht so kindisch. Aber sonst erfordern das die Umstände auch nicht.
Inzwischen bin ich an der Wohnungstür angekommen und reiße sie schwungvoll auf ohne darüber nachzudenken. In der nächsten Sekunde blicke ich in Bills Gesicht. „Was willst du denn hier?“ begrüße ich ihn lallend, aber lächelnd. „Geht’s dir gut?“ stellt er als Gegenfrage. „Sehr gut, danke. Ich weiß übrigens Bescheid über euer Techtelmechtel“ schmeiße ich ihm vor die Füße und registriere nur halbwegs, dass er die linke Augenbraue hochzieht. Ui. Aufregend. „Ich wollte zu Tom“ übergeht er meine Bemerkung und der überraschte Ausdruck in seinen Augen verschwindet. „Komm rein“ sage ich ohne zu zögern, gebe die Tür frei und mache mir null Gedanken darüber, was Tom wohl davon halten wird. Aber er hat ja selbst eben gesagt, er will mit Bill reden...
„Hast du getrunken Shirin?“ Bill mustert mich intensiv, während er den Flur und dann das Wohnzimmer betritt. „Nur ein Glas“ lüge ich grinsend. „Das sieht mir eher nach einer FLASCHE aus“ kommentiert er mit Blick auf die geleerte Weinflasche und mein halbvolles Glas, das mitten auf dem Tisch steht. „Und wenn schon. Bist du mein Vater?“ keife ich wütend. Und jetzt lächelt Bill. Ein warmes, ehrliches Lächeln. „Du bist ja alt genug“ meint er beschwichtigend und ich will grade zu einer Antwort ansetzen, als ich Tom hinter mir rumoren höre. „Wer hat denn da eben geklin...“ Mitten im Satz verstummt er. „Bill!“ ruft er dann aufgebracht und stürmt ins Wohnzimmer. „Du hast doch gesagt du willst mit ihm reden – und tadaaa, da ist er“ verkünde ich, als wäre das hier ein Zirkus und ich die Zauberkünstlerin. Tom wirft mir einen bösen Blick zu und Bill hebt schon wieder fragend die Augenbrauen. Diesmal alle beide. „Du wolltest mit mir reden? Das trifft sich ganz gut...“ fängt Bill an, wird aber von Tom unterbrochen. „Ich dachte eigentlich nicht gleich an die nächste Sekunde dabei“ empört er sich, setzt sich aber endlich in den Sessel gegenüber von Bill. Etwas unschlüssig stehe ich mitten im Raum und weiß nicht so recht, ob ich gehen oder bleiben soll. Ein bisschen überflüssig komme ich mir ja schon vor. Und plötzlich fühle ich mich auch ganz und gar nicht mehr so betrunken wie noch vor ein paar Sekunden.
„Ich wollte mich entschuldigen“ reißt Bill mich aus meinen Überlegungen und jetzt ist es an mir, überrascht die Augenbrauen hochzuziehen.
47.
„Entschuldigen? Für deinen super Auftritt vorhin oder wofür?“ Toms Frage klingt unbeherrscht, so als müsse er sich zügeln, um nicht ausfällig zu werden. „Für alles“ sagt Bill und zum ersten Mal seit ich ihn kenne, nehme ich ihm die Aufrichtigkeit wirklich ganz und gar ab. Tom schweigt und ich beobachte fasziniert das folgende Blickduell der beiden. Ich kann förmlich spüren, wie sich Spannung im Raum aufbaut, aber ich kann diese Spannung nicht so richtig zuordnen. Schließlich wird es mir zu viel. „Leute, ich krieg die Krise wenn ich euch nichts zu sagen habt. Ich werd lieber ins Bett gehen“ nuschele ich leise und doch kommt mir meine Stimme unglaublich laut in der Stille des Raumes vor. Ich fühle mich grade wie der absolute Störfaktor.
„Nein!“ schallt es mir aus zwei Mündern gleichzeitig entgegen und das ist wieder einer der Momente, in denen ich nur fassungslos dastehen und über die Ähnlichkeit der beiden staunen kann. Und im nächsten Augenblick sind sie wieder so verschieden, wie man nur sein kann. „Aber ich mag diese bedrückte Stimmung hier nicht und außerdem solltet ihr mal in Ruhe reden“ plappere ich einfach weiter nur um überhaupt irgendetwas zu sagen.
Und jetzt merke ich doch wieder den Alkohol. Allohol. Wie auch immer.
„Das ist kein guter Zeitpunkt zum Reden“ sagt Tom mit Blick auf Bill – und der nickt stumm dazu. `Und nun?` frage ich mich im Stillen, während ich immer noch wie angewurzelt mitten im Wohnzimmer stehe. „Komm mal her Shirin“ wendet sich Tom schließlich an mich und streckt mir seine Arme entgegen. Nur zögernd gehe ich auf sein "Angebot" ein, setze langsam einen Fuß vor den anderen und weiß doch nicht so richtig, was ich davon nun wieder halten soll und ob es richtig ist, was ich hier mache. Letztendlich komme ich nah genug, damit er mich auf seinen Schoß ziehen kann. Jetzt habe ich Bill also den Rücken gekehrt. Bewusst oder unbewusst, keine Ahnung, aber es ist Tatsache. Langsam beuge ich mich zu Tom runter. "Was soll das werden?" flüstere ich ihm ins Ohr und ernte ein verschlagenes Grinsen. Ich spüre förmlich Bills brennende Blicke im Nacken. "Sollen wir ihn wegschicken?" wispert Tom schließlich zurück, als hätte er meine Gedanken erraten. Mir ist nämlich grade eben bewusst geworden, dass die beiden zusammen mir echt Angst einjagen und sich Gedanken in meinem Kopf breitzumachen drohen, die ich wirklich lieber nicht denken sollte. Doch ich komme nicht mehr dazu, Tom eine Antwort zu geben. Bill hinter mir springt auf und fast gleichzeitig springe ich von Toms Schoß, als wäre ich bei etwas Verbotenem erwischt worden.
Eine Sekunde später stehe ich Bill gegenüber und weiß mal wieder nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nur, dass mir das alles zu viel ist, ich die beiden zusammen heute auf gar keinen Fall ertragen kann und auch mein immer noch leicht vorhandenes Betrunkenheitsgefühl mich nicht darüber hinwegtäuscht, dass ich nicht sagen kann, für wen genau ich eigentlich was genau fühle. Bill scheint es ähnlich zu gehen, denn er bleibt ebenfalls schweigend stehen und starrt mich einen Augenblick lang einfach nur an. Der Moment zieht sich hin und als er mich schließlich sanft am Arm berührt, zucke ich erschrocken zusammen und es fehlt nur noch, dass ich einen Meter zurückspringe. "Lass dir Zeit" ist dann endlich alles, was leise über Bills Lippen kommt und ich hab keine Ahnung, was er damit nun schon wieder meint. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen.
Bill setzt sich wieder in Bewegung und er ist schon fast im Flur angekommen, als Tom hinter ihm herruft. Bill bleibt stehen und sieht seinen Bruder abwartend, aber auch irgendwie herausfordernd ins Gesicht. "Kommst du morgen zum Reden?" fragt Tom und Bill nickt nach kurzem Überlegen.
Und was mache ich? Stehe mittendrin im allgemeinen Chaos und kann mich nicht entscheiden, ob ich mich darüber aufregen soll, dass Tom sich hier so offensichtlich als Platzhirsch aufspielt. Aber irgendwie kann ich es ihm auch nicht verdenken.
Und plötzlich kommt wieder Leben in meinen Körper. Langsam stapfe ich Bill hinterher zur Wohnungstür. Ich kann gar nicht glauben, dass er jetzt einfach so geht, ohne dumme Sprüche, ohne den Versuch, hier alles in die Richtung zu drehen, die er gerne hätte. Es ist so untypisch für ihn... Aber er scheint mit seinem Zwilling auf einer Ebene zu kommunizieren, die ich nicht begreife und zu der mir der Zugang verwehrt bleibt. "Bis morgen" nuschele ich verhalten und wage es kaum, Bill in die Augen zu sehen. Nicht, dass ich noch Gefahr laufe, wieder einmal darin zu versinken, unterzugehen und am Ende nie wieder auftauche... Gott bin ich poetisch heute. Muss am Alkoholpegel liegen. Oder so.
"Was ist so lustig?" reißt Bill mich aus meinen Gedanken. Hab ich etwa gegrinst? Scheint so. "Nichts" sage ich schnell, viel zu schnell. Meine Standardantwort, und jetzt ist es Bill, der grinst. "Dann schlaf gut" meint er leise und mehr als ein müdes Nicken bringe ich jetzt beim besten Willen nicht zustande. Er ist schon fast durch die Tür, als mir wieder etwas einfällt. "Bill?" halte ich ihn zurück, "was hast du gemeint mit "lass dir Zeit"?" Ich kann sehen, wie er zögert. Doch dann entschließt er sich doch, mir eine Antwort zu geben. "Du hast die Anspannung eben gespürt, dass weiß ich, ich konnte es sehen. Und du wirst dich immer fragen, was du heute Nacht vielleicht verpasst hast, Shirin." Uff. Damit hatte ich ja irgendwie gerechnet, und doch auch wieder nicht Jedenfalls nicht in dieser Deutlichkeit. Mein Unterbewusstsein neigt eben zum Verdrängen. Bill hat leise und mit fester Stimme gesprochen und jetzt dreht er sich ohne ein weiteres Wort um und lässt mich allein. Allein mit mir selbst. Allein mit Tom.
Wie ein armseliger Robotor schließe ich letztendlich die Tür hinter ihm und kann mich doch nicht entscheiden, wieder ins Wohnzimmer zurück zu gehen.
"Was machst du denn so lange hier?" höre ich Tom auf einmal hinter mir fragen. "Ich bin durcheinander" gebe ich unumwunden zu, drehe mich zu ihm um und forsche in seinen Augen nach... ja, nach was suche ich eigentlich genau? Wenn ich das wüsste, wäre ich bestimmt nicht so durcheinander. "Ich wollte ihn jetzt nicht länger hier haben" fängt Tom an zu erklären und nimmt mich gleichzeitig in den Arm. "Nein, du wolltest bloß dein Revier verteidigen ja?" frage ich spitz, denn für mich ist das Thema noch nicht gegessen. Sanft drücke ich mit meinen Händen gegen seine Brust, bis er so weit zurückweicht, dass ich ihm wieder in die Augen sehen kann. "Warum wollte er unbedingt, dass ich das erfahre, das mit euch?" lasse ich die nächste Frage los und verfolge währenddessen jede noch so kleine Regung in Toms Gesicht. "Weil er kein Typ ist, der so schnell aufgibt" antwortet Tom. Ich kann nicht ausmachen, ob er sich über diese Tatsache freut oder ärgert.
"Und wie viele Asse dieser Art hat er noch im Ärmel?" frage ich weiter, ohne Tom auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. "Keine" erwidert er und es klingt ehrlich. Tom hält meinem Blick stand und entweder ist er ein verdammt guter Lügner in dieser Beziehung oder er sagt einfach nur schlicht und ergreifend die Wahrheit. Ich werde es jetzt für den Moment dabei belassen, ich bin einfach zu müde zum nachdenken.
"Gehen wir ins Bett?" Tom grinst anzüglich und macht mich damit irgendwie wütend. Ist er jetzt von Bill oder von mir angeheizt? Warum ist er überhaupt so plötzlich angeheizt? Oder war er es schon die ganze Zeit? "Geh du nur. Ich will erstmal duschen" gebe ich unwillig von mir. "Ach komm Shirin" nöckelt Tom weiter und macht auf beleidigt. Memme. Weichkeks. Oder doch durchtriebenes Etwas? Noch nie konnte ich ihn so wenig einschätzen wie jetzt gerade. "Tom! Wenn ich dir sag, ich geh jetzt erst duschen, dann geh ich erst duschen. Klar?" Das kam jetzt etwas lauter als geplant, aber ich kann es nicht ändern. "Was erwartest du von mir? Jeden Tag kommt eine neue Verrücktheit ans Licht und wer weiß, was noch alles auf mich zukommt. Und dann meint Mr. Tom, ich schiebe das alles einfach mal beiseite, weil er gerade Bock auf mich hat?" Böse funkel ich ihn an. Tom lässt die Schultern hängen, aber ich kann kein Mitleid für ihn empfinden. Aber er wäre auch nicht Mr. Tom, wenn er sich von meinem Ausbruch ernsthaft aus der Fassung bringen lassen würde. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten beginnt und er sich eine neue Strategie überlegt. "Dann komm ich halt mit duschen" meint er keine Sekunde später dreist grinsend. Und mal wieder verstehe ich mich und meine Reaktionen selber nicht. Eben noch wütend und gereizt, lasse ich mich jetzt innerhalb kürzester Zeit von seiner Verschlagenheit anstecken. `Wechselbad der Gefühle` würde es wohl in einem Kitschroman heißen...
"Wenn du dich traust" erwidere ich schließlich frech und verschwinde leise kichernd im Badezimmer.

48.
Ich muss immer noch grinsen, auch wenn ich schon längst unter der Dusche stehe. Wahrscheinlich habe ich wirklich zu tief ins Glas geschaut, aber irgendwie ist mir das gerade ziemlich schnuppe. Ich brauche jetzt Nähe und ich werde sie auch bekommen, so gut kenne ich meinen Tom inzwischen. Und wie erwartet lässt er mich nicht lange zappeln. Schon höre ich, wie leise die Tür geöffnet und wieder geschlossen wird, dann das Rascheln von Kleidungsstücken, die achtlos auf den Boden geworfen werden und schließlich spüre ich zwei Arme, die sich langsam von hinten um meinen Körper schlingen. Mein Grinsen wird breiter, während sich ein vertrauter Geruch in meine Nase schleicht und mich genießerisch die Augen schließen lässt. Das ist es doch, was ich will... oder? Und ob Tom jetzt von Bill oder von mir angeheizt ist, was macht das schon? Es macht eine ganze Menge. Und ich fürchte, ich will ihm beweisen, dass ich diejenige bin und nicht sein Bruder. Mein Grinsen erstirbt auf meinem Gesicht und ich versteife mich in Toms Armen. „Shirin?“ Tom, der seinen Kopf auf meiner Schulter abgelegt und damit begonnen hatte, mit seinen Händen kleine Kreise auf meinen Bauch zu malen, hält inne.
Langsam drehe ich mich um, bis ich ihm in die Augen sehen kann. „Bitte Tom, lass mich Bill vergessen!“ Anscheinend habe ich meinen Gedanken laut ausgesprochen, denn Tom schaut mich erst irritiert, dann diabolisch grinsend an. Ertappt senke ich den Blick. Doch Tom hält meinen Kopf mit beiden Händen fest und zwingt mich so, ihn wieder anzusehen. „Shirin, du selber hast diese Lawine ins Rollen gebracht und jetzt wunderst du dich, dass sie dich mitreißt?“ Von diesem Standpunkt habe ich das noch gar nicht betrachtet... Aber bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen kann, küsst er mich, langsam und sinnlich. Und ich kann nicht anders handeln, als drauf einzugehen. Wie eine Ertrinkende schlinge ich meine Hände um seinen Hals und ziehe ihn näher zu mir. "Ich will dich" flüstert er an meinem Mund, als wir den Kuss kurz unterbrechen, um wieder Luft zu holen. „Ich will dich auch“ flüstere ich atemlos zurück und lecke verlangend über seine Unterlippe. Jetzt im Moment ist er wirklich der einzige, den ich will. Und als Tom bereitwillig seinen Mund ein kleines Stück öffnet um mir Einlass zu gewähren, hab ich Bill schon vergessen. Leise seufze ich in den Kuss, als sich unsere Zungen zum ersten Mal berühren. Seine Hände, die bisher still auf meinen Hüften gelegen hatten, beginnen langsam meinen Rücken rauf und runter zu streichen. Ein Zittern geht durch meinen Körper und das prasselnde Wasser tut sein Übriges.
