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RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 02.12.2008 12:23von Lowy • Besucher | 28.932 Beiträge
~ 19. Kapitel ... Teil 1 ~
Mit dem Gefühl, keine Luft mehr bekommen zu können, tastete Tom mit einer Hand suchend an der Wand entlang. Als er den Schalter betätigte, den er fand, flackerten mehrere Leuchtstoffröhren an der Decke auf… kein Fenster, keine weitere Tür… was sein Gefühl bereits wusste, erfassten jetzt auch seine Augen. Instinktiv wollte er gegen die Tür trommeln und laut schreien, jemand solle ihn rauslassen, doch ein alter Film, der sofort in ihm angesprungen war, wusste, dass das keinen Zweck hatte. Gefangen in einem Zustand aus Fassungslosigkeit, innerer Aufruhr, Resignation und Angst suchten seine Augen nach dem Halt, den er bei sich hatte und der sich immer noch an seine Hand klammerte. „Scheiße… es tut mir so leid, Andi,“ flüsterte er, wissend, dass ab jetzt nur noch Grausameres passieren konnte und dass die Schuld dafür ganz allein bei ihm selbst lag.
Wie Gift kroch die Angst durch seine Zellen und kam mit so einer Macht, dass sie sein schlechtes Gewissen und seine Vorwürfe an sich selbst überlagerte, bis sie ihn komplett beherrschte. Bilder von vergangenem, erlebten Leid bestimmten seine stärker werdende Panik und das unbändige Gefühl, hier raus zu müssen. Er konnte es nicht ertragen, eingesperrt zu sein. Plötzlich war er wieder Kind… schutzlos, ausgeliefert, gebrochen. Er fühlte die Arme seines Freundes, die sich schützend um ihn legten und im selben Moment konnte er auch ganz deutlich fühlen, dass Bill bei ihm war. „Es ist nicht wie früher.“ Ein Gedanke, der durch die Angst hindurch brach.
„Nein… es ist nicht wie früher,“ bestätigte Andi leise. Er hätte auch gern Zeit für ein bisschen Panik gehabt und die Angst, die er hatte, lauerte auch hartnäckig darauf, ihn zu fassen zu bekommen, aber er hatte sofort eine Ahnung davon, wie unvergleichlich schlimmer die Situation gerade für Tom sein musste und der große Bruder in ihm schob die eigene Angst nach hinten und beschützte seinen kleinen Bruder, so gut es eben gerade ging, wenn man selbst mit der Ungewissheit kämpfte. Während er Tom festhielt, sah er sich in dem Raum um und überlegte gleichzeitig, ob sie nicht doch irgendetwas tun konnten. Die Wände waren voll gestellt mit grauen, schweren Aktenschränken, die bis unter die Decke reichten. In der Mitte ein Tisch und zwei Stühle… mehr nicht. Ein einzelner Aktenordner lag auf dem Tisch und zog so die Aufmerksamkeit des Weißhaarigen auf sich. Er lauschte, ob auf dem Gang irgendetwas zu hören war, doch dort gab es nur Stille.
Bill machte es wahnsinnig, dass er nicht wusste, was passiert war, doch er fühlte ganz deutlich Toms Angst und die war so stark, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Seine Sorgen verhielten sich wie Krebsgeschwüre, die ihn innerlich zerfraßen. Er wühlte in seiner Tasche nach seinen Zigaretten und ging damit auf den Balkon, die Tür zum Zimmer geöffnet, damit er das Handy hören konnte, falls es ein Geräusch von sich gab. Die erhoffte kalte Luft gab es nicht. Diese Nacht in L.A. war scheiße warm. Er zog die vorletzte Zigarette aus der Packung und zündete sie sich an. Ununterbrochen kreiste die Frage in ihm, was er jetzt tun sollte… und je länger er keine Antwort darauf fand, desto ohnmächtiger fühlte er sich. Er hatte Marcello bereits die Rücktour auf den frühesten Flug umbuchen lassen, doch der ging erst in ein paar Stunden und dann dauerte es noch eine Ewigkeit, bis sie in Deutschland landen würden. Das Einzige, das er tun konnte, war, Tom fühlen zu lassen, dass er nicht allein war… und das tat er, während seine Angst um seinen Zwilling und Andi immer schlimmer an ihm zerrte.
Tom zog sein Handy aus seiner Hosentasche… wie vermutet kein Empfang. Irgendetwas musste er tun, um nicht komplett in Panik zu verfallen. Er löste sich von Andi und untersuchte die Tür. Vielleicht hatte sie ja doch irgendeine Schwachstelle.
„Das hat doch keinen Sinn, Tom,“ versuchte der Weißhaarige seinen Freund davon abzubringen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die nur noch deutlicher machten, wie gefangen sie waren, während er selbst seinem Drang nachgab die Schritte bis zu dem Tisch zu gehen und den Deckel des Ordners zu heben, der darauf lag. „Das hier ist deine Akte,“ erkannte er sie sofort wieder, während er überprüfend durch die nächsten Seiten blätterte. „Wenn deine Akte hier ist… was ist dann in den Schränken hier?“ ließ er den Ordnerdeckel wieder fallen und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Schrank direkt neben sich.
Andis Worte machten Tom jetzt auch neugierig. Als er sah, wie sein Freund eine der schweren Schubladen aufzog, ohne dass sie sich widersetzte, probierte er es auch an dem Schrank, der direkt neben der Tür war. In ockerfarbenen Papiertaschen hingen dort aufgereiht eine Vielzahl an Akten. Auf den ersten Blick sah alles gleich aus. Es gab Unterteilungen auf weißen, computerbedruckten Schildern, doch darauf standen nur Zahlen, mit denen Tom nichts anfangen konnte. Wahllos zog er einen der Ordner heraus.
Andi fand in seinem Schrank keine Akten, dafür einen Berg an Filmbändern, säuberlich mit Datum und irgendeiner Kennnummer oder so beschriftet und nach Jahren sortiert. Jede weitere Schublade, die er aufzog, zeigte das gleiche Bild. Ein Ton aus Toms Kehle ließ ihn erschrocken herumfahren. Das Gesicht seines Freundes spiegelte genau den Ausdruck, den dieser Laut eben hatte… Entsetzen und Qual. Andi sah, wie sein Körper rückwärts taumelte, während sein Blick von dem Dokument, das er in seinen Händen hielt, scheinbar völlig gefangen genommen wurde. „Tom, was…?“ fing er an, doch da rutschte dem Blonden bereits die Akte aus den Händen und fiel klatschend auf den Steinboden. Ein paar Blätter verteilten sich einzeln und segelten lautlos hinterher.
„Oh Gott… wir kommen hier nicht lebend raus,“ war er sich jetzt sicher, nachdem, was er gerade gefunden hatte. Eigentlich wollte alles in ihm noch mehr weglaufen als sowieso schon, doch stattdessen führten seine Schritte ihn zurück an die Schublade. Schnell zog er eine andere Akte heraus, warf einen ebenso schnellen Blick hinein und tat das Selbe mit einer weiteren. Das, was er sah, zerriss ihm das Herz und überforderte ihn komplett. Noch vor einer Stunde war er wild entschlossen gewesen nach etwas zu suchen, das die Wahrheit zeigte. Jetzt war er auf genau diese Wahrheit gestoßen und die paar Zipfel, die er gerade gesehen hatte, gingen bereits über das hinaus, was er ertragen konnte.
„Natürlich kommen wir hier lebend raus,“ widersprach Andi etwas zeitverzögert. Er checkte nicht, was gerade passierte, aber er wusste, dass er Toms Einstellung in diesem Moment nicht duldete. Er brauchte Hoffnung auf einen guten Ausgang. Die Erklärung für Toms plötzliches Verhalten lag auf dem Boden verstreut und Andi bückte sich und fegte mit beiden Händen die Zettel wieder zusammen, bevor er sie hochnahm. Er drehte das Blatt, das jetzt obenauf lag, richtig herum, doch er erhaschte nur für einen Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf das Papier. „Lass das,“ zischte Tom ihn scharf an und entriss ihm die komplette Akte, pfefferte sie mit Wucht zurück in die Schublade, die fast im selben Augenblick in den Schrank zurück krachte. Andi zuckte bei dem Lärm zusammen, den Toms Gewaltausbruch machte und er war viel zu geschockt davon, wie heftig sein Freund jetzt mit seinen Füßen weiter auf den Schrank eintrat, während er immer wieder „Ich hasse euch“ schrie und dabei aussah, als wäre ein Dämon in ihn gekrochen. Das war zu viel für ihn. Seine eigenen Nerven hingen gerade an einem viel zu schwachen Band, das in diesem Moment seinen Dienst versagte. „Hör auf damit,“ schrie er gegen Toms Geschreie an und riss ihn unsanft nach hinten.
Tom fühlte nur einen Ruck und wie er im nächsten Augenblick mit festen Handgriffen auf einen Stuhl gesetzt wurde. Andis Gesicht tauchte vor seinem auf, und es sah gerade nicht wirklich freundlich aus.
„Mir ist klar, dass das hier gerade die Hölle für dich ist, Tom, aber verdammt noch mal… ich hab auch Angst und wenn du hier so austickst, dann bekomm ich noch mehr Angst.“ Andi war aufgewühlt und nutzte den Moment, in dem der Dreadlockige jetzt ruhig war, um kurz zu horchen, ob irgendetwas zu hören war… nichts… nur Toms schnaufender Atem direkt vor ihm. Prüfend sah er ihn an und hatte das Gefühl, dass sein Freund sich langsam wieder in den Griff bekam. Er kniete sich vor ihn und legte seine Hände auf seine zitternden Knie. „Tom… was hast du eben gefunden?“ Unter normalen Umständen hätte Andi ihn das jetzt nicht gleich gefragt, aber das hier waren keine normalen Umstände. Er hätte ja auch selbst nachgesehen, aber die Art, wie Tom ihm das Dokument aus der Hand gerissen hatte, ließ ihn nun lieber erstmal fragen. Er musste jetzt einfach wissen, was hier gerade mit ihm passierte.
Der Blonde war komplett damit beschäftigt, nicht erneut einfach durchzudrehen. Er hatte so eine scheiß Angst, dass er lieber weiter sinnlos gegen Schränke treten und dabei rumschreien wollte, als diese Ohnmacht zu fühlen, die ihn leider nicht bewusstlos machte… wie sehr hätte er jetzt eine Bewusstlosigkeit gebrauchen können. In seinem Kopf kreisten unaufhaltsam die Bilder des eben Gesehenen und die Gefühle dazu taten nicht nur in der Seele weh… es zerriss sein Herz unaufhörlich, es sprengte seinen Kopf und vergiftete seinen Bauch, überall unsäglicher Schmerz. Seine Hände zitterten, als er seine Zigarettenpackung hervorzog und eine davon entzündete. Er gab Andi die einzige Antwort, zu der er fähig war. „Beweise… da sind Beweise… wenn wir hier drin sind, dann wissen sie, dass wir sie gesehen haben… sie werden uns nicht gehen lassen, Andi.“ Die Angst, die ihn so übermächtig zu packen hatte, war deutlich in seiner Stimme zu hören.
„Was für Beweise?“ Andi versuchte immer noch sachlich und gefasst zu bleiben, aber in Ruhe lassen konnte er Tom jetzt nicht, doch der antwortete nicht mehr…
Er saß nur noch da, sein Oberkörper wippte unruhig vor und zurück, der ganze Körper stand unter Spannung. Er zog so stark an der Zigarette, dass sie nach kürzester Zeit aufgeraucht war. Er ließ sie auf den Boden fallen und ein Automatismus trat sie mit einem Fuß aus.
Andi war sich nicht mal sicher, ob sein Gegenüber ihn überhaupt gehört hatte, also wiederholte er seine Frage und bekam daraufhin einen kurzen Blick von Tom, doch sein Mund blieb verschlossen. Okay… wenn er nicht reden wollte, dann würde er eben selber nachsehen. Er erhob sich, doch gerade, als er nach der Schublade greifen wollte, sprang der Blonde mit einem lauten „Halt“ dazwischen und breitete seine Arme vor dem Schrank aus. Toms Augen visierten ihn an wie eine Löwin, die ihr Junges beschützen wollte. Die Szene wirkte irgendwie grotesk. „Ich bin nicht dein Feind, Tom.“ So langsam machte es ihn wirklich unruhig, wie sein Freund sich verhielt und für Spielchen, die er nicht verstehen konnte, waren seine eigenen Nerven inzwischen viel zu weit runter. „Erklär mir was los ist oder lass mich nachsehen. Wenn wir hier die Möglichkeit haben, etwas herauszufinden, dann sollten wir das auch machen. Das ist vielleicht unsere einzige Chance und wenn es für dich zu schwer ist, dann lass es mich zumindest tun,“ bat er, doch seine Stimme klang dabei sehr entschlossen.
„Aber da sind…,“ fing Tom an, doch sofort erstarb der Satz wieder. Es gab keine Worte für das, was in dieser Schublade zu finden war und selbst, wenn er welche gehabt hätte, so hätte er sie nicht vor Andi sagen können. Er wollte ja noch nicht mal daran denken und der Gedanke, dass Andi es sehen könnte…. „Es ist zu demütigend,“ brachte er gequält das Gefühl heraus, das sich wie ein schwerer Brocken unter seinem Herzen befand und er schaffte es nicht mehr, seinem Freund in die Augen zu sehen. Auch wenn er keine Schuld an den früheren Ereignissen hatte, so empfand er dennoch eine furchtbar tiefe Scham für das, was damals passiert war. So langsam legte sich sein erster Schock wieder etwas, doch das machte die Gesamtsituation leider auch nicht wesentlich besser.
Toms Reaktion nahm dem Weißhaarigen völlig den Wind aus den Segeln. Was sollte er dazu sagen? Ihm fehlte gerade jegliche Idee, wie er sich jetzt verhalten sollte oder was er denken sollte. „Und nun?“ kam es matt aus ihm heraus, als sich irgendwie gar nichts mehr rührte.
„Jetzt setzen wir uns hier hin und warten, bis sie uns holen,“ fand Tom dieses Mal eine schnelle Antwort, blieb direkt dort, wo er gerade war und rutschte mit dem Rücken am Schrank herab, bis er auf dem kalten Steinboden aufkam. Er legte seine Arme auf seine Knie, seine Stirn auf seine Arme und schloss die Augen. Er versuchte sich damit abzufinden, dass sie hier gefangen waren, dass er Bill nie wieder sehen würde, dass noch etwas Schlimmeres passieren konnte, als dass sie getötet werden würden. Resignation war ein Zustand, der leichter auszuhalten war als Angst.
Ein bisschen Resignation war auch in Andi, als er sich auf den Stuhl sacken ließ, auf dem sein Freund vorhin noch gesessen hatte, doch die hatte weniger mit seiner Angst zu tun. Sie begründete sich eher darin, dass er wusste, dass Tom sich bezüglich des Schrankinhalts in seiner Haltung jetzt nicht ändern würde und dass jeder Versuch, ihn zu einer anderen Ansicht zu bewegen, zwecklos war, und genau das nagte an ihm. Sein halbes Leben war er nur auf der Suche gewesen. Erst die jahrelange Suche nach Bill, die, trotz immer ausgeprägter werdenden detektivischen Fähigkeiten, so deprimierend erfolglos war und dann die Suche nach der Wahrheit über seine Wahlbrüder in den letzten Wochen, die nicht erfolgreicher gestartet war. Der Gedanke, dass jetzt Antworten in diesen grauen, eigentlich unscheinbaren Aktenschränken direkt vor ihm liegen könnten, machten ihn irre, genau wie seine Neugier. Was zum Teufel hatte Tom gesehen? Außerdem hatte er das Gefühl, dass ihnen die Zeit weglief, die gleichzeitig nicht zu vergehen schien. Er sah seinen Freund an. Man hätte meinen können, er würde schlafen… wenn da nicht zwischendurch immer wieder mal dieses geräuschvolle Ausatmen gewesen wäre, dessen Intensität zeigte, wie sehr er in seinem Inneren mit sich zu kämpfen hatte.
Eine halbe Ewigkeit saßen sie wortlos da, jeder mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, doch für beide war die trügerische Stille in diesem Raum wie eine tickende Zeitbombe.
„Ich hab Durst,“ sagte Tom deprimiert, als ihm sein ausgetrockneter Hals einen neuen schlimmen Gedanken einpflanzte. Was, wenn niemand kommen würde? Wenn sie einfach so lange abwarten würden, bis Andi und er verdurstet und verhungert wären? Oh Gott… Tod durch Verdursten war bestimmt der Horror. Er hob seinen Kopf an, um nach Andi zu sehen. Er sah schlecht aus. Der Ausdruck in seinen Augen hatte etwas Verzweifeltes und das kalte Licht der Leuchtstoffröhren ließen seine Haut noch blasser wirken, als sie sowieso schon war. Der Anblick kochte das schlechte Gewissen des Blonden wieder auf. Er war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er erst jetzt auch mal an die Gefühle seines Freundes dachte. Er erhob sich, zog sich den zweiten Stuhl heran und setzte sich so vor Andi, dass sich ihre Knie leicht berührten. Eine Hand legte er auf die Hände des Weißhaarigen, dessen Finger unruhig in seinem Schoß aneinander rieben. „Hätte ich nur auf Bill gehört. Es tut mir so wahnsinnig leid, dass du hier jetzt mit drin hängst, Andi. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für dich tun.“ Er fand nur die Worte, die ihm sein Gewissen vorgab, aber er wusste auch, dass keine Entschuldigung die Situation auch nur im Entferntesten wieder besser machen konnte. Warum hatte er nur nicht darauf bestanden, dieses Wagnis allein einzugehen, wenn er schon so einen Schwachsinn machen musste?
„Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hast mich nicht überreden müssen, falls dir das nicht aufgefallen ist und mit drin hängen tu ich schon, seitdem ich Bill kennen gelernt habe, aber du könntest wirklich etwas für mich tun.“ Andi war schon etwas erleichtert, dass Tom aus seiner isolierenden Haltung herausgekommen war und wieder sprach, aber trotzdem… „Könntest du mich bitte mal in den Arm nehmen? Ich hab nämlich Angst,“ bat er und im nächsten Augenblick war Tom schon näher an ihn herangerutscht und er fühlte wohltuend dessen Arme, die sich schützend um ihn legten. „Natürlich,“ nuschelte der Blonde dabei. Andi schlang seine Arme ebenso um seinen Freund, lehnte seinen Kopf gegen seinen und seufzte. „Wann checkst du endlich mal, dass ihr meine Familie seid? Ich bin echt froh, dass ich gerade jetzt bei dir bin, auch wenn ich ziemliche Angst habe, aber wo sollte ich denn sonst sein? Die absolute Hölle wäre für mich, jetzt irgendwo da draußen zu sein und nicht zu wissen, wo du bist und was mit dir passiert ist. Ich bin freiwillig hier bei dir, selbst wenn das bedeutet, dass…“ Er brach mitten im Satz ab. Auch wenn Tom ihn mit seinem Pessimismus angesteckt hatte, so wollte er doch nichts aussprechen, was noch gar nicht sicher war, denn noch lebten sie… und so lange sie lebten, gab es Hoffnung… irgendwie.
Andi brauchte auch gar nicht weiter sprechen. Tom wusste auch so, was er sagen wollte und seine Worte trafen ihn tief in seinem ängstlichen Herzen. Er wusste auch schon vorher, dass sein Freund der Beste war, aber erst in diesem Moment begriff er wirklich, wie sehr und wie selbstlos Andi ihn liebte und das wirkte sich wie Balsam auf ihn aus. Es gab ihm so ein schönes Gefühl von Geborgenheit, die sich schützend über seine Angst legte. „Ehrlich gesagt bin ich auch ganz froh, dass ich jetzt nicht allein bin. Es ist irgendwie komisch ungewohnt nicht allein in so einer Scheiße zu stecken… aber du tust mir gerade wahnsinnig gut, Bruder,“ sagte er mit dem zärtlichen Gefühl, das er gerade hatte. Im Gegensatz zu Bill hatte er Andi noch nie so genannt, aber wie hatte er es eben schon richtig gesagt… sie waren eine Familie... und das spürte er gerade deutlicher als je zuvor. „Ich bin so unendlich dankbar, dass es dich gibt. Weißt du das eigentlich?“ Er drückte Andi noch etwas fester an sich.