Ich rücke noch einen kleinen Schritt näher an ihn heran und drücke meinen Körper gegen seinen. Lasse von seinen Lippen ab und küsse mich langsam seinen Hals hinunter, beiße leicht hinein, was ihm ein leichtes Seufzen entlockt. Spielerisch tanzen meine Hände über seinen Oberkörper, aber dann werde ich ungeduldig und ich ersetze die Hände durch meine Fingernägel, kratze damit leicht über seine Brust und spüre seinen schneller werdenden Atem. Muss in sein Gesicht sehen. Er hat die Augen geschlossen und den Mund halb geöffnet, die Wasserperlen rinnen an seinem Körper hinab. Sein Anblick treibt mir Gänsehaut auf den Rücken. Gefühlvoll lecke ich einmal über seine Lippen, doch bevor er den Kuss vertiefen kann, wandere ich schon wieder abwärts, verteile Küsse auf seinem Hals und dann auf seiner Brust, lecke gierig ein paar der Wassertropfen auf. Meine Hände sind mittlerweile schon in tieferen Regionen verschwunden und ich höre ihn leise aufkeuchen, als meine Hand sich um seine Erregung schließt. Ich höre auf, ihn auf die Brust zu küssen und sehe wieder in sein Gesicht, während ich anfange, meine Hand zu bewegen. Tom öffnet seine Augen, sieht mich eine Sekunde lang an und zieht mich dann wieder so nah an sich, dass er mich küssen kann. Doch diesmal nicht langsam und zärtlich, sondern er presst seine Lippen hart auf meine und fordert meine Zunge zu einem wilden Kampf heraus, bei dem schon vorher feststeht, dass es keinen Sieger geben kann. Leise stöhne ich in den Kuss, das hier ist einfach viel zu intensiv. Ich bewege meine Hand schneller und jetzt ist es an Tom, aufzustöhnen. "Gefällt Dir das?" frage ich leise, muss leicht grinsen.
"Shirin...ich... ah" stammelt er und mir gefällt es ungemein, ihn aus der Fassung zu bringen. Sein Atem wird schneller, sein Keuchen lauter und immer fester krallt er seine Hände in meine Seiten. Zeit, ihn auflaufen zu lassen... Abrupt höre ich auf, meine Hand zu bewegen und lasse ihn schließlich wieder los. Tom mault leise und sieht mich enttäuscht an. "Ich will ja auch noch was davon haben..." meine ich schmunzelnd und küsse ihn einmal kurz. Doch Tom scheint das nicht mehr zu reichen. Fast schon grob packt er mich an den Schultern und sieht mir in die Augen. Seine sind vor Lust verschleiert und irgendwie macht mich das gerade mehr an als alles andere.
"Shirin..." Seine Stimme ist nur noch ein Hauch, der hilflose Versuch, Emotionen in Worte zu fassen und ich lasse mich fallen, versinke in seinen Augen und Tom stößt nicht auf Gegenwehr, als er abermals seine Lippen hart auf meine presst. Doch nach ein paar Sekunden stellt er plötzlich das Wasser ab. "Was soll das?" frage ich irritiert, während mir meine Haare klatschnass ins Gesicht fallen. Es hat doch gerade erst begonnen, so richtig Spaß zu machen...
"Du kommst jetzt mit" befiehlt Tom rau und dirigiert mich dann wild knutschend aus der Dusche. Zusammen stolpern wir bis ins Schlafzimmer, wo er mich unsanft aufs Bett schubst und keinen Atemzug später über mir ist. Einen Moment hält er inne und betrachtet mein Gesicht. Immer noch sind wir beide völlig nass, von seinen Haaren tropft es unaufhörlich auf mich herab. "Tom..." Er küsst mich und erstickt so meine Worte. Plötzlich fühle ich wieder überall auf meinem Körper seine Hände, grob, unsanft, trotzdem perfekt. Er weiß eben instinktiv, was ich jetzt brauche. "Mach" ist das einzige Wort, das ich zwischen seinen heftigen Küssen hervorbringe.
Ich halte es nicht mehr länger aus. Schlinge meine Beine um ihn und gebe mich ganz dem Gefühl hin, als er in mich gleitet. Göttlich. Es ist göttlich. Er ist göttlich.
Gibt von Anfang an ein hohes Tempo vor und ich kann nichts anderes tun als meine Fingernägel tief in seinem Po zu vergraben und selig vor mich hinzustöhnen.
Tom vertieft seine Stöße und stöhnt mir dabei direkt ins Ohr. Oh Gott. Ich werde das nicht mehr lange durchhalten, schon gar nicht bei diesem Tempo. "Ich werd gleich wahnsinnig" keuche ich ihm entgegen und für einen Moment hält er inne in seinen Bewegungen. Das ist fies, mich so kurz vor dem Gipfel auszubremsen, andererseits lässt mich schon allein sein Anblick fast überkochen. „Denkst du immer noch an Bill?“ fragt er kaum hörbar und lässt meinen Blick dabei nicht los. „Nein Tom, hör auf damit“ sage ich mit flehendem Unterton. „Stellst du ihn dir jetzt vor?“ stellt er die nächste Frage und ich kann nur noch den Kopf schütteln. „Nein?“ hakt er wieder nach und erneut schüttele ich den Kopf. Ich denke an gar nichts, will nur, dass er weitermacht und mich nicht am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Meine Hände wandern wie von selbst in seinen Nacken und ziehen ihn zu mir herunter, um ihn innig zu küssen.
Fordernd beiße ich ihm in die Unterlippe, was ihn leise aufstöhnen lässt. Dann sehen wir uns für einige Sekunden in die Augen. Ich kann mich nicht davon losreißen.
Tom nimmt meine Hände, legt sie hinter meinen Kopf und verschränkt sie mit seinen eigenen. „Das ist gut“ sagt er rau und seine Stimme klingt so verflucht sexy, dass sie mich am ganzen Körper zum erschauern bringt.
Endlich beginnt er wieder, sich zu bewegen, langsam, vernichtend, genau wissend, dass ich meinen Verstand verliere, wenn er so weiter macht. Stöhnend biege ich den Kopf in den Nacken, die Augen fest zusammengepresst. Nach und nach erhöht er wieder das Tempo, bis sich unser Stöhnen und Keuchen miteinander vermischt. Immer härter stößt er in mich, immer schneller.
Und plötzlich trifft er einen Punkt, bei dem mir die Luft wegbleibt. "Tom!" stöhne ich laut. Er sieht mich an. "Mach das noch mal" wimmere ich und störe mich nicht im geringsten an dem teuflischen Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitet. "Noch mal?" flüstert er abgehackt in mein Ohr. Ich kann nur noch nicken. Mit jedem seiner Stöße schiebt er mich ein Stück höher auf dem Bett und unaufhörlich meinem persönlichen kleinen Tod entgegen, bis es schließlich über mich hereinbricht und ich mich nicht mehr wehren kann. Mein Atem setzt aus, mein Herz rast so schnell, dass es mir jeden Augenblick aus der Brust zu springen droht und ich sehe nur noch Sternchen vor meinen geschlossenen Augen tanzen. "Oh mein Gott...Shirin" keucht Tom mir ins Ohr, doch ich nehme es gar nicht mehr richtig wahr, zu gefangen bin ich noch in meiner eigenen Welt. Tom bricht über mir zusammen und macht keine Anstalten, sich von mir zu lösen. "Tom?" sanft stupse ich ihm irgendwann in die Seite und er rollt fast widerwillig von mir runter. Zieht mich in seine Arme. Erschöpft lasse ich meinen Kopf auf seine Brust sinken, höre zu, wie sich sein Herzschlag langsam aber sicher wieder beruhigt. Für ein paar Minuten gebe ich mich der trügerischen Stille hin. Denn sie ist trügerisch, ich kann es jetzt schon spüren.
49.
"Shirin?" Was ist los? Verschlafen mache ich probeweise mal ein Auge auf. Die Sonne strahlt mir ungehindert ins Gesicht und ich stöhne gequält. Ist es etwa schon Morgen? Wie war das noch gleich mit der trügerischen Stille? Also dass sie die ganze Nacht dauert, hätte ich nicht erwartet... "Shirin?" Uh. Keine Gnade, ich merke es schon an seinem Tonfall. "Ja" nöle ich und sehe gar nicht ein, meinen Kopf auch nur einen Millimeter von seiner Brust zu heben. "Shirin ich muss mit dir reden" sagt Tom mit Nachdruck und schon hab ich mein Vorhaben vergessen. Leicht genervt hebe ich den Kopf, damit ich ihn ansehen kann. "Viel zu früh" nuschele ich ihm entgegen, aber er lächelt nicht. Er grinst nicht mal.
"Viel zu spät würde es eher treffen" meint Tom und schiebt mich ein Stück zur Seite, bis ich neben ihm auf dem Bett lande. "Was soll das denn heißen?" frage ich ungehalten. So früh kann ich einfach nicht denken und ich würde mich jetzt viel lieber der Illusion hingeben, dass alles in Ordnung ist. Einfach so. Kein Bill. Kein Gustav. Keine scheiß Bruder-was-weiß-ich-Beziehung. "Shirin, ich will jetzt was wissen" reißt Tom mich aus meinen Gedanken. "Hmmm" nuschele ich langgezogen. Was will er denn wissen? Mein Gehirn ist noch gar nicht fähig zum Verarbeiten. Wenn es das überhaupt jemals ist. "Was empfindest du für mich?" fragt Tom gnadenlos weiter. "Ich liebe dich" sage ich wahrheitsgemäß und mit einem Schlag bin ich hellwach. "Wird das jetzt ne Grundsatzdiskussion?" will ich wissen. Aber Tom lässt mich nicht einfach den Spieß umdrehen und ich bin wohl schief gewickelt, wenn ich denke, er lässt mich jetzt einfach so davonkommen und mich zur Fragenstellerin werden.
Er übergeht meinen Einwand gekonnt, indem er mir seinerseits gleich die nächste Frage an den Kopf knallt. "Und was ist mit Bill?" "Was soll mit ihm sein?" tue ich unschuldig. "Er ist dein Bruder" schiebe ich dann noch leise hinterher. Denn das ist das Problem. Also nicht, dass es so schon leicht wäre, aber das setzt dem Ganzen einfach die Krone auf und ich weiß nicht, was ich noch alles verkraften muss und vor allem kann. "Das weiß ich selbst" knurrt Tom mich an und verengt gefährlich die Augenbrauen dabei. Ich senke den Blick, kann ihm nicht länger in die Augen sehen. Das ist keine Antwort, aber wie soll ich ihm eine geben, wenn ich sie selber nicht kenne? "Shirin!" Uhhh. "Tom, was willst du denn von mir hören?" Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich ihn noch mehr reize mit meinem kleinen Frage-Antwort-Spielchen, aber ich verstehe nicht, warum er ÜBERHAUPT so gereizt ist.
"Du liebst mich also" stellt er mehr als nüchtern fest und ich nicke stumm. "Und was empfindest du für Bill?" Ich merke, wie es entsetzlich heiß in meinem Gesicht wird. Verdammte Gefühle! "Ich... ich weiß nicht Tom. Er... hat irgendwas an sich..." versuche ich umständlich das zu erklären, was ich ja doch nicht in Worte fassen kann. "Da hast du wohl Recht" schnauft Tom und ich muss ihm wieder in die Augen blicken, denn in seinen Augen erkenne ich die kleinste Lüge, das ist schon immer so gewesen. "Was willst du mir damit sagen?" hake ich nach. "Vielleicht sollten wir uns einfach nicht so viele Fragen stellen, nicht so viele Gedanken machen und..." "... und alle kaputtgehen?" beende ich seinen Satz. Tom antwortet nicht. "Ich werd dir sagen, was wir tun beziehungsweise was du tust. Du sprichst dich mit ihm aus wenn er kommt, und dann lebt jeder sein Leben weiter. Punkt" fasse ich zusammen. Hui, das hört sich so einfach an aus meinem Mund, ich kann es gar nicht glauben. "Bei dir hört sich das so einfach an" bekräftigt Tom meine Gedanken, aber er klingt leider nicht so, als würde er das überzeugend finden.
"Es IST einfach Tom" sage ich mit so fester Stimme, das ich fast selber glaube, was ich da von mir gebe. Tom kichert unecht und irgendwie tut mir das weh, ganz tief drin. Wir sind doch alle ein bisschen krank im Kopf oder so. "Komm mal her Shirin" meint er dann plötzlich und ruck zuck bin ich wieder in meiner Ursprungslage, Kopf auf Brust, Herzschlag lauschend, einzigartigen Geruch atmend und innerhalb von Sekunden entspanne ich mich ein bisschen. "Ich will nicht, dass er uns auseinanderbringt. Aber ich kann auch nicht leugnen, dass er mich irgendwie..." fange ich an zu reden, um Gottes Willen, wird das jetzt ein Geständnis? Was ist bloß in mich gefahren? "Anmacht?" hilft Tom mir auf die Sprünge und ich nicke verschämt in seine Halsbeuge. Scheiße. Ganz große Scheiße.
"Hör mal zu Shirin, ich sag das nur ungern, aber als du vor ein paar Tagen vor mir gestanden hast mit verschmiertem Lippenstift, weißt du noch?" Ich japse erschrocken. Sicher weiß ich das noch. "Hm" mache ich fast unhörbar. "Also wenn ich ehrlich bin... hat mich das in dem Moment auch irgendwie heiß gemacht - auch wenn das total krank ist" gesteht Tom und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Aber es ist wohl nicht gelogen, denn immerhin ist er anschließend wie ein wildes Tier über mich hergefallen. Doch irgendwie macht mir der Gedanke grade Angst. "Ich will das aber nicht Tom! Ich liebe dich und nur dich und fertig" brause ich auf. "Das redest du dir ein" sagt Tom. Ich schüttele vehement den Kopf. Was ist nur los mit ihm? "Was ist denn los mit dir um Gottes Willen?" Schnaufend setze ich mich auf. Das ist alles zu viel und dann auch noch am frühen Morgen. Wobei mir ein Blick auf die Uhr verrät, dass es schon Nachmittag ist. Davon bekomme ich gleich fast den nächsten Herzinfarkt.
"Shirin, ich weiß es doch auch nicht. Ich will es besser machen als damals und meinen Bruder nicht ein zweites Mal verlieren" sagt Tom und ich wende meinen Blick wieder ihm zu. "Das wirst du aber - und wir werden uns verlieren - und Tom, du müsstest dich viel dringender mal um einen Therapieplatz kümmern" erwidere ich etwas genervter als geplant. "Moah, jetzt fängst du wieder damit an!" kommentiert Tom und rollt mit den Augen.
"Ich geh duschen" beende ich diese sinnlose Diskussion. Es hat ja eh alles keinen Sinn. Tom hält mich nicht auf und als ich nach einer halben Stunde nur mit einem Handtuch bekleidet wieder im Schlafzimmer stehe, hat er sich anscheinend keinen Zentimeter bewegt. "Was machst du?" frage ich. "Nachdenken" kommt es knapp zurück. Mehr als ein Schnauben bringe ich jetzt nicht zustande und sehe zu, dass ich in meine Klamotten komme.
Die nächste Stunde reden wir kein Wort. Ich hab mich mit meiner Kaffeetasse vor den Fernseher verkrümelt und Tom ist irgendwann türenknallend im Bad verschwunden. Jetzt höre ich die Dusche rauschen und lasse meine Gedanken abschweifen. Wie stellt er sich das denn vor? Ich bin immer noch der Meinung, dass man einige Dinge besser ungesagt lässt und andere sollte man nicht mal zu denken wagen. Diese Sache hier gehört eindeutig zum Letzteren. Nachdenklich stehe ich auf und wandere vom Wohnzimmer in die Küche. Mechanisch stelle ich meine Tasse in die Spüle, starre dann angestrengt aus dem Fenster und sehe mit Panik ein mir wohlbekanntes Auto vorfahren. Gott, nein, ich halte das nicht aus. "Tom!" kreische ich lauter als gedacht und stehe doch immer noch wie hypnotisiert am Fenster, sehe untätig zu, wie das Unheil in Form eines schwarzen Haarschopfes aus dem Auto steigt und in aller Seelenruhe seinen Wagen abschließt. Ganz in schwarz scheint ja der neue Trend zu werden. Und es steht ihm mehr als gut, das muss ich ja zugeben. Scheiße. Ich sollte geschlagen werden für meine Gedanken. "Tooooom!" schreie ich wieder panisch um Hilfe. Hört er mich denn nicht verflucht noch mal? Dafür hat mich unsere kleine Diva da unten anscheinend um so besser gehört. Er wirft einen verwirrten Blick zum Fenster und ich wende mich erschrocken ab.