Geborgenheit war auch das, was der Weißhaarige in Toms Armen neben seiner Angst fühlte. Körperkontakt, der über ein Schulterklopfen oder eine kurze Umarmung hinausging, war immer schwierig mit Tom gewesen, umso dankbarer war er jetzt über den innigen Halt, den er spürte, und dass der Blonde ihn Bruder genannt hatte, konnte er als Glücksmoment in diesem grauen Keller für sich abspeichern. Das war ein ganz besonderes Geschenk für ihn… und dennoch reichte es ihm nicht aus. Immer noch war dieses Ticken in seinem Kopf, das ihm unermüdlich die mögliche Chance auf Antworten vor die Nase hielt. „Tom?“ fragte er, als er sich durch dessen Halt einigermaßen aufgetankt fühlte. Die Umarmung löste er nicht.
„Ja?“
„Du weißt, dass ich dir nichts Böses will, oder?“
Tom löste sich ein Stück von Andi, um ihn mit zweifelndem Blick ansehen zu können. Diese Frage ließ ihn Böses ahnen. „Was willst du?“ fragte er skeptisch, die Antwort bereits kennend, doch sein Freund sprach sie auch tatsächlich aus.
„Ich will dich nicht demütigen. Du weißt, dass das das Letzte ist, was ich will, aber ehrlich gesagt macht es mich gerade halb wahnsinnig, dass ich nicht weiß, was dich so geschockt hat, als du in die Unterlagen gesehen hast… aber es muss ja etwas mit dir zu tun haben… und wenn da etwas über dich drin ist, dann finden sich da vielleicht auch wirkliche Antworten. Du wolltest doch in den letzten Wochen auch Antworten… und Bill auch… warum sind wir denn hier gelandet? Das muss doch irgendeinen Sinn haben. Es fällt mir so wahnsinnig schwer, nur hier rum zu sitzen und auf das zu warten, was kommt. Bitte gib mir dein Okay, dass ich nach Antworten suchen darf. Ich verspreche dir auch, dass ich dich nicht darauf ansprechen werde, wenn ich irgendetwas finde… nicht, bevor du es nicht willst.“ Er redete ziemlich schnell, damit Tom nicht die Möglichkeit bekam, ihn zu unterbrechen. „Tom… deine Angst wird nie wirklich verschwinden können, wenn du nicht ein Mal hinschauen willst… und wenn du es nicht willst, dann ist es okay für mich… du hast dein eigenes Tempo… aber bitte, bitte lass mich nach Antworten suchen. Sie könnten euch irgendwann vielleicht helfen und ich lass dich damit nicht in Ruhe, weil ich nicht weiß, wie viel Zeit noch bleibt. Was hast du zu verlieren, wenn ich es tu? Ich bin doch mit meinem ganzen Herzen auf deiner Seite.“
„Was ich zu verlieren habe?“ wiederholte Tom die Frage und hob seine Hand, die Andi einen kleinen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger anzeigte. „Das bisschen Würde, das ich mühsam versuche zusammenzuhalten… und Bills Würde. Wenn ich nicht Angst davor hätte, hier an Rauchvergiftung oder Sauerstoffnot zu krepieren, dann hätte ich bereits den elenden Inhalt dieser elenden Schränke verbrannt und würde versuchen zu vergessen, dass das je existiert hat.“ Er rieb sich die Stelle zwischen seinen Augen, weil sich dort gerade ein unschönes Pieksen einnistete.
Andi wusste nicht recht, wie er Toms Worte verstehen sollte. „Glaubst du wirklich, ich würde dir deine Würde nehmen, Tom?“ In seiner Stimme schwang Fassungslosigkeit mit.
„Nein, so meinte ich das doch gar nicht… das ist… ich, ich äh… ach Scheiße. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Woher Worte nehmen, wenn keine da waren?
„Okay… dann sag mir eins, Tom. Würde Bill mir auch verbieten, in die Schränke zu gucken?“ Der Weißhaarige konnte einfach nicht von seinem drängenden Gefühl runterkommen… und Toms Gestammel machte ihn irgendwie nur noch neugieriger.
Der Blonde dachte ernsthaft über die Frage nach. Bill war mutiger als er selbst, fand er… und er hatte ein tieferes Vertrauen zu Andi, aber er wusste, dass auch Bill Andi nichts von dem erzählt hatte, worauf er so schmerzhaft gestoßen war. Dass es überhaupt Unterlagen darüber gab, ging ihm nicht in den Kopf… und dann noch in dieser demütigenden Form. Ein Schauder lief ihm wie Eiswasser über den Rücken. Schnell lenkte er seine Gedanken wieder auf die Frage, was Bill wohl gerade an seiner Stelle gemacht hätte. Wenn er ehrlich war… „Ich glaube, er würde dich nicht davon abhalten,“ war er ehrlich. „Aber er würde dich warnen… davor, dass du etwas sehen wirst, wovon du noch nichts wusstest und wahrscheinlich hätte er ein paar Worte dazu, die ich nicht habe,“ sagte er leise.
„Und was ist mit dir jetzt? Bist du immer noch so sehr dagegen?“ hoffte Andi gerade auf eine Änderung von Toms Haltung.
„Ja… ich bin immer noch dagegen. Ich kann keinen Sinn darin erkennen und ich glaube auch nicht, dass es irgendjemanden von uns weiterbringt. Es ist einfach nur…,“ wieder fehlte ein Wort, das ihm einfach nicht kommen wollte. Innerlich fiel er wieder in ein resignierendes Gefühl, sonst hätte er den nächsten, schweren Satz gar nicht raus bringen können. „Aber ich werde dich nicht mehr aufhalten,“ kam es nur schwach und krächzend aus ihm heraus. Er hätte sich am Liebsten bereits vor den Worten auf die Zunge gebissen, doch er wollte auch nicht so sehr viel feiger sein als sein Zwilling. Oh Gott, Bill… er machte sich sicherlich wahnsinnige Sorgen. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie mit Blei gefüllt wären, als er hoch kam und den Weg frei machte. Er suchte sich mit seinem Stuhl eine Ecke und stellte ihn gegen die Wand, an die er seinen Kopf lehnte, nachdem er sich wieder hingesetzt hatte. Tief inhalierte er den Rauch, als er sich eine Zigarette angezündet hatte und schloss seine Augen. Ganz bestimmt hatte er die nächste Zeit nicht vor, sie wieder zu öffnen. Er musste sich das nicht auch noch angucken, wie Andi in diesem schamvollen Kapitel rumwühlen würde. Es war schon schlimm genug zu wissen, was sein Freund tat.
Andi verkniff sich das erleichterte Danke, das auf seiner Zunge lag. Die Schublade, die Tom beschützt hatte, machte nur ein minimales Geräusch, als er sie aufzog und er griff sich so viele der schmalen Ordner, wie er mit beiden Händen zwischen seinen Daumen und Fingern greifen konnte und legte sie als Stapel auf den Tisch, bevor er den Ordner wieder zusammensammelte, den Tom zuletzt in den Schrank zurückgeworfen hatte und sich damit auf den Stuhl setzte, den er sich wieder ordentlich vor dem Tisch platziert hatte. Das erste Blatt, das er zu sehen bekam, war eine Tabelle, in der offenbar Blutwerte eingetragen waren. Damit kannte er sich überhaupt nicht aus, weshalb das für ihn nur unerklärliche Zahlen waren. Bills Name stand oben auf dem Papier… merkwürdigerweise nur der Vorname. Als er sich die nächste Seite in seinen Blick legte, gefror ihm das Blut in seinen Adern und zeitgleich legte sich Unglauben über ihn. Das, was er sah, konnte nicht sein… das war gegen jede Realität… und doch sah es so real aus. Sein Kopf drehte sich, um Tom anzusehen… verdammt… seine Panik war echt gewesen. Wie konnte das sein? Er sah zurück zu der Akte und schüttelte immer noch ungläubig den Kopf, in den gerade scheinbar gar nichts mehr reingehen wollte, doch sein Magen meldete sich umgehend und verpasste ihm eine heftige Übelkeit.
Mit der Zeit schaffte Tom es, seine Gedanken von dem Thema wegzubekommen, mit dem Andi sich jetzt beschäftigte. Er dachte daran, wie Bill sich gerade fühlen musste… weit weg… machtlos. Scheiße… so hatte er sich das alles nicht vorgestellt. Sie hatten sich doch gerade erst gefunden. Das konnte doch jetzt nicht schon alles wieder vorbei sein… nein… das reichte einfach noch nicht aus, verdammt. Das war nicht fair, und es war auch nicht fair, dass Andi jetzt hier bei ihm war. Bill verlor ihn ein zweites Mal. Wenn er und Andi sterben würden, dann würde Bill es auch. Dessen war er sich sicher… und er selbst trug die Schuld daran. Oh Gott… was hatte er nur getan? Er dachte an alles, was sie in den letzten Wochen erlebt hatten. Noch ganz genau hatte er das Bild vor Augen, wie sie das erste Mal auf der Straße aneinander vorbeigelaufen waren. Hätte er damals einen anderen Weg gewählt, wäre ihr Leben jetzt wahrscheinlich nicht in Gefahr. Je länger er an seinen Zwilling dachte, desto tiefer stürzte er sich in seine Selbstvorwürfe. Irgendwann… sein Zeitgefühl war schon völlig zerrüttet… riss ihn ein Schluchzen, das klang, als wäre es lange zurückgehalten worden, aus seinem Rückzug. Sein Kopf fühlte sich schwer an, als er ihn nach vorn nahm und seine Augen öffnete.
Er entdeckte Andi auf dem Stuhl sitzend. Sein Gesicht lag auf seinen Armen, die auf dem Tisch abgelegt waren. Sein gebeugter Oberkörper bebte und obwohl Tom nichts hörte, war es klar, dass er weinte. Als er aufstand und zu ihm ging, sah er die vielen Bilder auf dem Tisch verstreut… von sich und Bill… Bilder von den Misshandlungen bei ihren so genannten ‚Untersuchungen’. Wie ein stumpfer Pfahl schob sich der Anblick in seinen Unterleib und er sah schnell wieder weg. Er wusste bis heute nicht, dass davon Fotos existieren und dass jedes Detail dieser Quälereien penibel protokolliert wurde. Diese Akten waren eine einzige Horrorchronik voller Schmerz und Demütigung. Tom versuchte, sich da jetzt nicht reinziehen zu lassen und sich auf Andi zu konzentrieren. Er kniete sich neben ihn und streichelte ihm vorsichtig über den Rücken. Sein Freund tat ihm leid. Das so zu erfahren war hart. „Ist schon gut,“ sagte er und klang dabei viel, viel ruhiger, als er eigentlich war.
Oh nein… Andi hatte nicht gewollt, dass Tom mitbekam, dass er weinte, aber er hatte sich einfach nicht mehr kontrollieren können. Die Gefühle waren unaufhaltsam aus ihm herausgebrochen. Das, was er gesehen hatte… seine Freunde… Kinder… grausam erschien ihm ein viel zu schwaches Wort dafür… unvorstellbar unmenschlich. „Entschuldigung… ich kann das nicht verstehen,“ weinte er, ohne seinen Kopf zu heben. „Ich kann das einfach nicht verstehen.“ Die Bilder kreisten in seinem Kopf… auf Untersuchungsliegen festgeschnallte Kinderkörper… herbeigeführte Wunden… tiefe Schnitte… überall… überall… als hätten sie ihre Körper nach der versteckten Nadel im Heuhaufen durchsuchen wollen. Ihnen wurden, offenbar zu unergründlichen Testzwecken, irgendwelche Substanzen injiziert. Er hatte sehen können, dass diese Sadisten es offenbar nicht für nötig gehalten hatten, ihre Opfer zumindest zu betäuben… Kinder verdammt. Der Weißhaarige versuchte angestrengt, sich wieder in den Griff zu bekommen und sein zerrissenes Herz zusammenzuhalten. Schniefend und seine Tränen mit seinem Ärmel abwischen, kam er hoch und sah seinen Freund an. „Warum lebt ihr noch? Und wie kann das sein? Ich begreif das nicht. Ihr habt doch… warum sieht man nichts? Ihr müsstet eigentlich schon längst… oh Gott… ich kann das einfach nicht verstehen,“ vergaß er in seinem Gefühlswirrwarr vollkommen, dass er Tom versprochen hatte, ihn auf nichts anzusprechen.
„Wir wissen es selbst nicht. Es ist einfach immer schnell komplett verheilt. Wir haben keine Antworten darauf, Andi.“ Der Blonde wusste selbst nicht, warum er so ruhig darauf antworten konnte. Vielleicht lag es daran, dass Andi so fertig war und dass er sich so auf ihn konzentrierte, dass seine eigenen Gefühle dabei in den Hintergrund traten. „Versuch es nicht zu verstehen… das wird dir nur schaden,“ wusste er aus eigener Erfahrung. Immer noch strich seine Hand über Andis Rücken, doch jetzt erhob er sich wieder und ließ ihn los. „Komm… lass uns das wieder weg packen. Das sind keine Antworten,“ fing er an, die Papiere und Bilder zusammenzusammeln und achtete darauf, nicht wirklich hinzusehen. Er wollte nicht, dass das noch länger hier ausgebreitet rum lag.
Andi beeilte sich jetzt, Tom zu helfen. Er hatte Recht. Das waren bestimmt keine Antworten, aber als sie alles wieder in der unheilvollen Schublade verstaut hatten, sah er das Zögern von Tom, als dieser die Schublade langsam schloss.
„Aber was ist, wenn es hier doch irgendwo noch Antworten gibt?“ ließ es dem Blonden irgendwie doch keine Ruhe.
„Soll ich nachsehen?“ stieg Andi sofort darauf ein. Es war ein Schock für ihn, was er eben hatte sehen müssen, doch das schreckte ihn nicht davor ab, weiter forschen zu wollen. Auch seine Seele wollte Erklärungen.
Tom nickte zögerlich.
Der Weißhaarige zog eine andere Schublade auf und nahm stichprobenartig ein paar der Akten heraus und ließ die Seiten zwischen seinen Fingern durchlaufen. Ihm reichte beim schnellen Drüberblicken, dass er Toms und Bills Namen entdeckte, ansonsten war seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet. „Zumindest sehen die hier schon mal so aus, als wären keine Fotos dabei.“ Das fand er gerade wichtig. Noch mehr so sichtbares Elend konnte er jetzt auch nicht mehr ertragen. Er zog sich wieder einen Stapel heraus, mit dem er sich zurück an den Tisch setzte. Das Erste, das er las, war so eine Art Entwicklungsbericht über Tom. Er sah auf das Datum und rechnete. Das war geschrieben worden, als er acht war. Diese Zeilen lasen sich komplett anders, als das, was in der Akte gestanden hatte, die sie im Amt durchgelesen hatten. Wie bei den ‚Untersuchungsberichten’ fiel auch hier diese akribische Genauigkeit und Ausführlichkeit auf. Das waren wohl Tagesberichte, wie ihm beim Weiterblättern auffiel… und das hier schien ihm viel realistischer auszufallen, als das vorher Gesehene. Jede Regung, jedes Wort von Tom, jeder Eindruck, den der Schreiber hatte, war dort aufgeführt, sogar was Tom gegessen und getrunken hatte.
Dass Andi erwähnte, dass keine Fotos zu sehen waren, machten Tom neugieriger und irgendwie stand er plötzlich neben seinem Freund am Tisch und las über seine Schulter hinweg mit und nur kurze Zeit später hatte er sich seinen Stuhl ran gezogen und forstete ebenfalls durch die Papiere… überflog das, was geschrieben stand, auf der Suche nach der Wahrheit, die nirgendwo näher zu liegen schien als in diesem Raum. Ironie des Schicksals, dass es auch ihr Gefängnis war. Schnell beschloss er, dass diese Berichte nicht wirklich weiterbringend waren und er ließ Andi erstmal nachgucken, ob auch wirklich keine Fotos drin waren, wenn er nach weiteren Akten griff. Es war eigentlich unfassbar, welche Massen an Papier es hier gab und wie viel sinnloses Zeug über sie geschrieben wurde, aber immerhin entsprach dieses sinnlose Zeug der Wahrheit, auch wenn bisher nichts darin stand, was Tom nicht bereits wusste, doch dann stolperte er über etwas, was ihm gar nicht gefiel und zu allem Überfluss hatte er Andi die letzten Akten nicht mehr nach Fotos absuchen lassen. „Verdammte Scheiße. Das kann nicht wahr sein… sieh dir das an,“ forderte er seinen Freund aufgeregt auf, mit ihm zusammen dort hineinzusehen. „Du erkennst die Situation, oder?“ tippte sein Finger auf das Foto, das vor ihm lag.
„Oh verdammt… ja. Das war auf der Poolparty von Benni letztes Jahr,“ reagierte Andi bestürzt. Im Zentrum des Bildes war zu sehen, wie Tom mit einem Mädchen im völlig überfüllten Pool rumknutschte. Er selbst war zwischen den anderen Partygästen auch zu sehen, allerdings nur von hinten.
„Ja genau… letztes Jahr… am 12. August, falls du es vergessen hast… steht hier. Wir haben unsere Wohnung mit Steffen zusammen um 20 Uhr 34 verlassen, um mit seinem Auto dort hinzufahren… steht hier auch… und guck… jetzt wird es richtig spannend,“ sagte Tom zornig, sprang auf und schlug das Blatt zur Seite. „So sieht dann unsere Wohnung aus, wenn wir feiern sind,“ zeigte er so die nächsten Fotos, die die menschenleere Wohnung zeigte, in der Andi immer noch lebte. Wieder blätterte er weiter. „Und hier… schönes Bild von mir, nicht wahr? Keine Ahnung, was ich da gemacht hab… aber macht ja nichts… hier steht es ja… 17. August… oh sieh mal einer an… da war ich auf dem Weg zur Arbeit und ich brauch auch keine Angst zu haben, den Namen meines alten Chefs zu vergessen… ich hab ja das Glück, dass das jemand freundlicherweise alles für mich protokolliert hat.“ Seine Ironie triefte von der Galle, die er dabei versprühte und sein Körper war total unruhig. „Ach warte mal… da war doch noch…,“ er zog die nächsten Bilder einfach zur Seite, bis er auf das stieß, das er eben auch schon gesehen hatte. „Das hier wäre doch ein tolles Bild für unser Familienalbum, findest du nicht?“ zeigte er ihm das Bild, wo er und Andi an der Strandbar sitzen, die sie recht oft besucht haben. Oh Gott, er wollte einfach nur kotzen. Die ganze Mappe war voll davon… trügerische, trügerische Freiheit.
Der Weißhaarige wollte etwas sagen, aber Tom wütete gleich in seiner zynischen Art weiter.