Verzweifelt versuche ich meine Nerven zu beruhigen, schließe die Augen, entspanne die zu Fäusten geballten Hände und atme gleichmäßig ein und aus. Geht doch. Geht bis zu dem Moment, als Tom in die Küche platzt, mich anspricht und ich wie ein Tier in der Falle anfange zu quieken. "Shirin?" Tom macht einen Schritt auf mich zu und will mich in den Arm nehmen, aber ich halte ihn auf. "Er ist da!" teile ich ihm mit zitternder Stimme mit. "Gut" sagt Tom erstaunlich ruhig. Was für Drogen hat er genommen? "Dann können wir das jetzt ja ein für alle Mal klären" fügt er noch hinzu. Ich will gar nicht wissen, was er damit meint und ich muss einen erneuten Panikanfall unterdrücken, als es jetzt an der Tür klingelt.

50.
"Tom? Warte..." halte ich meinen Freund auf, der schon mit schnellen Schritten zur Tür eilt. Jetzt stockt er mitten in der Bewegung und dreht sich wieder zu mir um. "Was denn?" Sein Gesichtsausdruck verändert sich innerhalb von Sekundenbruchteilen von verwirrt zu genervt. "Ich... ähm... können wir ihn nicht einfach draußen stehen lassen?" stottere ich mir zusammen und mir gefällt diese Vorstellung von Sekunde zu Sekunde besser. Wir machen einfach die Augen zu und lassen das kleine schwarze Etwas da draußen stehen, bis es schwarz wird. Aber schwarz ist es ja schon. "Du spinnst" fährt Tom mitten hinein in meine ach so tollen Gedanken, schüttelt meine Hand ab wie ein lästiges Insekt und ich sehe hilflos zu, wie er jetzt wirklich die Tür aufreißt, bevor es zum zweiten Mal klingeln kann. Wenigstens hat er sich vorher angezogen...
Irgendwie werden meine Handflächen feucht, mein Herz rast und ich schließe geschlagen die Augen. Gut. Sammeln. Auf in den Kampf, jetzt gibt es kein Zurück. Aber für wen oder was will ich eigentlich kämpfen? Vielleicht sollte ich mir darüber erst mal klar werden...
"Hi" erschallt Bills Stimme im Treppenhaus, Tom nickt nur, lässt ihn eintreten und knallt die Tür hinter ihm zu. Augen auf. Irgendwas zieht ganz tief drin in meinen Eingeweiden. Ignorieren. "Hi" begrüßt Bill mich freundlich und irgendwie hab ich das Gefühl, gleich durchzudrehen. "Hai? Wo?" starte ich einen verzweifelten Versuch, witzig zu sein, was natürlich gründlich schief läuft. Ich bin eben nicht witzig. Von Bill ernte ich nur einen verständnislosen Blick und Tom rammt mir mit voller Wucht seinen linken Ellenbogen in die Seite. "Aua" quietsche ich erschrocken und reibe mir über die Stelle, die er getroffen hat. "Ihr müsst euch nicht gleich verprügeln..." kommentiert Bill das Ganze, was mir ein hysterisches Kichern entlockt. Gleich ruft bestimmt jemand die netten Menschen mit den überaus hübschen weißen Jacken. Und dann kann ich endlich flüchten.
"Wein?" frage ich einen Moment später wieder einigermaßen gefasst in die Runde. Bill sieht mich nur durchdringend an. Oder ist es wissend? "Shirin!" mahnt mich Tom, "es ist vier Uhr Nachmittags!" "Na und?" motze ich zurück. Mir doch egal, wie spät es ist. "Shirin!" schießt er einen weiteren Giftpfeil auf mich ab, und der trifft mich mitten ins Herz. "Okay. Will jemand Kaffee?" frage ich mühsam beherrscht. "Gerne" meint Bill mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen. Ach wie süß...
"Shirin, wolltest du nicht Kaffee machen?" holt Tom mich in die Wirklichkeit zurück. Ich huste einmal auffallend laut und marschiere dann erhobenen Hauptes Richtung Küche. "Komm wir gehen ins Wohnzimmer" höre ich Tom noch sagen und dann entfernen sich die Stimmen von ihm und Bill. Ich höre nur noch gedämpftes Gemurmel aus dem Wohnzimmer.
Was mach ich denn jetzt bloß? Am besten lasse ich die beiden alleine. Dann können sie reden. Oder dumme Sachen anstellen... Nein! Hier geht mal wieder eindeutig meine Phantasie mit mir durch. Hektisch fülle ich Kaffeepulver in die Maschine und horche angestrengt mit meinen Öhrchen auf verdächtige Geräusche. Aber da ist nichts. Nur Gebrabbel, das ich nicht verstehen kann. Erleichtert atme ich auf und warte, bis der Kaffee durchgelaufen ist. Na endlich. Zu lange will ich die beiden dann doch nicht alleine lassen. Warum auch immer.
Mühevoll balanciere ich drei Tassen auf einmal ins Wohnzimmer. Tom und Bill scheinen sich vernünfig zu unterhalten. Das kann es ja eigentlich gar nicht geben. Doch ich ignoriere die kleine warnende Stimme in meinem Kopf gekonnt. ".... läuft ganz gut" sagt Bill und verstummt abrupt, als er mich erblickt. "Was denn?" frage ich gereizt, "soll ich deine kleinen Geheimnisse nicht wissen?" Bill schüttelt kaum merklich den Kopf. "Quatsch" meint er dann wenig überzeugend. "Ich lass euch trotzdem jetzt in Ruhe" sage ich eingeschnappt, greife nach meiner Tasse und will wieder aus dem Raum verschwinden, aber Tom hält mich auf. "Bleib hier bitte!" Irgendein merkwürdiger Unterton in seiner Stimme lässt mich wie eine Marionette stehenbleiben, umdrehen und mich schließlich sitzend auf dem Sofa neben Bill wiederfinden. Gar nicht gut. Die beiden zusammen sind zu viel für meine Nerven, immer noch, schon wieder. Ein paar Minuten herrscht Schweigen und ich starre angestrengt auf meine Füße, während ich mich gleichzeitig an meiner Kaffeetasse festhalte, als wäre sie ein Rettungsring. "Du wirkst heute so... verstört" durchbricht Bill endlich die Stille und ich weiß, er hat seine Worte mit Bedacht gewählt. Wütend schaue ich auf. "Seit ich dich kenne, bin ich immer verstört" knalle ich ihm an den Kopf und werde mir erst bewusst, dass man das auch eindeutig zweideutig verstehen kann, als ich es schon ausgesprochen habe. Bill grinst. Toll. Also hat er es genau so verstanden, wie ich es NICHT gemeint habe.
"Ich komm gleich wieder" trete ich schließlich die Flucht nach vorne an oder ist es eher die nach hinten? Ich weiß es nicht, aber ich muss jetzt hier raus. Wenigstens ein paar Minuten. Da hilft Tom auch sein Hundeblick nichts, den er mir im Vorbeigehen zuwirft. Bill würdige ich keines Blickes mehr. Von mir aus sollen die beiden sich aussprechen und dann soll der gute Billy hier verschwinden, bevor mein Verstand sich vollends verabschiedet. Guter Plan, beschließe ich innerlich, während ich auf das Badezimmer zusteuere. Dort spritze ich mir schnaufend kaltes Wasser ins Gesicht und lasse es mir anschließend noch minutenlang über die Handgelenke laufen. Und es hilft.
Mein Herzschlag beruhigt sich langsam und meine Atmung geht auch wieder normal. Ein letzter Blick in den Spiegel und dann fühle ich mich innerlich bereit. Bereit, den beiden jetzt zu sagen, dass sie von mir aus quatschen können bis Sonnenaufgang, aber ich mich nicht daran beteiligen werde. Und dann möge der liebe Bill bitte gehen. Langsam atme ich aus. Greife zum Türgriff. Tür auf, Tür wieder zu und raus in den Flur. Ich lausche angespannt. Nichts ist zu hören, das Gemurmel ist verstummt. Ist das jetzt gut oder schlecht? Während ich noch über die Antwort nachdenke, komme ich am Wohnzimmer an. Und der Anblick darin lässt meinen Atem stocken.
51.
Gehen die gleich aufeinander los? Tom sitzt immer noch wie festgewachsen in unserem einzigen Sessel und Bill noch in gleicher Position auf der Couch, aber sie kleben mit den Blicken aneinander, beide ihre Tassen festhaltend wie ich noch vor ein paar Minuten. Aber ich hab mich getäuscht. Das hier ist keine aggressive Spannung, nein ich fühle mich eher an gestern Abend erinnert, kurz bevor Bill gegangen ist. Während ich noch überlege, was ich machen soll, setzt meine Atmung wieder ein, allerdings lauter als geplant. Scheiße. Bill schaut auf, sucht meinen Blick und hält ihn fest. Wenn ich nicht vorher schon verwirrt war, bin ich es spätestens jetzt. "Was macht ihr denn da?" frage ich leise und jetzt fährt auch Tom herum und ich reiße mich von Bills Anblick los, um fragend zwischen beiden hin- und herzuschauen. Aber keiner der von ihnen sieht irgendwie ertappt oder peinlich berührt aus, im Gegenteil, um Bills Lippen schleicht sich wieder eins seiner verschlagenen Grinsen. "Was denkst du denn?" stellt er als Gegenfrage und blickt mir herausfordernd entgegen. "Ich denke..." fange ich an, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen will, aber Tom fährt mir dazwischen. "ICH denke, wir sollten jetzt wirklich eine Flasche Wein aufmachen!" Gut. Jetzt hat er mich komplett aus dem Konzept gebracht, falls ich überhaupt jemals eins hatte. "Hast du nicht eben noch genölt, es sei erst vier Uhr nachmittags?" quetsche ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und registriere aus den Augenwinkeln, wie Bills Grinsen noch breiter wird. "Jetzt ist es viertel NACH vier" stellt Tom fest, als wäre das Erklärung genug, erhebt sich aus seinem Sessel und wuselt in die Küche.
Ich muss mich erst mal setzen. Und da ich Tom nicht seinen Thron wegnehmen will, bleibt mir nur das Sofa. Das relativ kleine Sofa. Und das bringt mich unweigerlich jemandem näher, dem ich gar nicht nah sein will. Zumindest will ich mir das nicht eingestehen.
"Was hast du denn gedacht Shirin?" greift Bill das Thema wieder auf, das Grinsen ist immer noch in seinem Gesicht festgetackert. "Ähm..." stottere ich mir zusammen, nicht sicher, WAS ich denn nun denken soll oder gedacht habe. "Ähm ist nicht wirklich viel" zieht Bill mich auf und ich drohe schon wieder wütend zu werden. "Sehr witzig" muffele ich vor mich hin, Bill fängt an zu lachen. "Wir haben uns nur unterhalten" meint er dann. „Unterhalten, so so“ sage ich skeptisch. „Ihr habt doch aber gar nichts gesagt“ bohre ich weiter. „Nonverbal“ nuschelt Bill und ich ziehe noch skeptischer als eben eine Augenbraue nach oben. Es sah nicht nach "unterhalten" aus, was die beiden da eben getrieben haben. Über nonverbale Zwillingsgespräche weiß ich natürlich weniger Bescheid. Aber ich verkneife mir jetzt lieber jeglichen weiteren Kommentar dazu.
In diesem Moment betritt Tom wieder das Zimmer, eine Flasche Wein und drei Gläser in den Händen und ich bin froh, nicht in die Verlegenheit zu kommen, mich hier weiterhin um Kopf und Kragen zu reden. Stumm sehe ich zu, wie er die Gläser füllt, mir sowie Bill jeweils eins in die Hand drückt und dann nehme ich einen großen Schluck. Uhhh. Irgendwie beruhigt mich das jetzt ungemein. Und ich sollte lieber nicht so denken, denn Alkohol beruhigt nicht nur, er enthemmt auch. Ich sollte besser ins Bett gehen. Allein. Allerdings ist es erst halb fünf am Nachmittag... Scheiße. Das wird sowieso mein neues Lieblingswort.
„Shirin?“ bahnt sich eine Stimme den Weg durch meine aberwitzigen Gedanken und leicht erschrocken schaue ich auf. „Hast du nicht zugehört?“ fragt Tom. „Nein“ gebe ich offen zu. „Bill wollte gerade erzählen, was er jetzt so macht und ich dachte, das interessiert dich vielleicht!“ Okay. Bill hat mir noch nie freiwillig etwas über sich erzählt und ich kann nicht glauben, dass sich das jetzt so plötzlich geändert hat. Andererseits kann dann so eine merkwürdige Atmosphäre wie eben gar nicht erst wieder aufkommen. Und neugierig bin ich auch. „Was machst du denn?“ frage ich möglichst uninteressiert in Bills Richtung. „Du klingst nicht so, als ob du das wirklich wissen willst“ grinst Bill und mir fällt es schwer, einzuschätzen, ob er das ernst meint oder mich wieder nur auf den Arm nimmt. „Nun sag schon“ nöle ich übertrieben genervt. „Ich bin Musikproduzent“ antwortet Bill todernst. „Du bist was? Guter Witz“ pruste ich los. Bill ist immer noch ernst und mustert mich stumm. Kein Scherz? Ui. Mein Gesicht muss wohl Bände sprechen, denn jetzt kommt Tom seinem Bruder zu Hilfe. „Mit Gustav zusammen“ ergänzt er, als wäre es das normalste von der Welt. „Aha“ mache ich leicht sprachlos. „Du wusstest das?“ fällt mir in der nächsten Sekunde ein und Tom nickt. „Ich sag doch, wir haben uns unterhalten“ meint Bill und tauscht einen bedeutungsvollen Blick mit Tom. Ich bin platt. Und ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass da ernsthaft was dran sein soll. Die beiden? Geht gar nicht irgendwie.
„Daher die ganze Kohle“ nuschele ich mehr zu mir selber. „Naja, wir kommen ganz gut über die Runden“ schwächt Bill ab. Ui. Ist er doch mit Gustav verheiratet oder was? „Und du willst mir jetzt erzählen, dass du oft in Clubs und dergleichen rumhängst, um neue Talente zu suchen?“ Ich kann nicht anders, mein Tonfall ist mehr als sarkastisch. „So ungefähr“ erwidert Bill.
Das muss ich jetzt erst mal sacken lassen. „Shirin kann singen“ ruft Tom dann plötzlich in die Runde. Ja genau. Und mit Nachnamen heiße ich Osterhase. Ich gebe mir alle Mühe, ihn mit Blicken zu töten. „Ach echt?“ fragt Bill interessiert. „Quatsch“ wehre ich ab. „Doch, du singst doch den ganzen Tag und...“ fängt Tom wieder an. Ich muss schnellstens was unternehmen. Ich weiß wirklich nicht, was in ihn gefahren ist, er muss verrückt geworden sein. Oder Bill hat ihn unter Drogen gesetzt. Was weiß ich. „TOM!“ herrsche ich meinen Freund an, gepaart mit einem weiteren mordlüsternen Blick und er verstummt augenblicklich.
„Jedenfalls haben wir uns ausgesprochen“ sagt Bill in die eingetretene Stille, als hätten wir uns eben übers Wetter unterhalten. „Ja sicherlich. Ihr habt euch ausgesprochen innerhalb von fünf Minuten und als ich wiedergekommen bin, seid ihr schon zu nonverbalen Gesprächen übergegangen ja?“ Ha, meine Ironie hab ich schon wiedergefunden. „Vielleicht hat Bill einen Job für mich“ meldet sich Tom wieder zu Wort. Ein großer Schluck Wein fließt in meinen Mund, vielleicht wache ich dann auf aus diesem Alptraum. Leider Fehlanzeige. Ich sitze immer noch in meinem Wohnzimmer mit zwei Irren.