„Schauen wir doch mal, was wir hier Zauberhaftes finden,“ zog er eine Akte aus dem frischen Stapel heraus, die weiter unten war und schlug sie irgendwo mittig auf. Das Foto, das er sah, ließ ihn sofort verstummen und zwang seinen Körper, sich wieder auf den Stuhl zu setzen. Sämtliche Wut schien auf einen Schlag seinen Körper zu verlassen. „Oh mein Gott,“ flüsterte er. „Bill.“ Es war eigentlich eine uninteressante Szene… Bill lief irgendwo die Straße entlang… aber sein Bruder sah aus wie ein Engel. Er warf einen kurzen Blick zum Datum. Da war er sechzehn. Er hatte schon Bilder von ihm aus der Zeit gesehen, doch dieses Bild hier hatte so eine magische Wirkung auf ihn. Er wusste noch nicht mal, was das war, was ihm so ein einzigartiges Gefühl einpflanzte, aber er fühlte so stark die Liebe zu ihm, dass es in diesem Augenblick einfach mehr als gut tat, ihn so zu sehen. Wie gern hätte er ihn da schon gekannt. Sein Finger glitt ein Mal liebevoll über Bills Wange.
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Irgendetwas Warmes streichelte ihm über die Wange. Bill schreckte hoch… so ein Mist. Er begriff nicht, wie er hatte einschlafen können, doch noch bevor er darüber nachdenken konnte, klopfte es leise. „Bill?“ hörte er Marcellos vorsichtige Stimme hinter der Tür. Verwirrt ging sein Blick zur Uhr. „Scheiße,“ fluchte er, während er aus dem Bett sprang. „Ich bin gleich bei dir,“ rief er Marcello zu und rannte ins Bad. Ausgiebiges Zähneputzen war etwas Anderes, aber es war eigentlich für gar nichts mehr Zeit, wenn sie nicht den Flieger verpassen wollten. Hektisch warf er die Sachen, die noch herumlagen in seinen Koffer und schnappte sich sein Handy samt Aufladekabel, das er aus der Wand riss. Ein kurzer Blick aufs Display und sein Herz fiel zusammen… keine Nachrichten. Inzwischen waren Stunden vergangen. Bevor er den Koffer schloss, nahm er sich ein schwarzes Cap und eine große, dunkle Sonnenbrille, hinter der man ihn nicht sehen konnte, heraus und setzte beides auf.
Marcello stand startbereit mit seinen Sachen auf dem Flur, als Bill, seine kleine Tasche über seine Schulter geschwungen und in jeder Hand einen Koffer hinter sich herziehend, zu ihm heraustrat. Seine Diva wirkte ganz anders als sonst. Das fiel ihm sofort auf, genau wie die Tatsache, dass Bill die selben Klamotten trug wie gestern. Er hatte es noch nie erlebt, dass Bill nicht pünktlich aufgetaucht war. Er wirkte besorgniserregend. „Ist alles okay mit dir?“ fragte er dementsprechend auch gleich, statt einer Begrüßung.
„Ja… alles okay. Lass uns gehen,“ drängte Bill sofort darauf, das Hotel zu verlassen. Sie mussten sich für die Fahrt zum Flughafen ein Taxi nehmen und der Schwarzhaarige war froh, dass sie durch die Stadt kamen, bevor alle auf ein Mal aus ihren Häusern krochen und gemeinsam die Straßen blockierten, bis es nur noch im Schritttempo voran ging. Diese Stadt war diesbezüglich auf jeden Fall total verrückt, fand er, doch zuallererst versuchte er Tom und Andi auf dem Handy zu erreichen… Fehlanzeige. Nagend nisteten sich die Sorgen wieder ein, ebenso wie seine Hilflosigkeit.
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RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 02.12.2008 12:26von Lowy • Besucher | 28.932 Beiträge
~ 19. Kapitel ... Teil 2 ~
Sie wühlten sich unermüdlich durch das, was in den Papieren stand. „Guck mal hier. Ich bin auf dieses Jahr gestoßen,“ legte Andi Tom ein Bild vor die Nase.
Toms Gefühle waren hin und her gerissen, als er das Foto von sich und Bill ansah. Er liebte es auf Anhieb und es frustrierte ihn zutiefst. Alles… sie hatten alles mitbekommen, was sie die letzten Jahre getan hatten. Der Gedanke, dass ihre Vergangenheit vorbei war, war eine Illusion gewesen, ihre Freiheit eine Lüge, eine bittere Lüge, die Tom ins Gesicht spuckte und ihn hämisch auslachte… und immer noch fehlten die entscheidenden Antworten. Anstatt das Foto zurückzulegen, verstaute er es in der großen Seitentasche an seiner Hose. Er fühlte sich ausgelaugt und seelisch erschöpft und er hätte zu gern eine Zigarette geraucht, aber das würde seinen Durst nur noch mehr steigern und der war schon seit Stunden so unangenehm, dass er sich ständig räuspern musste, weil das Gefühl in seinem ausgetrockneten Hals ihn dazu zwang. Er mochte nicht mehr in diese Akten gucken, doch das lenkte immerhin von seinem Durst ab und der war im Moment schlimmer als seine Erschöpfung. Also zog er sich die nächste Mappe hervor. Sie war so dünn, dass er im ersten Moment dachte, dass dort gar nichts drin war. Er stutzte, als er sie aufschlug. „Komisch,“ wunderte er sich über das eine Blatt, das er dort fand… nur ein einziger Satz. „1. Rate in Höhe von 50.000 D-Mark erhalten,“ las er ihn sich selbst laut vor. Darunter war eine Unterschrift, die ihm nichts sagte.
„Hä? Was?“ hob Andi, aus seiner Konzentration gerissen, seinen Kopf. „Was hast du gesagt?“
Tom sah gerade auf das Datum im oberen rechten Eck des Schreibens. „Ach, ist schon gut. Hier ist wohl ein Ordner beim Schrank ausräumen mal vergessen worden,“ folgerte er. „Das Ding ist älter als ich,“ klappte er es wieder zu und legte die Akte zur Seite, um sich die nächste vom noch nicht bearbeiteten Stapel zu greifen.
„Zeig mal her,“ kam es von Andi, aber da Tom das Ding schon weggelegt hatte, griff er selbst danach. Hmm… wofür bekam jemand 50.000 D-Mark? Na gut… das Papier gab nicht viel her, also klappte er den Deckel wieder zu, doch als er die Mappe auf den Stapel zurückpacken wollte, fiel ihm, noch in Gedanken daran, etwas auf und er sah sich das Schriftstück noch mal an. Die Unterschrift war krakelig… oder wie sollte er das ausdrücken? Irgendwie zittrig, fand er, doch der Name war trotzdem gut zu lesen. „Hier steht Simone Kaulitz,“ sagte er.
„Ja und? Sagt mir nichts,“ blieb der Blonde unbeeindruckt. Ihm ging eh schon die Konzentration flöten und sein Kopf filterte nur noch das aus, was sowieso offensichtlich war.
„Okay… ich sag es noch mal anders. Die Unterschrift ist von einer Frau, die Simone heißt und diese Mappe ist zwischen euren Akten. Macht dich das nicht stutzig?“ Den Weißhaarigen jedenfalls brachte es ins Grübeln.
„Ja, okay,“ fiel bei Tom der Groschen. „Aber hast du eine Ahnung, wie viele Simones es in Deutschland gibt?“ relativierte er sofort. „Also ich glaube, das ist einfach versehentlich dazwischengerutscht irgendwie.“
Andi dachte anders darüber. „Und wenn nicht?“ fragte er.
Tom kam nicht dazu, über Andis Frage nachzudenken.
Das Durchwühlen der Papiere hatte sie so in Beschlag genommen, dass ihnen die Gefahr, in der sie steckten, nicht mehr wirklich präsent war, doch das änderte sich in genau diesem Moment, als der Klang einer wütenden Männerstimme durch die Stille brach, die bisher außerhalb dieses Raumes geherrscht hatte. Sie war leise, weit weg, aber Tom und Andi lauschten angespannt, mit angehaltenem Atem und schneller klopfenden Herzen, wie das Rumgekeife lauter wurde, näher kam. Als sie die ersten Wortfetzen verstehen konnten, wurden auch die Geräusche von Schritten hörbar, die deutlich von mehr als einer Person kamen.
„Scheiße, sie kommen.“ Toms geflüsterte Stimme zitterte, während sich sein Körper anfühlte, als wäre er aus Stein. Ein Impuls in ihm wollte aufspringen und die verdächtigen Akten zurück in die Schränke schmeißen, die Spuren seines Ungehorsams verstecken, doch er war wie gelähmt. Der erste vollständige Satz, den er von der Männerstimme, die offenbar nicht aufhören konnte rumzuwüten, hörte, war „Wie bescheuert muss man eigentlich sein, noch nicht mal eine Sicherung rausnehmen zu können?“ Er klang brutal wütend und das Adrenalin, dass in Toms Adern schoss, als wollte es das Licht überholen, zersprengte den Stein in ihm und ließ ihn in wilder Panik aufspringen. Im selben Moment hatte er seinen Stuhl gegriffen und hob ihn in Abwehrposition vor seinen Oberkörper, den Blick fest auf die Tür fixiert. Seine Angst ließ ihn angespannt ein paar Schritte rückwärts taumeln. Diese Stimme… oh Gott nein… er wollte sie nicht kennen… er wollte nicht in der Falle sitzen… er wollte hier raus!
Andi war kein gläubiger Mensch, aber in diesem Moment fing er an zu beten. Schutzsuchend stellte er sich ganz dicht an Tom und in seinem Kopf klangen die Stoßgebete, die sein angstgeplagtes Herz dort hineinschickte. Die Schritte kamen schnell näher und blieben vor der Tür stehen. „Oh mein Gott… ich hab so eine Angst,“ wimmerte er leise. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so eine Angst gehabt, doch sie sollte im nächsten Augenblick sogar noch um einiges stärker werden. Das Geräusch des Schlüssels, das sich im Schloss drehte… es kam ihm vor wie in Zeitlupe… auch die Männer, die mit Gewehren hineinstürmten und sie ins Visier nahmen… als würde der Film im falschen Tempo abgespielt werden. Es wirkte irreal… doch diese Angst war real. Plötzlich wusste er… es ging hier um sein Leben.