„Einen Job...“ wiederhole ich gedehnt. Also mal abgesehen davon, dass die beiden jetzt wieder auf heile Familie machen, sollte Tom sich erst mal um dringendere Sachen kümmern. „Ja, Tom könnte bei uns...“ erzählt Bill, aber ich unterbreche ihn sofort. „Weißt du was Tom könnte? Sich einen Therapieplatz suchen!“ platze ich heraus. Tom wird weiß wie die Wand hinter ihm. Und Bill schaue ich am besten gar nicht mehr an...

52.
Im Raum breitet sich eine Stille aus, in der man, sofern vorhanden, die berühmte Stecknadel fallen hören würde. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und in meinem Kopf hallt Toms Stimme wider, wie er mich schon fast angefleht hat, Bill nichts davon zu sagen. Ich bin eine Idiotin. „Wie meinst du denn das, Shirin?“ Bills Stimme klingt scharf in meinen Ohren und ich höre Tom verzweifelt schnaufen. Vorsichtig sehe ich Bill ins Gesicht, aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, was hinter seiner Stirn vor sich geht.
Meine Kehle ist wie zugeschnürt und als ich nicht antworte, wendet sich Bill schließlich an seinen Bruder. „Tom? Was meint Shirin mit Therapieplatz?“ „Nichts“ sagt Tom schnell, viel zu schnell und trotzdem bewundere ich, wie sehr er sich im Griff hat. Nur leider kennt Bill ihn wahrscheinlich besser als ich. „Du hast schon besser gelogen“ schnaubt er, während er Tom anblitzt. Tom schaut angestrengt auf den Boden. „Ich dachte, wir wollten uns nicht mehr anlügen“ fängt Bill wieder an und diesmal klingt er enttäuscht.
„Bill, das hat nichts mit Lügen zu tun, sondern mit Vertrauen. Woher soll ich wissen, ob du neue Informationen nicht gleich wieder gegen mich verwendest?“ ruft Tom aufgebracht und springt von seinem Sessel hoch. Okay, vielleicht hat er sich doch nicht ganz so gut im Griff, wie es den Anschein hatte. „Das ist ja toll, dass du so denkst. Wirklich klasse“ meint Bill verächtlich, steht auf und will aus dem Zimmer laufen. „Moment!“ Huch, hab ich das grad gesagt? Scheint so, denn Bill bleibt stehen und dreht sich zu mir um, während Tom mich einfach nur mit offenem Mund anstarrt.
Die warten jetzt wahrscheinlich darauf, dass ich weiterrede...
Nun gut. Ich kratze meine paar übrig gebliebenen Gehirnzellen zusammen. „Tom, du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich mein ganzes Leben in einem einzigen Chaos versinken lasse und mir das hier in aller Seelenruhe mit ansehe oder?“ Wow, ein sinnvoller Satz, auch wenn er dann doch nicht so wirklich viel aussagt. Aber immerhin ein Anfang. Doch Tom erwidert nichts und Bill sieht abwechselnd mich und dann wieder Tom an. Also muss ich wohl noch mehr vom Stapel lassen.
„Es tut mir leid Tom“ entschuldige ich mich. „Schon gut, jetzt ist doch eh alles egal“ kommt es frustriert zurück. „Jetzt sag schon, was es mit diesem ominösen Therapieplatz auf sich hat. Wofür brauchst du denn so einen Quatsch?“ Ich weiß gar nicht genau, wem Bill jetzt diese Frage gestellt hat, aber Tom ist so lieb und ergreift das Wort. „Weißt du Bill, seit damals ist halt alles den Bach runtergegangen. Und ich weiß ehrlich nicht, was ich ohne Shirin heute wäre. Ich bin ja auch so ein Nichts“ sagt Tom leise und wenn er so weitermacht, fange ich an zu heulen. Bill verzieht das Gesicht, als hätte er Schmerzen. „Ich bin spielsüchtig!“ Tom hat fast geflüstert, aber Bill hat ihn wohl trotzdem verstanden, denn er reißt ungläubig die Augen auf. „Und wie lange schon?“ Mittlerweile ist er ganz der mitfühlende Bruder, eine Seite, die ich nie an ihm vermutet hätte. „Ein paar Jahre“ meint Tom ausweichend und Bill gibt sich damit zufrieden. „Und warum unternimmst du nichts dagegen?“ fragt er mich statt dessen. „Meinst du deine Frage ernst Bill? Soll ich ihn auf dem Boden festketten oder was?“ fahre ich aus der Haut. Bill schnauft, dann ist es kurz still.
„Nein, ich...“ setzt Bill jetzt an, verstummt aber wieder. Zum ersten Mal erlebe ich ihn wirklich sprachlos. „Hör zu Bill, es ist nicht deine Schuld oder was auch immer. Es bringt mir nichts, wenn ich im Selbstmitleid zerfließe und es bringt mir noch viel weniger, wenn andere das für mich tun okay?“ Erstaunt sehe ich Tom an. Er beweist hier gerade Stärke, das muss ich schon sagen. „Ich bin damals abgehauen weil ich es nicht mehr ausgehalten hab. Ich hab dich mehr geliebt als man seinen Bruder lieben darf. Vielleicht bin ich einfach etwas verkorkst“ sprudelt es aus Tom heraus. Baff stehe ich daneben, will etwas einwenden, weil das Gespräch wieder eine Richtung einzuschlagen droht, die mir ganz und gar nicht gefällt, aber ich bringe keinen Laut über die Lippen. Was genau läuft hier eigentlich ab? „Ich hab dich auch geliebt Tom“ sagt Bill fast unhörbar. Okay. Wenn sie sich gleich in die Arme fallen und abknutschen, bekomme ich einen Schreikrampf.
Endlich finde ich meine Stimme wieder. „So ihr beiden, bevor ihr euch gegenseitig die Kleider vom Leib reißt, darf ich einwerfen, dass ich das für keine gute Idee halte?“ Herausfordernd blicke ich die Zwillinge an und für eine Sekunde läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, weil sie alle beide so perplex aussehen. Dann fängt Bill an zu grinsen und mir wird klar, dass ich mit meinem überaus geistreichen Spruch wohl gerade die Stimmung gerettet hab. Oder noch viel mehr. „Ich will ja hier nichts ins Lächerliche ziehen, aber du machst meine Verführungspläne zunichte“ schimpft Bill mit mir und ich muss unweigerlich lächeln. Tom atmet neben mir hörbar aus. Ich kann nicht einschätzen, ob nicht vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit in dem steckt, was Bill gerade von sich gegeben hat, aber fürs erste ist es hoffentlich aus der Welt.
„Ich werd dir helfen, einen Therapieplatz zu finden“ sagt Bill, plötzlich wieder ernst. Tom schüttelt den Kopf. „Nein. Ich kann nicht“ erwidert er mit brüchiger Stimme. „Und warum nicht?“ bohrt Bill nach. „Wegen Eva“ kommt es von Tom und ich schnappe nach Luft. „Eva?“ fragt Bill verdattert. „Sie plant irgendwas. Und ich hab immer gedacht, ihr steckt unter einer Decke“ knallt Tom Bill an den Kopf und der sieht auf einmal erschrocken aus. „Wie kommst du denn auf die Idee?“ höre ich Bill fragen. Tom gibt keine Antwort, aber Bill scheint ihn auch so zu verstehen. Das sind wieder Dinge, von denen ich keine Ahnung hab. Außerdem will ich gar nicht so genau wissen, was bei den dreien damals passiert ist.
„Nein Tom, das ist nicht so. Sie ist auf einmal hier aufgetaucht und das ist die Wahrheit“ sagt Bill irgendwann einfach und anscheinend reicht das Tom, denn er nickt. „Okay. Trotzdem haben wir ein Problem. Ich will mich wirklich drum kümmern. Schon allein für Shirin. Mit Eva werde ich fertig, solange du nichts damit zu tun hast. Aber ich will auch nicht von dir abhängig sein. Und erst recht will ich nicht, dass... also wenn ich nicht da bin dann...“ Oh Gott, ich weiß, was er sagen möchte. „Hör auf damit Tom“ japse ich. „Ist schon gut. Ich lass die Finger von Shirin“ sagt Bill, sieht dabei aber weder mich noch Tom an. Mir wird irgendwie schlecht. „Ich geh jetzt besser erst mal“ fügt Bill hinzu. Ja bitte geh, damit ich hier nicht zusammenbreche. Gute Idee.
„Ich bring dich zur Tür“ werfe ich schnell ein und könnte mich in der gleichen Sekunde dafür ohrfeigen. „Mach das“ sagt Tom zu meinem Erstaunen, lässt sich müde auf die Couch plumpsen und starrt aus dem Fenster. Gut. Ich werde mich gleich um ihn kümmern. Aber zuerst laufe ich jetzt hinter Bill her und Richtung Wohnungstür. Dort stehen wir schließlich voreinander und mustern uns gegenseitig. „Wenn du das wirklich alles ernst meinst, dann muss ich dir danken“ bringe ich endlich mühevoll heraus. Es ist schon irgendwie verrückt. Da muss erst Bill kommen, damit Tom sich endlich bewegt. Irgendwie übersteigt das gerade meinen Horizont. „Er ist ja mein Bruder“ lächelt Bill. Es steckt noch viel mehr in dieser so simplen Aussage, aber ich mag mir jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Deshalb nicke ich bloß. „Und er ist DEIN Freund. Okay?“ War das jetzt ein stilles Abkommen? Ein Friedensangebot? Ein Waffenstillstand? Aber wir reden hier ja nicht vom Krieg. „Ja“ sage ich endlich, registriere mit Wohlbehagen Bills Blick, der immer intensiver wird und dass es mir gefällt, macht mir gleichzeitig Angst. Der Moment zieht sich hin und als ich schon glaube, jede Sekunde einfach hinten rumzukippen, dreht er sich um und geht langsam die Treppe nach unten.
53.
Fast hektisch knalle ich die Wohnungstür zu. Was war das denn nun schon wieder? Ich muss mich einfach besser in den Griff kriegen. Außerdem wird mir erst jetzt bewusst, wie unnatürlich schnell mein Herz schlägt. Muss mich dieser Mensch denn jedes Mal derart aus der Fassung bringen? Vielleicht macht er es gar nicht absichtlich.
Ich brauche kurz, um mich zu beruhigen, dann marschiere ich mit festen Schritten zurück zu Tom, der immer noch in der gleichen Pose aus dem Fenster starrt. „Tom“ spreche ich ihn so sanft wie möglich an, aber er zuckt trotzdem leicht zusammen. „Sorry, ich war in Gedanken“ sagt er entschuldigend. „Du solltest es als Chance sehen. Wenn du schon nicht auf mich hörst, dann wenigstens auf Bill“ erwidere ich, aber ich versuche meiner Stimme den vorwurfsvollen Klang zu nehmen. „Hm... ja. Aber...“ setzt Tom an, doch ich bringe ihn schnell zum Schweigen. „Tom ich glaube Bill das mit Eva. Und was soll sie ausrichten allein? Meinst du nicht, das sind alles nur Hirngespinste?“ Ich weiß nicht mal selber, ob ich das glaube, ich habe diesen ominösen Brief noch nicht vergessen. Aber jetzt im Moment würde ich dafür, dass Tom endlich eine Therapie anfängt, so einiges tun.
„Warten wir erst mal ab. Ich weiß gar nicht, wie schnell man da einen Platz bekommt. Und dann sehen wir weiter“ meint Tom. Ich nicke ergeben. „Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“ fragt er mich dann. Okay. Ich will mich nicht streiten und ich will mich auch nicht verhalten wie ein kleines Kind, indem ich jetzt bockig werde. „Sicher“ bringe ich also schweren Herzens über die Lippen. Für mich ist das Thema noch lange nicht gegessen.
Seufzend lasse ich mich auf die Couch sinken und kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, als Tom keine zwei Sekunden später neben mir sitzt und mich in seine Arme zieht. Und in diesem Fall besteht „das Thema wechseln“ darin, dass wir beide unseren eigenen Gedanken nachhängen.
Was wird aus uns, wenn Tom vielleicht wochenlang nicht da ist? Irgendwie werde ich alleine für Geld sorgen müssen und mit der „Sache Bill“ mag ich mich jetzt gar nicht erst beschäftigen. Plötzlich wird Tom neben mir unruhig. „Was ist?“ will ich wissen. „Mir ist nur was eingefallen“ weicht Tom aus und schält sich unserer Umarmung. „Und was?“ frage ich weiter, jetzt schon leicht ungeduldig, weil ich es hasse, wenn er nicht mit der Sprache rausrückt. „Ich hab dir doch erzählt, dass ich noch ein paar Leuten Geld schuldig bin... und einen hab ich vergessen.“ Damit springt Tom auf und läuft aus dem Zimmer. „Und jetzt willst du dahingehen? Haben wir denn überhaupt noch genug Kohle?“ rufe ich hinterher. „Jaja“ ist alles, was ich als Antwort zu hören bekomme. Jaja heißt auch... ach egal. Ich höre Tom hin- und herlaufen, sehe dann zu, wie er im Flur in seine Jacke steigt und bin immer noch stumm, als er schließlich wieder vor mir steht, um sich zu verabschieden. „Reg dich nicht auf Shirin okay? Ich bin in ner halben Stunde wieder hier“ vertröstet er mich. Toll. Ganz toll. Ich bin mal wieder sehr angetan und begeistert. Aber vielleicht ist es wirklich besser, wenn er das jetzt aus der Welt schafft. „Ist schon gut“ kommt es endlich einlenkend aus meinem Mund. Tom küsst mich kurz, aber bevor ich mich auch nur ansatzweise darauf einlassen kann, löst er sich schon wieder von mir. Mir entfährt ein enttäuschtes Geräusch, was Tom tatsächlich dazu veranlasst, mich noch einmal fest zu drücken. „Ich komm ja gleich wieder“ grinst er mich an.
Ob wir es schaffen? Zum ersten Mal stelle ich mir diese Frage richtig ernsthaft. Und ich weiß absolut keine vernünftige Antwort darauf.
***
Keine fünf Minuten, nachdem Tom das Haus verlassen hat, klingelt es an der Tür. Tom würde sogar seinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre. Breit grinsend öffne ich die Tür und brülle einmal quer durchs Treppenhaus: „Na, was haben wir denn heute wieder vergessen?“
Doch es ist nicht Tom, der mir entgegen kommt und mein Lächeln erstirbt bei dieser Erkenntnis.
„Hey Shirin, ich hab überhaupt nichts vergessen“ begrüßt mich Gustav, ganz der alte Kumpel. „Was willst du denn hier?“ Ich weiß gar nicht, warum ich so unfreundlich reagiere, irgendwie hat er mir ja nie wirklich was getan und am Anfang war ich sogar mehr als begeistert von ihm. „Du sprühst ja wieder vor guter Laune“ sagt Gustav provozierend, aber lächelnd. „Hmpf“ grummele ich nur genervt und mache keine Anstalten, ihn reinzulassen. „Ich hab gehört, du kannst singen?“ lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, drängt sich einfach an mir vorbei und bleibt, mich abwartend ansehend, im Flur stehen. „Nein Gustav, das muss ein Gerücht sein. Welches Vögelchen hat dir das denn zugeträllert?“ Ich kann mir schon denken, welches Vögelchen das war. Eins mit schwarzen Federn.
Ich bringe ihn um.
„Na Bill“ erwidert Gustav unbekümmert. Wusste ich doch. „Sing mir mal was vor“ fordert er mich auf und ich schwanke zwischen entnervtem Schnaufen und einem Lachanfall. „Also noch mal für die ganz langsamen Gustav: Ich singe höchstens unter der Dusche und ich bin mir ziemlich sicher, dass du das nicht hören willst. Okay? Ich weiß nicht, was in Tom gefahren ist, Bill so einen Schwachsinn zu erzählen. Und Bill wird seine Rache kriegen, das kannst du ihm gerne ausrichten“ sprudelt es aus mir heraus. „Boah bist du zickig“ kommentiert Gustav meinen Ausbruch. „Ist doch wahr“ motze ich ungehalten weiter. „Und deswegen bist du gekommen?“ frage ich dann etwas ruhiger. „Naja... ja. Was läuft denn da jetzt zwischen euch?“ will Gustav wissen und ich verdrehe genervt die Augen. „Was soll denn zwischen wem laufen?“ stelle ich mich blöd. „Ich dachte ja nur, weil Bill...“ „Hör zu Gustav, ist mir ziemlich egal, was du dachtest. Bill und Tom haben sich vertragen oder wie man das auch immer nennen will. Und weiter ist da nichts“ unterbreche ich ihn und ignoriere die Stimme in meinem Kopf, die immerzu „Lüge, Lüge, Lüge“ schreit. Wenn ich mir nur lange genug einrede, dass da nichts ist, dann ist da auch nichts. Jetzt bin ich verwirrt.
„Was ist los?“ holt Gustav mich aus meinen Gedanken und ich sehe ihn nur irritiert an. „Nichts, rein gar nichts“ nuschele ich leise. „Schön“ gibt Gustav zu Protokoll. Und jetzt? „Und jetzt?“ wiederhole ich meine Frage laut. „Jetzt geh ich wieder. Ich wollte nur meine Neugier befriedigen“ giggelt er und ich kann das so gar nicht lustig finden. „Sehr witzig“ blaffe ich ihn an und er lacht noch lauter. „Ihr seid echt ein paar Schätzchen, ihr alle drei“ meint er prustend. „Mensch Gustav, halt die Klappe. Kommt eh nur Mist bei raus“ fluche ich aufgebracht.
„Shirin, du bist toll. Einmalig toll. Und ich glaub, du weißt das gar nicht“ meint Gustav eine Spur ernster. „Was willst du mir denn damit wieder sagen?“ frage ich scharf. „Ähm... eigentlich nur, dass ich Bill verstehen kann, dass er so auf dich steht – und auch wieder nicht. Er hat doch immer noch mich“ sagt er und jetzt hat seine Stimme den Klang von Wehmut angenommen, sein Gesicht ist ernst und die Stirn hat er in Falten gelegt. Ach Gottchen. Damit bin ich jetzt überfordert. Und ich hab nicht mal Zeit, Herzrasen zu kriegen wegen Bill oder so. „Willst du Kaffee?“ frage ich unbedacht, es ist eben wirklich meine Lösung für alle Probleme, den Leuten erst mal eine Tasse Kaffee anzubieten. „Nee, lass mal. Ich muss wieder los langsam” antwortet Gustav, drückt mich so fest an sich, dass ich erschrocken quietsche und ist dann so schnell durch die Tür verschwunden, dass ich mich allen ernstes frage, ob ich den Auftritt gerade nur geträumt hab.

54.
Als Tom wiederkommt, habe ich immer noch Stimmungsschwankungen. Einerseits bin ich sauer auf Bill und Tom, andererseits muss ich immer noch ein bisschen über Gustav grinsen. Und irgendwie tut er mir auch leid. „Was hast du?“ will Tom wissen, der eigentlich immer sofort merkt, wenn irgendwas vorgefallen ist. „Gustav war hier“ fange ich an zu erzählen. Tom lässt sich seufzend auf seinen Sessel sinken. „Und was wollte er?“ stellt er als nächste Frage. „Bill hat ihm das mit dem Singen erzählt und er wollte, dass ich ihm was vorsinge“ meine ich, mir das Lachen verbeißend, auch wenn ich eigentlich wütend auf die Zwillinge bin. Aber alleine die Vorstellung ist zu komisch. Tom sieht mich entsetzt an. „Wie bitte?“ „Ja, danke auch. Da hast du was Schönes angerichtet“ motze ich Tom an, habe aber immer noch Mühe ernst zu bleiben. „Das wollte ich nicht“ erwidert Tom und sieht ehrlich geknickt aus. „Ist schon gut. Ich glaube sowieso, dass das nur ein Vorwand war“ mache ich eine Andeutung und jetzt zieht Tom fragend die Augenbrauen nach oben. „Er wollte wissen, was wir mit Bill haben – du oder ich oder wir beide“ werde ich deutlicher. „Ach du liebe Zeit“ schnauft Tom.
„Beruhig dich wieder. Ich hab das schon geregelt“ beschwichtige ich und erhalte nur ein Grummeln als Antwort. „Und du? Hast du alles geklärt?“ lenke ich dann schleunigst vom Thema ab. Irgendwie wird mir schon wieder leicht schwummerig, wenn ich an Bill denke. „Ja“ sagt Tom einfach, reibt sich über die Augen und sieht in diesem Moment unglaublich müde aus. „Wir müssen morgen Geld besorgen“ fügt er dann hinzu. „Kein Problem“ erwidere ich, als wäre es das normalste von der Welt, dass man unschuldige Menschen beklaut. Ich sollte mich eigentlich schämen. Aber dafür bin ich einfach schon zu weit gegangen in meinem Leben. Ob ich überhaupt jemals ein normales Leben führen werde, das steht wohl immer noch in den Sternen.
„Shirin, können wir schlafen gehen? Ich fühl mich total k. o.“ reißt Tom mich aus meinen Gedanken. „Sicher“ gebe ich zurück, obwohl ich gar nicht müde bin. Manchmal gehen mir meine Eigenarten selber auf den Geist. Immer muss ich mir über alles den Kopf zerbrechen, kann mich auf nichts konzentrieren und schlafen werde ich erst recht nicht können...
Später liegen wir zusammengekuschelt im Bett, ich höre Toms regelmäßigen Atemzügen zu und schweife schon wieder ab. Er ist fast sofort eingeschlafen, während ich mich hier herumschlage. Ob es lange dauern wird mit dem Therapieplatz? Ich werde mich schrecklich einsam fühlen, wenn Tom nicht da ist. Und doch wird es der einzige Weg sein, so kann es einfach nicht weitergehen. Und wenn er das endlich einsieht, sind wir schon einen ganzen Schritt weiter. Über alles andere mag ich nicht nachdenken, es verwirrt mich viel zu sehr. Bill hat gesagt, er wird die Finger von mir lassen und ich hoffe, er hat das ernst gemeint. Und Eva? Was könnte sie schon groß planen? Ich glaube Bill. Und Gustav kann sie nicht leiden. Was soll schon passieren? Irgendwann schlafe ich über meinen ganzen Grübeleien doch noch ein.
***
Irgendein schrilles Geräusch reißt mich am nächsten Tag aus dem Schlaf. Ich brauche eine ganze Weile, um zu wissen, wo ich bin und was überhaupt los ist. Ich registriere erst, dass es die Türklingel war, die mich so unsanft geweckt hat, als es erneut klingelt. Diesmal ziemlich eindringlich. Meine Güte. Stöhnend erhebe ich mich, merke, dass ich heute Kopfschmerzen bekommen werde, und bleibe kurz an Toms Anblick kleben. Er sieht so... unschuldig aus, wenn er schläft. Wie bescheuert sentimental bin ich nur wieder drauf. Eigentlich sollte ich wütend sein, dass er in solchen Situationen niemals wach wird, selbst wenn eine Bombe neben seinem Bett einschlagen würde.
Und wieder klingelt es an der Tür. Mit wackeligen Beinen schlurfe ich in den Flur und schreie dem Störenfried ein ungehaltenes „Jaaaa!“ entgegen. Dann reiße ich mit allem Schwung, den ich zu so früher Stunde besitze, die Tür auf. „Meine Güte, liegt ihr im Koma?“ begrüßt mich Bill. „Nee“ muffele ich ihm entgegen, was ihm ein leichtes Schmunzeln entlockt. „Ich bin nur ein extremer Morgenmuffel“ gebe ich dann gähnend zu. Jetzt grinst Bill. „Morgenmuffel ist gut – es ist schon weit nach Mittag“ teilt er mir mit. „Mir doch egal. Was gibt’s denn so dringendes?“ frage ich, immer noch nicht richtig wach. „Vielleicht solltest du dafür Tom wecken“ meint Bill und das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Ich bin zu müde, um zu protestieren. „Okay, setz dich ins Wohnzimmer, das kann aber ne Weile dauern“ gebe ich mich geschlagen. „Ich weiß“ kommentiert Bill und mein Herz zieht sich bei diesen Worten schmerzhaft zusammen. Ja sicher weiß er das, aber muss er mir das unter die Nase reiben? Und wieder einmal frage ich mich, wer von uns beiden Tom besser kennt – ich oder Bill? Scheiße. Das wird kein guter Tag, ich ahne es jetzt schon.
Frustriert wanke ich zurück ins Schlafzimmer. Tom hat sich keinen Millimeter bewegt. Sanft rüttele ich ihn an der Schulter. „Tom, du musst aufstehen!“ untermale ich mein Gerüttele, was ihn aber nicht im Geringsten stört. Er grummelt nur etwas unverständliches und dreht sich auf die andere Seite. „Tom, steh auf. Bill ist da“ sage ich, nun schon etwas lauter. Beim Namen seines Bruders macht Tom ein Auge auf. Na bitte, geht doch. „Was will er denn?“ nuschelt er so verschlafen, dass ich ihn kaum verstanden habe. Ich würde ihn auffressen, wenn ich nicht schon wieder so verwirrt wäre. „Keine Ahnung, aber es scheint irgendwie wichtig zu sein“ bringe meinen ersten vernünftigen Satz heute hervor. Tom stöhnt genervt, gähnt und streckt sich ausgiebig und scheint dann wenigstens so weit wach zu sein, dass er aufstehen kann.
Zwei Minuten später sitzen wir Bill gegenüber. „Nun rede“ fordere ich ihn auf. „Ich hab einen Therapieplatz“ sagt Bill und ich kann mir nicht vorstellen, dass er weiß, was er mit diesen paar Wörtern in mir auslöst. „Du hast was?“ hakt Tom nach, ich weiß nicht, ob er überhaupt verstanden hat, was Bill gesagt hat. „Ich habe einen Therapieplatz“ wiederholt Bill brav, ich kann an seinem Gesichtsausdruck nicht festmachen, was er denkt. „So schnell?“ frage ich zweifelnd. „Naja... das hört sich blöd an, aber ich hab da ein paar Beziehungen spielen lassen... und, ach egal. Ich finde es einfach wichtig“ druckst Bill herum. Tom höre ich immer lauter neben mir atmen, aber er gibt keinen Ton von sich. Ich weiß nicht, was ich denken soll.
Einen Moment ist es still, aber bevor das Schweigen unangenehm werden kann, ergreift Tom doch noch das Wort. „Und wo?“ will er wissen. „Am Bodensee“ kommt es von Bill. „Am Bodensee?“ rufen Tom und ich wie aus einem Mund. Noch weiter weg ging es ja nicht... „Ja. Das ist eine gute Klinik, eine Privatklinik und übermorgen kannst du hinfahren. Und dass es weit weg ist, spielt keine wirkliche Rolle, die ersten vier Wochen darfst du keinen Besuch haben, keine Telefonate führen...“ sprudelt es aus Bill heraus. Keine Besuche? Keine Telefonate? Vier Wochen? Übermorgen? Privatklinik? Ich bin gerade etwas überfordert mit dieser Fülle an Informationen. „Oh“ ist alles, was Tom sagt. Doch mir macht schon wieder etwas anderes Sorgen. „Und wer bitteschön soll eine Privatklinik bezahlen?“ frage ich scharf. „Mach dir keine Gedanken“ erwidert Bill, was wohl soviel heißen soll, dass er das übernehmen will? „Aber das...“ setze ich an, doch Tom unterbricht mich. „Shirin lass. Ich zahl dir das aber zurück!“ Erstaunt reiße ich die Augen auf. „Darüber können wir uns immer noch unterhalten. Jetzt ist erst mal wichtig, dass du das auf die Reihe bekommst“ gibt Bill von sich. „Ich will mich hier nicht als Wohltäter oder so aufspielen, nicht, dass ihr das falsch versteht. Aber ich finde, man sollte alle Chancen nutzen, die sich bieten. Und besser gleich, als irgendwann“ fügt er noch hinzu und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er es ehrlich meint.
55.
Die nächsten zwei Tage erlebe ich wie in Trance. Irgendwie zieht alles an mir vorbei, ohne dass ich es richtig mitschneide. Tom will es machen, für mich, wie er sagt. Wir haben stundenlang geredet, mit und ohne Bill, aber nicht ÜBER Bill. Ich hätte es auch wahrscheinlich nicht ertragen.
Sicher ist das gut so, was Tom tut, eine richtige Entscheidung, so würden rational denkende Menschen es wohl nennen. Aber ich habe Angst, an mir nagen Zweifel und mittlerweile bin ich fast ein bisschen hysterisch. Ein letztes Mal waren wir gestern Abend unterwegs, um „Geld zu besorgen“ und ich war so fahrig und unkonzentriert, dass wir um ein Haar aufgeflogen wären.
Wobei es Tom da nicht wirklich besser geht als mir, er ist so still, dass es mir Angst macht.
Und jetzt ist die letzte Stunde an unserem letzten Tag angebrochen. Bill wollte seinen Bruder höchstpersönlich mit dem Auto in die Klinik bringen, aber er hat sich strikt geweigert und so sind wir letztendlich Bahntickets kaufen gegangen. Jetzt sitze ich hier, schaue zu, wie Tom seine Habseligkeiten in eine Tasche stopft und kämpfe mit den Tränen.
Alles geht auf einmal viel zu schnell, dabei macht Tom doch jetzt endlich das, was ich immer wollte. Ich verstehe mich selbst nicht. Tom zieht den Reißverschluss seiner Tasche zu und setzt sich dann zu mir aufs Bett. „Shirin, ich wollte dir noch was sagen“ fängt er an und ich muss schlucken. „Ich möchte nicht, dass du die nächsten vier Wochen hier sitzt und allein bist. Ich hab Bill gebeten, auf dich aufzupassen, vielleicht ist er nicht der Richtige dafür, aber ich vertraue ihm. Okay? Mach dir nicht so viele Sorgen, das macht nur depressiv. Du bist so stark, ich weiß gar nicht, ob dir das bewusst ist. Und ich schaff das schon. Die Zeit geht schneller rum als du denkst...“ Hier unterbricht er seinen kleinen Redeschwall. Meine Augen schwimmen mittlerweile in Tränen, ich kann Tom nur noch schemenhaft erkennen und versuche verzweifelt, nicht zu blinzeln, weil ich dann nicht mehr zu halten bin. „Shirin, bitte nicht weinen, du weißt doch, dass ich das nicht ertragen kann“ sagt er fast hilflos und nimmt mich dann einfach in den Arm, als die erste Träne meine Wange herunterkullert. Ich weiß nicht, wie ich mindestens vier Wochen ohne ihn aushalten soll, wir waren noch nie so lange getrennt. Und dann bittet er ausgerechnet Bill, auf mich „aufzupassen?“
„Tom... hältst du das für eine gute Idee, das mit Bill?“ Ich bringe die Worte nur schluchzend hervor, aber ich muss das jetzt trotzdem wissen. „Ich weiß nicht, Shirin. Aber ich vertraue euch, ich weiß nicht warum, aber es ist so. Es ist okay. Den Gedanken, dass du alleine hier sitzt finde ich schlimmer als alles andere. Und den ganzen Rest klären wir in Ruhe, wenn ich wieder da bin ja? Ich hab jetzt keinen Kopf dafür“ sagt Tom und ich nicke nur. Ich kann ihn ja verstehen.
Genau in diesem Moment klingelt es an der Tür. „Das wird Bill sein“ sagt Tom und springt auf. Schnell wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und versuche mich zusammenzureißen. Bill hat sich angeboten, Tom zum Bahnhof zu bringen und ich war erst wieder gar nicht angetan von dieser Idee, aber Tom hat darauf bestanden. Manchmal fällt es mir schwer, seine Entscheidungen nachzuvollziehen. Und Bill ist sowieso ganz verändert, seit er das mit Tom weiß. Ich werde einfach nicht schlau aus den beiden.
Tom nimmt seine Tasche, greift nach meiner Hand und schweigend gehen wir die Treppen nach unten. Es fühlt sich an wie der Gang zum Zahnarzt, nur noch tausendmal schlimmer. „Hey Bill“ bringe ich mühsam hervor, als wir uns unten gegenüber stehen. „Alles okay?“ fragt er besorgt. „Geht schon“ wehre ich ab. Er ist nun wirklich der letzte, der mich trösten sollte.