Die Waffen, die auf ihn gerichtet waren, nahm Tom nicht wirklich wahr. Sein Blick blieb weiter auf die jetzt offene Tür gerichtet. Er spürte er schon die böse Aura, die diesem Monster vorausging und in ihm lief ein Mechanismus ab, den er seit Jahren nicht gebraucht hatte. Keine Angst zeigen... alles, was er an Kraft zusammenbekam konzentrierte sich darauf. Es war das Einzige, was er tun konnte, um das Wichtigste zu wahren, das er besaß… das bisschen Würde, auf dem sein komplettes Überleben aufgebaut war. Er ließ den Stuhl sinken und hob sein Kinn. Übermächtig war die Angst in ihm… er würde sie ihm nicht zeigen. Er wehrte sich gegen das Zusammenzucken seines Körpers, als die erbarmungsloseste Gestalt seiner Vergangenheit vor den grauen Mauern dieses viel zu engen Raumes auftauchte und dessen böser Blick, den nicht einmal das überhebliche, hämische Grinsen vertuschte, ihm die Luft abschnürte. Er fühlte sich schrecklich ertappt, als er sah, wie sein alter Peiniger sofort den Tisch mit den Papieren wahrnahm und das Grinsen dabei aus seinem Gesicht verschwand. „Durchsucht sie und bringt sie in das Verhörzimmer,“ bellte das Scheusal seinen ersten Befehl und warf Tom dann einen Blick zu, bei dem er sich vorfreudig über die Lippen leckte, bevor er das Zimmer wieder verlies.
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Sie betraten gerade das Flughafengebäude, als Bill endlich einen Einfall hatte. Warum war er nicht früher darauf gekommen? „Ich muss schnell noch mal telefonieren. Ich komm gleich nach,“ waren die Worte, mit denen er Marcello stehen ließ und durch die Tür wieder hinausging, durch die er eben gerade hineingelaufen war. Er stellte sein Gepäck ein paar Meter weiter an der Mauer ab und ließ sich von der Auskunft in Deutschland mit der Polizei in Magdeburg verbinden. Als sich jemand meldete, nannte er seinen Namen und erzählte alles, was wichtig war. Tom und Andi würden vielleicht eine Anzeige wegen Einbruchs oder so erwarten müssen, aber das war ihm gerade so was von egal. Der Beamte am anderen Ende hörte ihm aufmerksam zu und reagierte sehr freundlich. Er versprach, dass er sofort seine Kollegen dort hinschicken würde, um nachzusehen. Das war ein kleiner Lichtblick, aber Bill spürte viel zu sehr Toms Angst, um erleichtert zu sein. Es machte ihn fertig, dass er nicht wusste, was genau passierte.
Marcello hatte Bills Augen gesehen, als der zur Passkontrolle seine Brille abnehmen musste. Mal ganz davon abgesehen, dass er immer noch das Make-up trug, das er am Vorabend auf der Show vorgeführt hatte… und diese Tatsache allein war schon beunruhigend genug… musste man noch nicht mal Luka sein, um zu sehen, dass es ihm richtig schlecht ging. Als sie in der Luft waren, hatte Marcello Bill noch mal angesprochen, weil er einfach sehr besorgt war, doch der Schwarzhaarige hatte ihn mit einem freundlichen „Kannst du mich bitte einfach in Ruhe lassen“ wieder einmal abgewiesen. Jetzt saß seine Diva seit etlichen Stunden neben ihm, aß nichts, sprach nicht, außer immer wieder ganz kurz mit der Stewardess, die ihm so oft Getränke brachte, dass es fast den Eindruck machte, als wäre er merkwürdigerweise am Verdursten… er wirkte völlig neben der Spur. Als sie endlich im Anflug auf Berlin waren, hatte Marcello den schlimmsten Flug seines Lebens fast hinter sich, doch er war sich gar nicht sicher, ob er Bill in diesem Zustand überhaupt allein lassen konnte.
Kaum hatten sie die Passkontrolle hinter sich, schaltete der Schwarzhaarige sein Handy wieder ein und es dauerte nur ein paar Sekunden, da fiepte es und zeigte ihm einen Anruf von Tom in Abwesenheit an. Während er mit möglichst schnellen Schritten auf das Gepäckband zusteuerte, drückte er die entsprechenden Tasten, um seine Mailbox abzuhören.
Es war überhaupt nicht einfach für Marcello an Bills Fersen zu bleiben. Er war nicht so groß und hatte nicht so lange Beine, was ihm die doppelte Schrittmenge abverlangte. Fast wäre er in Bill hineingelaufen, als dieser plötzlich mit einem kurzen, gequälten Laut abrupt stehen blieb.
„Eines hab ich wohl vergessen zu erwähnen. Die Polizei ist nicht dein Freund und Helfer, Bill. Sie ist mein Freund und Helfer. Bemerkst du den feinen Unterschied?“ Bill hörte ihn überheblich lachen nach der Frage. „Allerdings war es sehr nett von dir, dass du meinen Freunden schon mal gesagt hast, dass du weißt, wo du hin musst, dann spar ich mir die umständliche Wegbeschreibung… und wo wir gerade bei Freunden sind… deine Freunde waren unartig, Bill… sehr unartig. Ich werde sie erst wieder gehen lassen können, wenn du beweist, dass zumindest du artig sein kannst. Mir ist schon klar, dass du diese Nachricht erst hören kannst, wenn du deinen langen Flug hinter dir hast, also ruh dich ruhig erstmal aus, bevor du deinen süßen, engen Arsch hier her schiebst, dann hab ich mehr Zeit mein Wiedersehen mit Tom zu feiern und euren Andi endlich näher kennen zu lernen. Übrigens…artig sein bedeutet für dich erstmal, dass du allein kommst. Alles andere erfährst du, wenn du hier bist. Ich warte auf dich.“ Ende der Nachricht.
Für Marcello wirkte seine Diva gerade, als würde sichtbar das Leben aus ihr heraus fließen, und weil er Angst hatte, Bill würde jeden Augenblick einfach umkippen, griffen seine Hände haltend nach dem kraftlosen Körper und dirigierte ihn auf die nächste Sitzgelegenheit zu. Es war mitten in der Nacht und nur wenige Menschen waren hier in den fast verlassen wirkenden Hallen des Flughafens. „Geht es so?“ fragte Marcello voller Besorgnis, als er ihn abgesetzt hatte. „Soll ich dir etwas zu trinken holen oder kann ich sonst etwas für dich tun?“ Er fühlte sich schrecklich hilflos und hoffte, Bill würde irgendetwas sagen, damit er etwas tun konnte und er rechnete mit allem… bloß nicht mit dem, wie der Schwarzhaarige dann tatsächlich reagierte.
„Ich brauche eine Waffe mit scharfer Munition. Weißt du, wo ich so etwas bekomme?“
So wie Bill das sagte, wusste Marcello, dass das hier bitterer Ernst war. Ihm wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. „Oh Gott, Bill. Was hast du vor?“ konnte er sein Entsetzen nicht verbergen.
„Ich will jemanden umbringen,“ antwortete der Schwarzhaarige gerade heraus, während er wieder aufstand. „Weißt du nun jemanden, der so etwas hat oder schnell besorgen kann?“ wiederholte er seine Frage ungeduldig und zog Marcello nun am Ärmel packend Richtung Gepäckband. Er wusste, er hatte zwei Möglichkeiten. Die eine war komplett zusammenzubrechen und nie wieder aufzustehen. Die andere war zu kämpfen. Zwei Möglichkeiten… doch für ihn gab es nur die eine Wahl. Nie wieder, das hatte er sich geschworen, nie wieder würde er diesem Unmenschen die Möglichkeit geben ihn zu erniedrigen und für seine Zwecke zu missbrauchen. Die Angst vor dem, was er Tom und Andi angetan haben könnte, musste gegen Wut weichen… Wut, die ihm half, sich auf das zu fokussieren, was seiner Meinung nach jetzt der einzige Weg, beziehungsweise das einzige Ziel war… Tod des Tyrannen und die damit verbundene Befreiung seiner Brüder. Es gab keinen legalen Weg.
„Ich… ich… nein… oh Gott… nein,“ stammelte Marcello und fühlte sich bereit für seinen ersten wirklichen Herzinfarkt. Mit Sechsunddreißig vielleicht ein wenig zu früh, doch wenn es die Umstände erforderten… instinktiv griff seine Hand an die Stelle seines Brustkorbes, unter dem das Herz saß. Er hatte das Gefühl, dass etwas Fremdes Besitz von Bills Körper ergriffen hatte. Das konnte nicht derjenige sein, dessen Karriere er verfolgt hatte, seitdem ihm das erste Bild von dieser Schönheit in die Hände gefallen war und über den er sich so wahnsinnig gefreut hatte, seitdem er dann tatsächlich letztes Jahr in der zentralen Agentur hier in Berlin aufgetaucht war.
Bill zog seine Koffer vom Band und stellte sie neben sich ab. „Okay. Ich nehm mir ein eigenes Taxi. Ich muss jetzt schnell los.“ Er griff mit seinem Zeigefinger unter Marcellos Kinn. „Du bist ein sehr guter Mensch, Marcello,“ nutzte er den Moment, um ihm ein Mal zu sagen, was er über ihn dachte und küsste flüchtig dessen Lippen, bevor er seine Koffer in die Hände nahm und den direkten Weg aus dem Gebäude ansteuerte.