Viel zu schnell sitze ich mit Tom auf der Rückbank, viel zu schnell halten wir am Bahnhof und viel zu schnell stehen wir schließlich vor dem Zug.
Wie durch einen Nebel sehe ich zu, wie Tom sich von Bill verabschiedet, nicht unterkühlt, aber dennoch nicht richtig herzlich. Tom flüstert Bill etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen kann. Und irgendwie will ich es auch gar nicht wirklich wissen. Und doch merkt man deutlich, dass etwas zwischen den beiden steht.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Tom mich ein letztes Mal in eine feste Umarmung zieht und fast gleichzeitig fangen die Tränen wieder unaufhaltsam an zu laufen. „Ich liebe dich Shirin, vergiss mich nicht“ flüstert Tom mir ins Ohr und ich kann nur noch den Kopf schütteln. Wie könnte ich ihn vergessen?
Wir küssen uns kurz, aber intensiv und in diesem Augenblick ist es mir völlig egal, dass Bill daneben steht.
„Ich liebe dich auch Tom“ hauche ich ihm gegen die Lippen und er lächelt. Er lächelt sein warmes, strahlendes Tom-Lächeln mit einer Spur von Traurigkeit und das macht mir das Herz noch schwerer. Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll.
Schließlich löst sich Tom von mir, wirft Bill einen bedeutungsvollen Blick zu und steigt in seinen Zug.
Ich fühle mich so hilflos und alleingelassen, aber diese Tatsache macht mich gleichzeitig unglaublich wütend. Ich bin nicht schwach. Und ich darf mich jetzt nicht gehen lassen. „Er schafft das Shirin, ich bin mir sicher“ sagt Bill plötzlich neben mir und holt mich damit in die Wirklichkeit zurück. Kurz drückt er meine Hand, lässt sie aber fast sofort wieder los. Und ich bin ihm dankbar dafür.

56.
Scheiße. Hätte ich mich bloß nicht auf diese saublöde Idee eingelassen. Aber jetzt bin ich hier und ich sollte das Beste aus dem Abend machen. Immerhin hat Bill über zwei Wochen gebraucht, um mich überhaupt vor die Tür zu bewegen. Über zwei Wochen, in denen ich fast verrückt geworden bin. Nachts kann ich kaum noch schlafen und selbst die regelmäßigen Besuche von Bill und Gustav machen die Sache eher noch schlimmer als besser. Andererseits konnte ich noch nie gut allein sein.
Und als Bill gestern wieder vor der Tür stand und mich zum X-ten Mal gefragt hat, ob ich nicht heute Abend etwas unternehmen wolle, hab ich zuerst wie immer abgeblockt. Doch Bill ist nicht auf den Kopf gefallen, das muss ich ihm ja wirklich lassen. Sein Argument, Tom würde es sicherlich nicht gefallen, dass ich nur rumsitze und Trübsal blase, hat eindeutig gezogen. Denn es ist die Wahrheit. Und da Bill in dieser ganzen Zeit nicht einen einzigen Annährungsversuch gemacht hat, bin ich schließlich mitgegangen.
Mich stört nur eine einzige Sache ganz gewaltig: Dass Gustav Eva mit in diese blöde Disco geschleppt hat. Wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich zu Hause geblieben. Bill wusste angeblich selbst nichts davon bis vorhin. Ich hoffe es jedenfalls für ihn, ansonsten köpfe ich ihn eigenhändig.
Mürrisch beobachte ich Gustav und Eva, die es sich auf der letzten freien Couch in einer Nische bequem gemacht haben. „Warum schleppt er sie mit? Ich kann sie nicht ausstehen“ gifte ich Bill an, der nur mit den Achseln zuckt. „Ich weiß es doch nicht Shirin. Irgendwie haben die beiden sich angefreundet in letzter Zeit, aber Gustav will mir nichts darüber erzählen“ wiederholt er das, was er mir schon so oft gesagt hat. Ja, ich weiß das. Aber ich verstehe es nicht. Gustav hat mir doch erzählt, er halte Eva für „böse“ und er könne sie nicht leiden. Irgendwas stimmt da doch nicht. Plötzlich sind sie die besten Freunde und selbst meine anhaltenden Sticheleien scheinen Gustav nichts auszumachen. Und er redet mit mir auch nicht über Eva. Warum ich so blöd war und trotzdem in Bills Auto gestiegen bin als ich sie auf der Rückbank erblickt hab, weiß ich selber nicht. „Stör dich doch einfach nicht an ihr“ meint Bill unbekümmert. Ja. Toll. Am liebsten würde ich direkt wieder nach Hause verschwinden.
„Mensch Bill, ich hab dir doch gesagt, was ich von ihr halte. Und du lässt sie in deinem Auto mitfahren!“ rege ich mich weiter auf. „Shirin. Bitte. Mir hat sie nichts getan. Und du siehst doch, dass die beiden sich auch ganz gut allein unterhalten können. Und außerdem bin ich froh, dass du endlich mal unter Leute gehst“ redet Bill wie ein Wasserfall auf mich ein. Ich verdrehe die Augen, setze mich aber dann doch neben ihn, als er mit der Hand auf den freien Platz zu seiner Linken klopft. Irgendwie bin ich ja glücklich, Bill zu haben und ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal auf solch einen Gedanken kommen könnte. Er hat mir zugehört, er war einfach da, ohne Forderungen zu stellen. Mittlerweile vermisse ich Tom so sehr, dass es weh tut, aber Bill hat mich abgelenkt, hat mich nach meinem Leben, meiner Familie gefragt und immerhin ist er der einzige, den ich zum Reden hab.
Es ist sicherlich nur die Angst vor dem allein sein, die mich so offen für Bill macht. Tom hat sich nicht gemeldet, wahrscheinlich darf er es gar nicht. Diese Ungewissheit wird mich noch wahnsinnig machen.
„Ich hol was zu trinken, willst du was bestimmtes haben?“ reißt Bill mich aus meinen Gedanken. „Baileys bitte“ sage ich ohne nachzudenken. Bill grinst und verschwindet Richtung Bar. Inzwischen weiß er schon eine ganze Menge über mich und die Vorliebe für dieses Getränk teilen wir uns, wie einiges andere auch. Hm.
Stirnrunzelnd verfolge ich weiter das Geschehen neben mir. Ich kann Gustav nicht verstehen. Er muss doch merken, wie bescheuert Eva ist mit ihren dämlichen Kommentaren und ihrem falschen Lachen. Ich werde jedenfalls kein Wort mehr als nötig mit ihr wechseln. Bill kommt wieder und ich entspanne mich ein bisschen. Irgendwie werde ich den Abend wohl überstehen und vielleicht muss ich mal ein paar Stunden nicht an Tom denken.
***
„Herrlich“ kichere ich vor mich hin. Bill und ich sind dazu übergegangen, die Leute auf der Tanzfläche zu beobachten, was wirklich amüsant ist, wie ich zugeben muss. Mit Gustav und Eva ist eh nichts anzufangen, den ganzen Abend stecken sie schon die Köpfe zusammen und reden nicht wirklich mit uns. Hin und wieder wirft sie mir giftige Blicke zu, aber das kann ich mir auch einbilden. „Schau mal, der da!“ Bill stößt mir den Ellenbogen in die Seite und deutet gar nicht unauffällig auf einen Typen, der sich gerade mit seinen Verrenkungen zum Affen macht. Ungehalten pruste ich los. „Macht man sich denn so auffällig über andere Menschen lustig?“ zieht Bill mich auf, kann sich aber selber das Lachen kaum verkneifen. „Ich bin aber froh, dass du wieder lachst“ flüstert er mir keine Sekunde später ins Ohr. Ich grinse zufrieden. Der Abend ist schöner, als ich erwartet hatte, mal abgesehen von einer Person.
„Hey Leute, ich geh Nachschub holen“ brüllt auf einmal besagte Person, nämlich Eva und schwenkt mit ihrem leeren Glas herum. „Wollt ihr auch was?“ „Ja, zwei Baileys“ schreit Bill zurück. Werd ich hier auch mal gefragt? Aber ich hatte erst zwei Drinks heute und ein dritter wird nicht schaden. So zum Vergessen und Abschalten. „Lass mich das doch machen Eva“ ruft plötzlich Gustav, aber sie schüttelt nur lachend den Kopf und ist auch schon verschwunden. „Mein Gott Gustav, du wirst dich doch wohl nicht verlieben?“ fragt Bill leicht amüsiert, aber Gustav grinst nur blöd. Ich verstehe die Männer nicht. So leicht zu manipulieren... aber es geht mich ja nichts an und so verzichte ich auf einen bissigen Kommentar.
„Was ist nur los mit ihm?“ frage ich statt dessen Bill, der aber nur abwinkt. Von mir aus. Sollen sie doch alle machen, was sie wollen, ich werde mich jedenfalls nicht mit ihr abgeben. Viel lieber würde ich sie mal drauf ansprechen, was dieser bescheuerte Brief damals sollte. Ach, egal. Bill lenkt mich ab und als Eva wiederkommt, hab ich den Brief schon wieder vergessen. Sie überreicht Bill die beiden Gläser und für eine Sekunde kann ich ein bösartiges Glitzern in ihren Augen sehen. Hm. Einbildung ist auch ne Bildung. Kopfschüttelnd verbanne ich diesen abstrusen Gedanken. Ich werde noch paranoid...
Bill lässt sein Glas gegen meins klirren, während Eva sich wieder voll und ganz Gustav widmet. Ich werfe einen letzten Blick auf die beiden, frage mich kurz, ob Gustav hormongesteuert oder einfach nur dumm ist, dann leeren Bill und ich unsere Gläser in einem einzigen Zug.
57.
Bilde ich mir das ein oder verändert sich hier gerade alles um mich herum? Eben war noch nichts komisch, jedenfalls nicht auf DIESE Art komisch und jetzt plötzlich knistert die Atmosphäre, der Bass wummert noch intensiver und ein weiterer Blick zur Seite lässt mich grinsen. Wenn Gustav so weiter macht, wird er heute noch abgeschleppt. Noch näher kann er eigentlich nicht an Eva heranrutschen. Hm. Es regt mich gleichzeitig auf und fasziniert mich aber auch irgendwie. Auf jeden Fall wird es mir eindeutig zu heiß hier.
"Komm" fordere ich Bill auf, zerre so lange an seiner Hand, bis er mit fragenden Augen vor mir steht. "Was hast du vor?" will er leicht irritiert wissen. "Ich glaub wir stören hier" antworte ich, deute auf die beiden Menschen neben uns und Bill grinst verstehend. Ob er sich auch so komisch fühlt wie ich? "Und nun?" will er wissen. "Und nun gehst du mit mir tanzen" bestimme ich und ziehe ihn einfach hinter mir her, bevor er protestieren kann. "Aber ich kann gar nicht tanzen" versucht er es dann doch. "Keine Widerrede" grinse ich und schmiege mich einfach an ihn, als wir mitten zwischen all den anderen Leuten stehen. Was ist nur plötzlich in mich gefahren? So viel hab ich doch gar nicht getrunken und trotzdem ist mir leicht schwummerig und heiß. Richtig heiß. Unglaublich heiß. Und mir wird noch heißer, als Bill sich um mich herumschleicht, von hinten an mich heranpresst und wir uns so gemeinsam im Rhythmus der Musik wiegen. Uhh. Von wegen er kann nicht tanzen... Ich fühle mich wie im Rausch.
Ewig könnte ich hier so stehen, aber auf einmal löst Bill seine Hände von meinem Bauch, dreht mich zu sich um und sieht mir offen ins Gesicht. "Ich fühl mich ganz komisch Shirin. Ich sollte dich besser... nach Hause bringen" nuschelt er mir ins Ohr und sein warmer Atem schickt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Das meint er doch jetzt nicht ernst...
"Nach Hause bringen?" murmele ich verständnislos, versuche mit Kopfschütteln dieses verdammte Schwindelgefühl loszuwerden, doch es will mir einfach nicht gelingen. Mir ist heiß, Bill ist heiß und es ist doch so offensichtlich, dass er mich will, er wollte mich die ganze Zeit, auch wenn er es nicht gezeigt hat in den letzten zwei Wochen. Was hat er für ein Problem? Okay. Gut. Ich kenne das Problem. Es hat sogar einen Namen. Aber ich kann und will jetzt nicht vernünftig denken. "Komm Shirin, ich glaub es ist wirklich besser so" versucht Bill mich zu überzeugen, greift sich meine Hand und schleift mich hinter sich her zurück zum Sofa. Wahrscheinlich will er sich verabschieden. Aber allein die Tatsache, dass unsere Hände miteinander verschränkt sind, bringt schon mein Blut in Wallung und denken kann ich eh seit ein paar Minuten nicht mehr. Was ist nur los? Noch bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, pralle ich unsanft in Bills Rücken, der einfach stehen geblieben ist. "Aua" schimpfe ich, reibe mir die Nase, die unangnehme Bekanntschaft mit seinem Schulterblatt gemacht hat und luge dann hinter Bills Rücken hervor, um den Grund für seine Aktion zu erfahren. Und dann bleibt mir der Mund offen stehen. Das gibt`s doch gar nicht, auch wenn ich es eben schon geahnt hatte.
Gustav... ob er sich sicher ist bei dem was er da tut? Es sieht so aus. Es sieht unglaublich eindeutig aus. Ich kann gar nicht mehr sagen, wo sein Körper aufhört und Evas anfängt, sie werden gleich ineinander kriechen. Gustav hat seine Lippen fest auf ihre gepresst und trotz der Entfernung sehe ich, wie seine Zunge in ihrem Mund verschwindet. Uh. Entweder hauen wir jetzt ganz schnell ab oder ich falle über Bill her. "Scheiße" höre ich selbigen fluchen. Ob er genau so denkt wie ich? "Bill..." Ich drücke seine Hand fester, während ich seinen Namen ausspreche und wie erwartet dreht er sich wieder zu mir um. "Bill, ich will dich küssen" raune ich ihm entgegen und sehe erfreut, wie sich seine Augen ein kleines Stück weiten. Und dann sehe ich, wie er fast verzweifelt versucht, die Fassung zu bewahren, dagegen anzukämpfen. Mein Herz hämmert rasend schnell gegen meine Brust und ich will ihn jetzt einfach, ich kann nichts dagegen tun. "Shirin, das... geht nicht... und, ich sag Gustav Bescheid, dass ich dich nach Hause bringe" sagt er erst zögerlich, dann immer bestimmter, aber ich lasse seine Hand nicht los und es hat auch nicht den Anschein, dass er das wirklich will. "Bill..." hauche ich wieder und plötzlich ist sein Gesicht ganz nah vor meinem. "Shirin..." kommt es zurück, ich versinke in seinen Augen und dann ist alles zu spät. Seine linke Hand schleicht sich in meinen Rücken, seine rechte packt mich an der Hüfte und keine Sekunde später treffen unsere Lippen aufeinander. Oh Gott. Ich verbrenne unter seiner Berührung, muss mich an seinem T-Shirt festkrallen, um nicht umzufallen. Bill presst sanft seinen Mund auf meinen, als hätte er Angst, noch mehr kaputtzumachen, wenn er weitergeht. Doch ich bin nicht mehr zu halten, dränge meinen Körper fest an seinen, sauge förmlich seinen Geruch in mich auf und beiße ihm schließlich zärtlich in die Unterlippe, was ihn leise seufzen lässt. Dann löst er sich wieder ein Stück von mir. "Was?" frage ich enttäuscht. "Das ist keine gute Idee" bringt er hervor, sein Atem geht schnell und noch immer hält er mich fest. Okay. Mal sehen, wie lange er sich beherrschen kann. Spielchen spielen kann ich genau so gut wie er. "Gut Bill, bring mich nach Hause. Aber sag Gustav Bescheid" meine ich, mir das Grinsen verkneifend, denn ich kann sehen, was Bill nicht sieht. Er nickt, dreht sich um und zuckt fast sofort merklich zusammen.
Ha. Ich wusste, dass ihn der Anblick nicht kalt lässt. Gustav ist mittlerweile damit beschäftigt, Evas Hals mit Küssen zu übersäen, sie ist tiefer ins Sofa gerutscht, hat ein Bein um ihn geschlungen und presst ihn an sich. Wäre es nicht so laut hier, könnte man sie mit Sicherheit lustvoll keuchen hören. Wollen die hier mitten in der Disco? Von Gustav bin ich ja einiges gewohnt, aber das hier... "Ach lass" meint Bill jetzt, atmet tief aus, nimmt wieder meine Hand und zieht mich schnell aus dem Club. Draußen stehen einige Taxis und wir lassen uns auf den erstbesten Rücksitz fallen. Bill nennt dem Fahrer meine Adresse und lässt es zu, dass ich mich in seine Arme kuschel. Mir ist immer noch heiß, schwummerig und der Gedanke an meine Wohnung erscheint mir grauenvoll. Der Gedanke mit Bill in meiner Wohnung - ein Alptraum. "Nimmst du mich mit zu dir?" frage ich ihn und zum ersten Mal kommt mir in den Sinn, dass hier etwas nicht stimmt. Doch es ist mir schlichtweg egal. Bill sieht mich tadelnd an, aber ich bin wie besessen von der Idee, ihn noch einmal zu besitzen. Nur heute Nacht.
"Ich kann jetzt nicht allein sein" flüstere ich in Bills Ohr, lasse ein Bein auf seinen Schoß gleiten und höre grinsend, wie er nach Luft schnappt. Und schließlich nennt er dem Fahrer eine andere Adresse - seine eigene. Mein Grinsen wird breiter und ich beginne, hingebungsvoll seinen Hals zu küssen. "Ich... schlafe auf dem... Sofa... klar?" bringt er abgehackt hervor, schiebt mich aber nicht zur Seite. Ich reagiere gar nicht darauf. Er wird definitiv nicht auf dem Sofa schlafen, auch wenn er sich das einreden will.
Schließlich stehen wir vor seinem Haus. Ich habe beschlossen, mich vorerst brav zu benehmen, damit er mich nicht doch noch wegschickt. Schweren Herzens behalte ich meine Hände bei mir, auch wenn mir das angesichts seines knackigen Pos in der engen Hose unglaublich schwer fällt. Scheinbar endlos fummelt Bill mit dem Schlüssel herum, bis er die Tür offen hat. Wieder greift er nach meiner Hand und zieht mich die Treppe nach oben zu seinem Zimmer. An meiner Hand beginnt es mächtig zu kribbeln. Es ist wie ein süßes Feuer, das sich langsam meinen Arm hoch schleicht und dann mit meinem Herz züngelt. Die Flammen schlagen auf meinen ganzen Körper über und wieder wird mir unglaublich heiß. Ich merke gar nicht, dass wir schon in Bills Zimmer stehen. "So, du kennst dich ja aus, ich werde unten im Wohnzimmer auf der Couch..." setzt er an, aber ich lege ihm einen Finger auf den Mund, um ihn zu unterbrechen.
"Das willst du doch gar nicht Bill" kommt es leise von mir und ich warte gespannt auf seine Reaktion. "Shirin, ich... wir..." Er versucht meinem Blick standzuhalten. Ich kann nicht mehr. Sein Geruch in diesem Raum ist einfach überwältigend und etwas rieselt heiß mein Rückgrat hinunter. Ich muss ihn jetzt küssen. "Ich kann nicht anders" flüstere ich fast entschuldigend, bevor ich mich langsam vorbeuge und seinen Mund mit meinem verschließe. Augenblicklich verspannt sich Bill und schiebt mich ein Stück von sich weg. "Shirin, mach es mir nicht so schwer bitte..." fleht er schon fast, seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch, ein Flüstern. "Aber ich will dich Bill. Ich will dich jetzt. Und hier. Und sofort." Mit jedem Wort komme ich ihm wieder näher, bis ich ihn erneut küsse. Und sein Widerstand lässt nach, innerhalb von ein paar Sekunden schlingt er seine Arme um meinen Körper, zieht sich dann leicht zurück, nur um behutsam mit seiner Zunge über meine Lippen zu streichen.
Ich stehe unter Strom, kann kaum noch klar denken, fühle nur die samtweiche, warme Zunge von Bill, die vorsichtig über meine Lippen gleitet. Bereitwillig gewähre ich ihm Einlass. Unsere Zungen verfangen sich in einem leidenschaftlichen Spiel. Keiner von uns beiden will aufgeben. Bill umkreist meine Zunge, massiert sie, während ich immer wieder verzückt mit Bills Piercing spiele, den kleinen Stab hin und her bewege. Mittlerweile klammern wir uns aneinander fest, keuchen leise in den Kuss. Es überrennt mich einfach, ich bin wie ausgehungert. Bills weiche Hände legen sich in meinen Nacken, ziehen mich näher an ihn heran. Meine eigenen Hände wandern rastlos über seinen Rücken, krallen sich in seiner Seite fest, als ich wieder fast glaube ohnmächtig zu werden und dann schubse ich Bill einfach rückwärts aufs Bett. Er hat erschrocken die Augen aufgerissen, seine Brust hebt und senkt sich schnell und ich weiß, dass er etwas sagen will. Doch ich mag es nicht hören - jetzt ist es endgültig zu spät für Einwände.
Katzengleich bewege ich mich auf das Bett zu, klettere auf Bills Schoß und sehe ihm tief in die Augen. "Was ist das hier Shirin? Was..." unterbricht er jetzt doch wieder die Stille des Zimmers, aber ich schüttele schnell den Kopf. "Nicht reden - genießen" bestimme ich flüsternd, verwickele Bill geschickt in einen erneuten Kuss, der fast sofort in eine leidenschaftliche Knutscherei ausartet. Noch während wir ein wildes Zungengefecht austragen, fahre ich unablässig Bills Oberkörper auf und ab, unterbreche den Kuss nur, um ihm sein T-Shirt über den Kopf zu zerren, die Hose von den Beinen zu streifen und mich wieder auf seinen Schoß zu setzen. Zart bearbeite ich seine Brustwarzen mit den Fingern. Umkreise sie sanft, spiele mit ihnen bis sie hart werden. Während ich mit der anderen Hand nun über seinen Bauch fahre, kurz mit dem Finger in die kleine Vertiefung des Bauchnabels stoße, bewege ich mein Becken langsam vor und zurück, mache kreisende Bewegungen. Ich werde Bill in den Wahnsinn treiben, will ihn vor Lust beinahe sterben sehen, ihm eine unvergessliche Nacht bescheren.
Bill fängt an zu seufzen, ich bewege meine Hüften automatisch schneller, übe mehr Druck auf seine Lendengegend aus. Er stöhnt überrascht auf, hebt seine Hände und will mich berühren, doch ich lasse es nicht zu. Abrupt höre ich mit meinen ganzen Streicheleinheiten und dem Kreisen meines Beckens auf und halte Bills Hände fest. „Hey.. was machst du?“ protestiert er schwach. "Ich hab doch gesagt, du sollst genießen" wiederhole ich und endlich endlich passiert das, worauf ich schon seit geraumer Zeit warte: Bills Gesichtsausdruck verändert sich, leichte Verwirrung macht Platz für ein verschlagenes Grinsen, in seinen Augen beginnt es gefährlich zu glitzern und in diesem Moment weiß ich, dass ich gewonnen hab. Es macht mich unglaublich an - die Kontrolle macht micht an, und sein Anblick lässt sich das aufgeregte Prickeln von meinen Eingeweiden ausgehend in meinem gesamten Körper verbreiten.
„Na dann mach du mal schön weiter, ich entspanne mich und genieße...“ kommt es mit rauer Stimme von Bill und er legt die Arme unter seinen Kopf, schließt die Augen und wartet ab, was nun passiert. Doch erstmal geschieht gar nichts – denn ich bin heute diejenige, die leiden lässt. Genüsslich lecke ich mir über die Lippen, beuge mich dann ohne Vorwarnung nach unten und beiße durch den dünnen Stoff seiner Boxershorts leicht in seine Erregung. Plötzlich wird die Stille im Raum durch ein raues, überraschtes Stöhnen unterbrochen und ich muss grinsen.
„Ah.. was..was machst…du…denn?“ keucht Bill, doch er wird die Antwort nicht in sprachlicher Form bekommen. Statt dessen ziehe ich ihm ruckartig seine Shorts von den schmalen Hüftknochen und betrachte mit leuchtenden Augen, welcher Anblick sich mir bietet. Mein Gott. Letztes Mal hab ich es gar nicht auskosten können... aber das werde ich jetzt nachholen.
Mit meinen Händen halte ich Bill an seinem Becken fest, drücke ihn bestimmend ins Bett und senke dann langsam meine Lippen auf seine Spitze, hauche einen kleinen Kuss darauf.
„Du bist fies…“ stöhnt Bill unterdrückt, was mich wieder grinsen lässt. Mit der einen Hand drücke ich seine Erektion leicht Richtung Unterbauch, dann lecke ich einmal über die komplette Unterseite nach oben, was wiederum mit einem lauten Stöhnen quittiert wird. Bill kann anscheinend seine Hände nicht mehr länger bei sich halten, eine krallt er ins Laken, während er mit der andren versucht, mich weiter runterzudrücken. „Shirin, verdammt!“ kommt es in einem fast bösartigen Tonfall von Bill. Gleich hab ich ihn da, wo ich will. Grinsend setze ich noch einen kleinen Kuss auf Bills Erregung, ehe ich mich wieder aufsetze und mit meinen Streicheleinheiten über seinen Körper fortfahre. Meine Hände streicheln Bills Innenschenkel hinauf, stoppen jedoch kurz vor der gefährlichen Stelle. Lieber male ich mit einem Finger zarte Kreise um seinen Bauchnabel und die Hüften. Sein Brustkorb bewegt sich hektisch, er windet sich laut atmend auf dem Bett.
Zeit für eine Pause. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung schwinge ich mich von Bills Schoß und stehe auf. "Warte kurz...“ raune ich ihm zu, ignoriere seinen verwirrten Gesichtsausdruck und wende mich zur Tür. „Hey komm zurück“ protestiert Bill, will aufstehen, doch seine Beine machen offensichtlich nicht mit, er fällt kraftlos zurück auf die Matratze.
„Ich sagte doch, warte“ grinse ich und gehe nun endgültig aus dem Zimmer. Mit schnellen Schritten laufe ich runter in die Küche und habe nach kurzem Wühlen gefunden, wonach ich suche. Ich wusste doch, dass die beiden so was hier haben... dann will ich das schmollende Etwas mal erlösen gehen. Kurz flammt wieder der Gedanke in mir auf, was eigentlich mit mir los ist, aber ich verdränge ihn sofort wieder. "Was hast du da?" werde ich begrüßt, sehe, dass er sich um Beherrschung bemüht und versucht, einen Blick hinter meinen Rücken zu erhaschen, wo ich die Flasche versteckt halte. Ich antworte nicht, schenke ihm nur ein laszives Lächeln und gehe mit wiegenden Schritten wieder auf das Bett zu, drücke Bill nach hinten und setze mich zurück auf seinen Schoß. Eigentlich unfair, dass ich noch so vollkommen bekleidet bin und er hier gänzlich nackt vor mir liegt...
"Das wird dir gefallen" schnurre ich in sein Ohr, ehe ich sanft hineinbeiße. "Du willst mich foltern" stellt Bill fest, greift nach meiner Hand und zieht die Flasche Baileys hervor, die ich im Küchenschrank gefunden habe. „Na magst du das?“ frage ich anzüglich lächelnd, doch ich bekomme nur ein raues Stöhnen zu hören. Mit einem Grinsen öffne ich die Flasche, sehe zu, wie Bill jede meiner Bewegungen genauestens verfolgt. Langsam lasse ich etwas von dem klebrigen Inhalt der Flasche über Bills Brust fließen. Diesem entweicht bloß wieder ein Keuchen, schnell stelle ich die Flasche auf den Boden und beuge mich runter zu Bills, mit Baileys schimmernder, Brust. Zentimeter für Zentimeter nähere mich ihm, überwinde den letzten Abstand fahre dann mit meiner Zunge einmal quer über seinen Oberkörper. „Shirin... hnn..“ Bill bäumt sich unter mir auf.
Ich blicke in seine lustverhangenen Augen, registriere das Glitzern darin und lasse wieder meine Hände sprechen. Wandere mit den Fingerspitzen in tiefere Regionen. Bill entfährt ein weiteres lautes Stöhnen. Während meine Hände die Erkundungstour auf seinem Körper fortsetzten, beuge ich mich mit dem Kopf über sein Gesicht. Verringere den Abstand zwischen uns und verschließe unsere Lippen zu einem heißen Kuss. Hart dringt Bill mit seiner Zunge in meinen Mund, spielt mit meiner und jetzt bin ich es, die in den Kuss keucht, mein Atem geht schwer und ungregelmäßig.
Ruckartig zieht Bill meinen Kopf an den Haaren noch ein Stück näher zu sich, unsere Zungen umkreisen sich außerhalb unserer Münder leidenschaftlich.
Ich verschlucke mich beinahe an meinem eigenen Atem, denn es ist, als würde ein feuerrotes Feuerwerk in mir explodieren. Und jetzt wird Bill aktiv. Hastig zerrt er an meinen Klamotten und nur zu gerne helfe ich ihm dabei, mich davon zu befreien. Bill versenkt seine Zähne in meinem Hals, was mir einen verlangenden Laut entlockt. Oh Gott. Ich will ihn. Jetzt. Doch er macht keine Anstalten, es wirklich ernst werden zu lassen. Statt dessen fährt er mit einer Hand in meinen Nacken, wo sich sofort alle Härchen aufstellen, spreizt seine Finger und krallt sich dann in meinen Haaren fest. Die andere liegt locker auf meiner Hüfte. Scheiße. Ich halte das nicht mehr länger aus. An den Schultern ziehe ich Bill nach oben, bis er ebenfalls sitzt, schaue ihm noch einmal verlangend in die Augen und helfe dann nach, indem ich mich fest an ihn presse.
„Hnngh…ah..Bill…“ stöhne ich auf, als ich ihn endlich in mir spüre und synchron werfen wir die Köpfe in den Nacken. Mein Herz rast, die Lust bricht mit voller Wucht über mir herein und langsam fange ich an, mich auf ihm zu bewegen. "Schneller" keucht Bill mir nach kurzer Zeit entgegen und ich folge seiner Aufforderung. Seine Hände legen sich auf meine Hüften, unsere Becken klatschen mit jedem Stoß aneinander. Ich verliere langsam die Kontrolle, lasse mich gehen, will nur noch Erlösung. Das ist viel zu intensiv, so unglaublich intensiv, dass es eigentlich gar nicht wahr sein kann. "Oh Gott" stöhne ich ungehalten, bevor sich unsere Lippen wieder treffen. Doch diesen Kuss müssen wir nach wenigen Sekunden unterbrechen, laut schnappe ich nach Luft und ein paar Stöße später kann ich nicht mehr standhalten. Rau und tief stöhnend erreiche ich den Höhepunkt, aber Bill lässt mich nicht zur Ruhe kommen, steigert noch einmal das Tempo, bis seine Haare durch die Luft geworfen werden, stößt hemmungslos zu und ich bleibe auf meiner Orgasmuswolke schweben.
Ich sterbe. Ist das der Himmel oder die Hölle? Mein ganzer Körper kribbelt wie verrückt, ich sehe nichts mehr, bin erfüllt von Lust und Leidenschaft.
Weit entfernt höre ich Bill leise aufschreien und dann sacke ich erschöpft auf ihm zusammen.
Keuchend ringen wir beide nach Luft, Bills Herz rast unglaublich schnell in seiner Brust. "Mein Gott Shirin..." höre ich ihn nach einer Ewigkeit flüstern, was mich veranlasst, mich neben ihn fallen zu lassen und mich in seine Arme zu schmiegen. Ich will jetzt nur noch schlafen. Nicht mal der Gedanke, dass das hier einfach falsch war, dringt noch bis zu mir durch. Das letzte was ich spüre, ist die warme Decke, die Bill über uns ausbreitet. Dann bin ich weggenickt.

58.