Völlig überfahren und verwirrt blickte Marcello dem Schwarzhaarigen hinterher. Seine Finger lösten sich von seinem Brustkorb und fanden ungläubig seine Lippen. Noch nie hatte Bill ihn geküsst, noch nie hatte er ihm so einen Stich versetzt. Er fühlte den Abschied, der in der Geste seiner Diva steckte. Ein paar Augenblicke hielt seine Starre an, dann schnappte er sich schnellstmöglich seinen eigenen Koffer und rannte Bill hinterher. „So nicht,“ stellte er sich ihm pustend in den Weg, als er ihn eingeholt hatte und zwang ihn so zum stehen bleiben. „Ich hab keine Ahnung, was passiert ist, aber ich lass dich so nicht gehen.“ Ihm war es egal, dass sein Koffer umkippte, als er ihn los ließ, um nach Bills Brille zu greifen, die er ihm mit beiden Händen von der Nase zog, um diese Mauer zwischen ihnen ein Stück weit zu durchbrechen und an ihn rankommen zu können. Er erschrak vor dem Ausdruck in dessen Augen, zwang sich aber selbst zum weiter sprechen. „Du bist im Begriff eine riesige Dummheit zu machen. Das, was du da vor hast, ist immer falsch… egal, wie wütend du auf jemanden bist und du lässt das schön bleiben, Bill Steinberg.“ Vor Aufregung nannte er Bills ganzen Namen, wie eine wütende Mutter, die den Doppelnamen ihres Kindes nur aussprach, wenn es etwas angestellt hatte. Er wusste nicht, wie er es bewerkstelligen sollte, aber er wusste, dass sein Agenturschützling sein Leben ruinieren würde, wenn er wirklich das umsetzen würde, was er gerade angedroht hatte und er würde alles daran setzen, ihn vor dieser Torheit zu beschützen. Er war sich nicht im Klaren darüber, ob Bill gerade überhaupt noch rationell denken konnte. Notfalls würde er ihn vor sich selbst beschützen müssen.
Er hatte so lange die dunkle Brille aufgehabt, dass er jetzt geblendet die Augen zu einem kleinen Spalt zukniff. „Ich weiß, du meinst es gut, Marcello, aber du hast keine Ahnung. Vergiss einfach, was ich gesagt habe, okay?“ Seinen einen Koffer kurz loslassend, holte er sich seine Brille zurück, setzte sie auf und ließ Marcello erneut einfach stehen. Er beeilte sich zum vordersten, wartenden Taxi zu kommen. Der Fahrer verstaute gerade seine Sachen im Kofferraum, als Marcello seinen Koffer einfach mit dazu warf und sich zu Bill in den Wagen setzte. „Was wird das?“ fragte er etwas gereizt.
„Ich bleib bei dir.“ Marcello war entschlossen.
Bill wollte gerade protestieren, als der Taxifahrer auch in den Wagen stieg. Er wollte und konnte jetzt nicht mit Marcello diskutieren und so tat er etwas, was ihm innerlich wehtat, doch er hielt es in diesem Moment für das Beste. „Ich war zuerst hier. Ich will nicht mit diesem Mann zusammen fahren,“ wandte er sich an den Fahrer und tat so, als würde er Marcello nicht kennen.
Es gab eine kurze Debatte zwischen dem Fahrer, der sofort wieder ausgestiegen war, und Marcello, doch da der Taxifahrer zu der schnell genervten, grobschlächtigen Sorte Taxifahrer gehörte, stieg Marcello doch letztlich hastig wieder aus, als der Fahrer Anstalten machte, seine Körperkraft an ihm auslassen zu wollen.
Bill fand die Situation sehr schlimm und kämpfte mit geschlossenen Augen darum, seinem inneren Drang, Marcello um Verzeihung zu bitten, nicht nachzukommen. Er versuchte sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was jetzt wichtig war. Erstmal musste er seine Sachen loswerden und sich irgendwie bewaffnen, also nannte er dem Fahrer seine Adresse, als der wieder einstieg.
Er wusste nicht, was das mulmige Gefühl zu bedeuten hatte, das in ihm auftauchte, als das Taxi in die Straße einbog, in der er wohnte, doch als es gerade halten wollte, entdeckte er zwei Männer im schwachen Licht der Straßenlaternen, die vor seiner Haustür rumlungerten. Zu eindeutig warteten sie auf ihn. „Bitte fahren sie weiter,“ bat er schnell und rutschte auf dem Sitz nach unten, um nicht entdeckt zu werden. Dankbar registrierte er, dass der Fahrer das Gaspedal tatsächlich augenblicklich wieder benutzte. „Wohin jetzt?“ fragte er einfach nur kurz, als käme es gar nicht selten vor, dass er um so etwas gebeten würde. Vielleicht hatte er auch einfach nur zu viele Filme geguckt, in denen so etwas vor kam… und so in etwa fühlte Bill sich auch… wie in einem Film, nur dass er eine echt beschissene Rolle darin zu spielen hatte. „Bötzowstraße,“ nannte er spontan Lukas Adresse, doch im selben Augenblick fiel ihm ein, dass der diese Woche ja gar nicht in Berlin war. „Nein, warten sie… äh… Pappelallee,“ entschied er kurzerhand.
Ein paar Minuten später schleppte er sein Gepäck die Treppen hinauf und spürte dabei, wie erschöpft sein Körper eigentlich war. Er fühlte sich etwas komisch, als Ines ihn völlig verschlafen an der Wohnungstür erwartete, um ihn hereinzulassen. Sie waren sich erst ein paar Mal kurz begegnet und jetzt störte er sie in ihrer Nachtruhe. „Es tut mir echt leid, dass ich zu so einer Uhrzeit hier einfach ankomme,“ waren dementsprechend auch seine ersten Worte. „Ich hoffe, ich hab die Kinder nicht geweckt,“ fügte er betreten hinzu.
„Nein, hast du nicht. Komm erstmal rein,“ reagierte Ines und konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen, doch als Bill in das hellere Licht ihres Flures trat, sah sie trotz seiner Vermummung, in welch desolatem Zustand er war. „Gott… du siehst ja fürchterlich aus. Stell deine Sachen hier ab und komm erstmal mit in die Küche,“ ging sie voraus und setzte Teewasser auf. Was auch immer er hatte… ein heißer Tee tat immer gut.
Als Bill in die Küche kam, wurde er von Ines direkt auf den nächsten Stuhl gesetzt. „Was ist passiert? Hat’s bei dir gebrannt oder so?“ setzte sie sich zu ihm und legte eine Hand auf seine. Sie hatte das Gefühl, ein wenig menschliche Wärme geben zu müssen.
„Nein… ich… äh… kann ich vielleicht mit Micha sprechen?“ ruderte der Schwarzhaarige um eine Antwort herum.
„Ja, sicher,“ stand Ines wieder auf. „Ich geh ihn gleich wecken,“ sagte sie, doch bevor sie das tat, nahm sie erstmal den Wasserkocher und kippte das heiße Wasser über dem mit Tee befüllten Sieb aus.
Bill hätte in diesem Moment lieber bei Lilith um Hilfe gebeten, doch sie hätte ihn nicht ohne Erklärungen einfach unterstützt… und sie in diese Situation mit hineinzuziehen, hätte er sich selbst nie verzeihen können. Micha war der Einzige, dem er noch vertraute, auch wenn der keine Ahnung von seinem früheren Leben hatte und während er hier allein in der fremden Küche wartete, überlegte er, wie er sein Anliegen vorbringen sollte, doch als sein Haushälter zusammen mit seiner Frau den Raum betrat, hatte er noch keine Strategie gefunden. Wie sollte er auch erklären, dass er irgendwie Waffen brauchte, ohne so eine Reaktion wie bei Marcello hervorzurufen? Von dem Plan, irgendwo eine Pistole herkriegen zu müssen, war er eh schon weg. Das war schlicht zu unrealistisch… aber mit Messern ließ sich ja schließlich auch töten.
„Hey, Bill.“ Micha setzte sich auf den Stuhl, auf dem Ines eben noch kurz saß. Er sah besorgt auf seinen jungen Arbeitgeber. „Ist diese Sonnenbrille mitten in der Nacht irgendwie wichtig?“ störte es ihn, dass er sein Gesicht nicht richtig sehen konnte.
„Ja… äh nein… ach, ich weiß nicht,“ fand er keine Antwort und zog sich die Brille von der Nase. „Ich… ich… ähm… kann ich meine Sachen erstmal bei euch lassen?“ Er spürte selber, wie sehr er gerade durch den Wind war und suchte in sich nach Konzentration. Michas riesige, beschützende Hand, die sich ruhig auf seine Schulter legte, half ihm etwas dabei.
„Natürlich,“ sagte Micha. „Erzählst du mir, was los ist?“ fragte er sanft.
Ines stellte Bill eine Tasse Tee auf seinen Platz. Diese Fürsorge, die von den Beiden ausging, war gerade so ein Balsam für den Schwarzhaarigen, dass in ihm eine Schutzmauer bröckelte, die er eigentlich aufrechterhalten wollte. Tränen schossen in seine Augen. „Tom und Andi werden von einem Mann gefangen gehalten, den wir von früher kennen. Er hat ihnen garantiert schon etwas angetan. Er ist ein Monster… oh Gott, ich hab solche Angst um sie,“ brach die Wahrheit inklusive seiner Erschöpfung weinend aus ihm heraus. „Ich kann nicht nach Hause, aber ich brauch dringend etwas, womit ich mich bewaffnen kann. Ich muss sie da raus holen,“ schluchzte er verzweifelt. „Bitte hilf mir. Ich brauche lange Messer oder so was,“ sah er Micha flehend an und seine Hand wischte sich die Tränen von den Wangen, die doch gleich wieder von weiteren benetzt wurden.
„Ach du Scheiße,“ kam es erschrocken von Ines. „Bill… bei so was muss man die Polizei rufen. Du bringst dich doch sonst nur selbst in Gefahr.“
„Das hab ich doch versucht… aber die stecken da auch mit drin.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und ließ die Beiden die Nachricht von der Mailbox hören, während er selbst versuchte, sich wieder einzukriegen, sich wieder stärker zu machen. Er musste jetzt stark sein… seine Brüder brauchten ihn doch.
Micha war ratlos nach dem, was er gehört hatte. „Wie sind die Beiden da hineingeraten und was will dieser Typ überhaupt von euch?“ sprach er das aus, was ihm in den Kopf drang. Er blieb ganz ruhig, damit Bill etwas davon abbekam, aber er hatte auch das Gefühl, zu wenige Informationen zu haben, um irgendwie reagieren zu können.