Als ich die Augen aufschlage, dämmert es draußen und ich kann am Anblick des Himmels nicht festmachen, ob es nun früh am Morgen ist oder bereits wieder dunkel wird. Das ist mir im nächsten Moment aber auch herzlich egal, sobald ich registriere, dass ich nicht nur wahnsinnige Kopfschmerzen, sondern auch noch meinen Arm um einen nackten Bauch geschlungen hab. Oh mein Gott. Von einer Sekunde auf die andere ist alles wieder da - der Abend in der Disco, Gustav, Eva, Bill... und dass ich mich benommen hab wie eine Verrückte.
Ruckartig ziehe ich meine Hand zurück, rolle mich stöhnend auf den Rücken und starre die Decke an. Bill hat eine schöne Decke, so schön weiß und rein und unschuldig... ja Shirin, alles das, was du nicht bist, denke ich im Stillen und bin eigentlich noch schockierter darüber, dass mich diese Erkenntnis eben nicht so schockiert wie erwartet. Was mach ich hier eigentlich? Wie konnte ich mich nur derart gehen lassen? Das war doch nicht wirklich ich gestern Abend.
Bill fängt neben mir an zu grummeln und reißt mich damit aus meinen Überlegungen. "Shirin?" kommt es in gequältem Tonfall von der Seite. Da hat wohl noch jemand Kopfschmerzen. "Bill" sage ich tonlos und schaffe es nicht, ihn anzusehen. "Shirin, es tut mir leid" redet Bill weiter und jetzt zieht er doch meinen Blick auf sich. Scheiße. Wie sieht er denn aus? Als hätte er drei Nächte hintereinander nicht geschlafen. "Das muss es nicht Bill. Diesmal ist es ganz allein meine Schuld" erwidere ich, schwankend zwischen Müdigkeit, Schmerzen, Frustration und dem Wissen, wahrscheinlich den größten Fehler meines Lebens gemacht zu haben. "Aber ich..." fängt er wieder an, doch ich falle ihm sofort ins Wort. "Ist schon gut Bill. Ich kann dir keinen Vorwurf machen und das will ich auch gar nicht. Kann ich deine Dusche benutzen?" Mein Bedürfnis nach Flucht ist in diesem Moment einfach größer als alles andere. Bill nickt, schiebt noch ein "zweite Tür links" hinterher und ich erhebe mich schnellstens aus diesem Bett, in dem ich mir so fehl am Platz vorkomme, und schnappe mir im Vorbeigehen meine Klamotten vom Boden.
Verdammte Scheiße. Ich werde noch mal mit ihm darüber reden müssen. Auch wenn es sich jetzt anfühlt, als würde mir Verdrängen am besten helfen, weiß ich doch aus Erfahrung, dass es nicht so ist und es mir später noch schlechter gehen wird. Als würde es mir nicht schon schlecht genug gehen. Mein Kopf muss jeden Moment platzen wie eine überreife Melone und auch das warme Wasser hilft nur minimal. Ich hab aber auch noch nirgendwo gelesen, dass warmes wasser gegen Dummheit hilft. Und über mein Gewissen mag ich gar nicht erst nachdenken.
Angezogen stehe ich schließlich wieder in Bills Zimmer und bin ihm dankbar, dass er sich mittlerweile ebenfalls in seine Klamotten geworfen hat. Ich kann ihm ansehen, dass er etwas sagen will, aber ich bin jetzt nicht fähig zu denken und erst recht will ich nicht über die letzte Nacht reden. "Bringst du mich noch runter?" frage ich endlich, weil ich diese furchtbare Stille nicht länger ertragen kann und nicht, weil ich den Weg nicht auch alleine finden würde. Bill sieht mich einen Sekundenbruchteil völlig erstaunt an, entweder hat er meine Frage oder den Sinn eben dieser nicht verstanden. "Wir haben den ganzen Tag verschlafen" erwidert er dann zusammenhanglos und deutet aus dem Fenster. Okay. Also ist es Abend. Was spielt das für eine Rolle? "Und?" frage ich verständnislos. "Shirin. So viel haben wir nicht getrunken gestern..." fängt er wieder an und ich hab nicht die leiseste Ahnung, was er damit sagen will. "Hör mal, ich will jetzt nur noch nach Hause ja?" Ich klinge gereizter als beabsichtigt. "Okay. Ich fahr dich schnell" lenkt Bill ein. "Vielleicht sollte ich laufen. Frische Luft und so" weiche ich aus und flüchte aus dem Zimmer, die Treppe runter. Ich höre, wie er mit langsamen Schritten hinter mir herkommt.
"Ich will mich nicht mit dir streiten, das macht mein Kopf nicht mit" nuschelt er, als wir uns vor der Haustür wieder gegenüber stehen. "Das geht mir ähnlich" gebe ich zu und hab schon die Türklinke in der Hand, als plötzlich Gustav aus der Küche auftaucht. "Platzt euch auch gleich der Schädel?" begrüßt er uns und ich kann nicht verbergen, dass ich leicht erstaunt bin, dass er hier steht. "Hast du hier geschlafen?" frage ich neugierig und er nickt. "Und Eva?" löchert nun Bill an meiner Stelle weiter. "Die war schon weg als ich aufgewacht bin" erklärt Gustav und greift sich theatralisch an den Kopf. Also doch. Ich habs doch gewusst, dass die beiden nicht die Finger voneinander lassen konnten. "Ich hab aber nichts getrunken, was diese Kopfschmerzen rechtfertigen würde" nölt Gustav weiter und entlockt mir damit das erste leichte Lächeln an diesem Tag. "Irgendwie kommt mir das alles merkwürdig vor" philosophiert Bill wieder und er mag Recht haben, aber ich hab jetzt keine Nerven für irgendwelche wilden Verschwörungstheorien. Ich will mich gerade endgültig verabschieden, um mir zu Hause die Decke über den schmerzenden Schädel zu ziehen, als plötzlich irgendwo ein Handy klingelt.
Gustav fummelt das bimmelnde Etwas aus den Tiefen seiner Hosentasche zutage und irgendetwas veranlasst mich dazu, hier stehen zu bleiben wie bestellt und nicht abgeholt und ihm zuzuhören. Bill tut es mir gleich. "Ja?" nuschelt Gustav genervt in den Hörer und dann versteinert sich seine Miene ziemlich schnell. "Was? Nein. Warum? Ja, scheiße, Moment" quakt er weiter, für mich in absoluten Rätseln und reicht das Telefon schließlich an Bill weiter. "Wer ist das denn?" fragt Bill irritiert. "Eva" meint Gustav und reibt sich mit der freien Hand über die Stirn. Mir wird gerade heiß und kalt zugleich und ich kann nicht mal sagen warum. Es kann einfach nur nichts Gutes bedeuten, so viel sagt mir mein Instinkt. Verwirrt schaue ich zu, wie Bill sich den Hörer greift und "Eva" hineinschnaubt. Gefällt ihm das mit Gustav und Eva auch nicht? Wir haben hier wirklich noch Klärungsbedarf wie mir scheint. Nicht nur wegen Gustav und Eva. Auf einmal wird Bill erst rot und dann blass, lenkt mich damit wieder ab. "Du Miststück!" schreit er schließlich aufgebracht ins Telefon und ich zucke vor Schreck zusammen. Miststück? Meine Rede. Nur hört ja keiner auf mich. Wenn mich die Situation nicht so völlig überfordern und sich dieses fiese kleine Gefühl von böser Ahnung in mir breit machen würde, hätte ich wahrscheinlich einen Lachanfall. Das ist einfach grotesk hier, das alles.
Bill pfeffert das Handy mit so viel Wucht auf die Kommode im Flur, dass es anschließend laut scheppernd zu Boden fällt. "Was hat sie gesagt?" höre ich Gustav wie durch Watte fragen. Ich sollte schleunigst verschwinden. Ich will gar nicht wissen, was sie gemacht hat, auch wenn das vielleicht mein Verhalten gestern Abend erklären könnte. "Sie ist auf dem Weg zu Tom" schnauft Bill mühsam beherrscht. "Sie ist WAS?" Gut. Ich sollte mich zusammenreißen, ich klinge schon wieder leicht hysterisch. "Sie hat mir gerade mit Genuss mitgeteilt, dass wir ja so schön leicht zu manipulieren seien und uns zu unserer Naivität beglückwünscht" ruft Bill und ich höre Gustav geräuschvoll ausatmen. "Und was soll das heißen?" frage ich einen Hauch ruhiger. "Sie hat uns allen was in den Drink gemixt Shirin. Und sie wusste was passieren würde" kommt es in ohrenbetäubender Lautstärke von Bill. Oh mein Gott. So langsam beginne ich zu begreifen. "Fahr mich zu Tom" befehle ich emotionslos. "Shirin, sie werden Eva doch nicht mitten in der Therapie da reinspazieren lassen... woher weiß Eva überhaupt wo Tom ist?" Der letzte Teil des Satzes war an Gustav gerichtet, der jetzt gesenkten Blickes ein "Von mir" flüstert. "Na herzlichen Glückwunsch" flucht Bill, aber mehr zu sich selbst wie mir scheint. Gustav zuckt trotzdem zusammen. "Du kannst nichts dafür Gustav, du hast dich einwickeln lassen. Mach dir keine Vorwürfe" versuche ich ihn zu beruhigen, obwohl sich in meinem Kopf die Gedanken überschlagen und das Adrenalin in heißen Schüben durch meinen Körper rauscht. "Fahr mich zu Tom Bill. Sofort!" Ich glaube, meine ganzen Ängste und Schuldgefühle liegen in meiner Stimme und es scheint anzukommen. "Okay. Wir werden aber die ganze Nacht brauchen und Eva hat einen Tag Vorsprung" erklärt er mir als wäre ich ein kleines Mädchen. "Das ist mir scheißegal! Ich muss jetzt zu Tom" beharre ich stur. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken. Völlig aufgelöst sehe ich zu, wie Bill sich seine Jacke greift, einen bedeutungsvollen Blick mit Gustav tauscht und mich dann am Arm hinter sich her zu seinem Auto zieht.
59.
„Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?“ frage ich jetzt bestimmt zum zehnten Mal. Und zum zehnten Mal erhalte ich dieselbe Antwort. „Shirin, ich fahre schon mehr als zu schnell. Willst du, dass uns die Bullen anhalten?“ Bill wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor er sich wieder auf die Autobahn konzentriert. Ich stöhne frustriert. Die halbe Nacht sind wir nun schon unterwegs und von Minute zu Minute bin ich mehr zu einem absoluten Nervenbündel geworden. „Ich glaube wie gesagt immer noch nicht, dass sie Eva überhaupt zu ihm lassen“ wiederholt Bill jetzt ebenso zum zehnten Mal. „Das ist mir aber egal. Ich kann nicht tatenlos zu Hause sitzen“ sage ich genervt. Das könnte ich wirklich nicht. Zu Hause würde ich wahnsinnig werden. Für ein paar Minuten tritt wieder Stille ein, in der wir beide unseren eigenen Gedanken nachhängen.
Aber meine wandern von Tom doch recht schnell wieder zu Bill und den gestrigen Abend. Ob er es bereut? Immerhin hab ich mich dieses Mal regelrecht auf ihn gestürzt und nicht umgekehrt. Ich bin hier diejenige, die sich Vorwürfe machen muss. Und mit Sicherheit hab ich Bill verletzt. Aber Tom noch viel mehr. Und auch wenn Eva uns was in unsere Gläser getan hat, letztendlich hätte sie damit nichts ausrichten können, wenn Bill und ich nicht irgendwie aufeinander abfahren würden. Und diese Erkenntnis ist eigentlich noch viel schlimmer. Trotzdem beginne ich diese Frau so langsam aber sicher zu hassen. Sie hat das gewusst. Und sie hat ihr Wissen gnadenlos gegen uns verwendet. Aber warum?
„Warum?“ unterbreche ich mit unnatürlich hoher Stimme das Schweigen und sehe aus dem Augenwinkel, wie Bill kurz zusammenzuckt. „Ich weiß es nicht. Mittlerweile hab ich das Gefühl, sie nie richtig gekannt zu haben“ erwidert Bill und scheint automatisch zu wissen, wovon ich geredet hab. „Mh“ ist alles, was ich noch dazu hervor bringe, bevor ich gequält die Augen schließe. Was soll ich Tom denn sagen? Ob er mir glaubt? Aber selbst wenn, es ist passiert ob nun mit oder ohne Drogen. Es wird ihn unglaublich verletzen. Und das alles ausgerechnet jetzt, wo ich sowieso nicht weiß, wie es ihm überhaupt geht. Es ist zum verrückt werden.
„Shirin, ich weiß nicht mal, ob du mit ihm sprechen darfst. Das ist dir doch klar oder?“ Bill reißt mich mit seiner Frage aus meinen Gedanken. „Ich werde da erst wieder weggehen, wenn ich mit ihm geredet hab“ beharre ich. Bill sagt nichts mehr dazu.
Irgendwann drohe ich einzuschlafen. Diese monotone Autobahn, die Dunkelheit draußen, und es ist so schrecklich still, ich hab das Gefühl, gleich schreien zu müssen. Wortlos drehe ich das Radio an. „Bist du müde?“ fragt Bill. „Nicht wirklich, es ist nur... ach egal“ antworte ich ausweichend.
Ohne eine Erwiderung setzt Bill auf einmal den Blinker und biegt in den nächsten Rasthof ein. „Was soll das?“ will ich aufgebracht wissen. „Wir machen jetzt ne Pause“ bekomme ich zu hören und kann ein entnervtes Schnauben nicht unterdrücken. „Ich brauche keine Pause Bill!“ widerspreche ich energisch. „Doch die brauchst du. Und ich auch. Außerdem musst du dringend was essen!“ Sein Tonfall ist nicht böse, aber bestimmend und nach kurzem Überlegen sehe ich ein, dass er Recht hat. Immerhin hab ich seit über 24 Stunden nichts gegessen. Aber diese Tatsache hab ich in meiner ganzen Aufregung wohl gekonnt verdrängt. Und ich hab auch immer noch keinen Hunger.
Schweigend steigen wir aus und finden in dem fast leeren Rasthof auch sofort einen freien Tisch. Mit wenigen einsilbigen Worten sind wir uns einig, was wir essen wollen und schon sitzen wir uns wieder still gegenüber. Bill scheint in Gedanken versunken zu sein und ich weiß ebenfalls nichts, was ich von mir geben könnte.
Ich bin einfach fertig mit den Nerven. Lustlos stochere ich in meinem Essen herum. Bill wirkt auch nicht wirklich hungrig. Aber ich muss ihm auch mal eine Pause gönnen. Sonst landen wir noch im Straßengraben. „Magst du?“ fragt er nach Ewigkeiten und hält mir eine Zigarettenschachtel unter die Nase. Nickend greife ich zu und schiebe gleichzeitig meinen fast unberührten Teller beiseite. Der Rauch beruhigt mich tatsächlich ein bisschen. „Bill?“ sage ich plötzlich ohne nachzudenken. Er hebt den Kopf und sieht mir direkt in die Augen. „Es tut mir leid, das... das mit gestern. Und ich bin dir dankbar, dass du mich trotz allem zu Tom fährst“ rede ich weiter und sehe, wie er bei dem Namen seines Bruders leicht zusammenzuckt. „Ich bin zwar immer noch nicht überzeugt, dass das eine gute Idee ist, dahin zu fahren, aber ich hätte es ihm sowieso gesagt“ meint Bill. „Du hättest was?“ japse ich erschrocken. „Shirin. Er hat es nicht verdient, dass wir ihn so hintergehen. Schon gar nicht jetzt!“ Bills Worte dringen nur langsam bis zu mir durch.
"Aber..." werfe ich ein, doch Bill schüttelt nur den Kopf und bringt mich so dazu, den Mund zu halten. Stumm beobachte ich, wie er seine Zigarette ausdrückt und dann aufsteht. "Lass uns weiterfahren" nuschelt er leise.
Den Rest der Fahrt verbringe ich grübelnd, den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Ich weiß, dass ich nochmal mit Bill reden muss, unbedingt. Aber jetzt im Moment erscheint es so falsch, und wenn er das anders sehen würde, hätte er schon längst was gesagt. Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.
Als wir den Bodensee erreichen, geht gerade die Sonne auf.
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