„Ich weiß nicht, was er will… uns quälen einfach… ach man… ich wusste es noch nie. Tom und Andi sind da hin, weil sie etwas über unsere Vergangenheit herausfinden wollten… das ist alles zu kompliziert. Ich kann das jetzt nicht erklären. Bitte gebt mir etwas, damit ich mich irgendwie bewaffnen kann,“ bat er erneut. „Ich muss da hin jetzt… so schnell wie möglich.“ Die Zeit, die unaufhaltsam verstrich, saß ihm im Nacken und trieb ihn zur Eile an.
Ines wusste, was der Blick zu bedeuten hatte, den ihr Mann ihr zuwarf und innerlich ängstlich nickte sie ihm leicht zu, weil sie die Notwendigkeit einsah, die im Raum stand.
„Ich werde dich begleiten,“ beschloss Micha nach der Zustimmung von Ines, während er jetzt aufstand und eine Schublade am Küchenschrank aufzog. „Hier… nimm dir, was du brauchst,“ forderte er Bill auf. „Ich geh mich anziehen.“ Damit verschwand er aus der Küche.
„Nein… Micha,“ versuchte Bill ihn zurückzuhalten, doch er war schon verschwunden. „Ich muss da allein hin,“ sagte er deshalb matt zu Ines, stand aber auf, um sich dem Inhalt der Schublade zuzuwenden.
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Nicht viel später traten Micha und Bill gemeinsam auf den Gehweg. Bill hatte zwar noch kurz versucht mit ihm zu diskutieren, doch er hatte schnell bemerkt, dass das zwecklos war. Gegen Michas Entschlossenheit hatte er gerade keine Chance und wenn er ehrlich zu sich war, gab er ihm auch gerade einen nicht unbeachtlichen Anteil an Sicherheitsgefühl, das ihm einen deutlichen Halt gab, trotzdem erschrak er, als neben ihm plötzlich eine Autotür aufging und jemand merkwürdig daraus hervorsprang, doch bevor er das richtig erfassen konnte, hatte er bereits Michas großen, breiten Rücken vor sich.
Ein ängstliches Quietschen entfuhr Marcello, als dieser bärtige Hüne sich vor ihm aufbaute. Er fühlte sich wie das Häschen im Angesicht der Schlange, starr vor Schreck und unfähig, seinen Blick von diesen Augen zu nehmen, die ihn wie leichte Beute fixierten. Oh Gott… Bill hatte einen Auftragskiller engagiert… einen Riesen, der ihn sicherlich im nächsten Augenblick packen würde und mit einem einzigen Griff sein Genick brechen würde. Er sah sich schon tot im Kofferraum eines Wagens, in dem er zu seiner letzten Ruhestätte gebracht werden würde, gut versteckt in einem tiefen Wald, wo sein Leichnam irgendwann verwest von einem seltenen Spaziergänger mit Hund gefunden würde. Oh nein… er war doch noch viel zu jung zum Sterben. „Bitte tu mir nichts,“ wimmerte er und zog seinen Kopf zwischen seine Schultern.
„Marcello… was tust du hier?“ erkannte Bill sofort die Stimme und lugte um Micha herum, um ihn ansehen zu können.
Bills erlösende Stimme schaffte es endlich, dass er seine Augen von dem Killer nehmen konnte. „Es tut mir leid, Bill. Ich bin dir gefolgt, weil ich dich nicht allein in dein Unglück rennen lassen wollte.“ Unsicher sah er doch noch mal schnell zurück zu dem Riesen, dann wieder zu Bill. „Tu es nicht,“ flehte er leise.
In diesem Moment sah der Schwarzhaarige ein, dass er Marcello nicht einfach so abwimmeln konnte. Er musste ihm zumindest eine kurze Erklärung bieten und trat an ihn heran. „Es geht hier um das Leben von Tom und Andi. Ich hab keine Wahl, Marcello,“ versuchte er ihm in leisem, gedämpften Ton klar zu machen. „Fahr nach Hause und hör auf mir hinterherzulaufen,“ bat er.
„Was wird das hier? Bekomm ich mein Geld oder geht’s noch weiter?“ bellte der Taxifahrer ungehalten aus dem Wageninneren.
„Einen Moment noch,“ hob Marcello einen Finger dem Taxifahrer entgegen. „Lass mich mitkommen. Vielleicht kann ich helfen,“ wandte er sich zurück an seine beschützenswerte, fertige Diva. Er wusste noch immer nicht, was eigentlich los war, aber wenn Tom und Andi in Gefahr waren, dann war Bill sicherlich nicht aufzuhalten, und wenn er irgendwie nützlich sein konnte, dann wollte er es sein, selbst wenn er keinen blassen Schimmer hatte, woher er plötzlich den Mut nahm, sich auf ein offenbar sehr gefährliches Abenteuer einzulassen.
„Nein… das geht nicht…“ fing Bill an, doch Michas Hand legte sich auf seinen Arm und dessen Stimme unterbrach ihn.
„Lass ihn mitkommen, Bill. Vielleicht kann er wirklich helfen,“ befand der stämmige Haushälter. Er hatte zwar keine Ahnung, wer dieser Marcello war, aber er hielt jede zusätzliche Hand für hilfreich und offenbar kannten die Beiden sich so gut, dass Marcello bereit war einiges für Bill zu tun. Das reichte ihm in diesem Moment.
„Na gut… aber ich erzähl dir unterwegs, wo es hingeht. Dann kannst du immer noch entscheiden, ob du das wirklich willst,“ sagte Bill zweifelnd.
Marcello bezahlte den Taxifahrer und sein Koffer wurde kurzerhand im Kofferraum von Michas Auto untergebracht, mit dem sie dann losfuhren. Dass sie noch tanken mussten, ermöglichte Bill zumindest, sich noch neue Zigaretten kaufen zu können und Micha löste ausnahmsweise das Rauchverbot in seinem Fahrzeug.
Bill stellte Micha und Marcello auf der Fahrt vor und versorgte sie mit allen Informationen, die er bezüglich der Situation hatte, ohne dabei auf seine Vergangenheit einzugehen und als Marcello danach immer noch mit im Boot saß, wurde auch er bewaffnet. Konzentriert spielten sie Situationen durch, auf die sie stoßen konnten und versuchten Pläne für Eventualitäten zu entwickeln, und Marcello bestand darauf, dass Bill sich sein Gesicht mit den feuchten Tüchern, die er ihm gab, reinigte. „Du willst doch nicht, dass das Erste, das Tom sehen wird, deine Tränenspuren sind,“ sagte er dazu.
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Es war immer noch stockdunkel, als sie die Straße entlangfuhren, von der der Waldweg abgehen musste und so entdeckten sie ihn erst, als sie direkt daran vorbeikamen. Sofort stieg bei allen Dreien die Anspannung und Micha lenkte den Wagen in das Waldstück auf der gegenüberliegenden Seite, fuhr so weit hinein, dass man von der Straße aus auch bei Tageslicht nichts vom Auto sehen würde. Nachdem sie ausgestiegen waren, dauerte es eine Weile, bis sie sich soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie sich vorwärts bewegen konnten, ohne gegen den nächsten Baum zu rennen. Sie hatten zwar zwei kleine Taschenlampen dabei, doch die wollten sie möglichst gar nicht benutzen, schließlich war es klar, dass Bills Ankunft nicht unerwartet war. Wie drei Diebe huschten sie so schnell wie möglich über die Straße, als sie sich erreicht hatten und hüteten sich davor, den Waldweg zu betreten. Sie schlugen sich rechts davon durch das Gehölz. Immer wieder blieben sie stehen, um zu lauschen. Ihre eigenen Schritte, das leise Knacken der Äste darunter erschien ihnen wahnsinnig laut und so verbrauchten sie einiges an Zeit, bevor sie an den Zaun kamen, der ihr Zielgelände umschloss. Noch war es dunkel, doch schon nicht mehr so sehr wie vorhin. Bald würde sich der Tag seinen Platz nehmen und diesen Schutz vertreiben.
„Hier ist es.“ Micha flüsterte, als er die undichte Stelle im Zaun erfühlte, von der sie wussten, dass Andi und Tom sie als heimlichen Eingang benutzt hatten. Er musste die Lücke noch etwas weiter aufreißen, damit er auch hindurchpasste.
Marcello betete, dass ihnen dieser Durchgang mehr Glück bescheren würde als den Zweien, die vor ihnen hindurchgeschlüpft waren. Seine Angst ließ sein Herz so laut schlagen, dass er befürchtete, es wäre auch für andere Ohren zu hören und als es unter seinen Füßen plötzlich steil bergab ging, hätte er vor Schreck fast laut aufgequietscht. Zum Glück konnte er es gerade noch unterdrücken, als er, ohne etwas dagegen tun zu können, immer weiter den Hang hinunterrutschte und dabei wild mit seinen Armen ruderte, um nicht kopfüber nach vorn zu fallen.
Bill und Micha erging es nicht anders als Marcello. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, blieb ihnen auch keine Zeit, ihre klopfenden Herzen zu beruhigen, denn kurz nach dem Aufheulen des Motorengeräusches, das ganz aus der Nähe kam, wären sie fast von dem plötzlich aufleuchtenden Licht der Scheinwerfer erwischt worden. Als hätten sie sich abgesprochen, sprangen sie alle gleichzeitig zur Seite. Das Auto fuhr weg, aber der Lichtkegel, den es mit sich nahm, zeigte ihnen für eine kurze Zeit einen kleinen Überblick über das Gelände, auf dem sie sich befanden.
Schnell gelangten sie genau in den schwach beleuchteten Gang, in den auch Tom und Andi eingedrungen waren. Verschlossene Türen und keine Möglichkeit herauszufinden, was dahinter lag, kein Lichtschein, der sich durch einen Türschlitz hindurch hätte verraten können. Bill blieb stehen und horchte in sich hinein. „Hier sind sie nicht,“ flüsterte er überzeugt und so kehrten sie um, fanden einen weiteren Eingang, ohne auf andere Menschen zu stoßen. Wieder ein Gang, der dem davor glich, wieder das Gefühl in dem Schwarzhaarigen, dass er seinen Zwilling hier nicht suchen brauchte.
Die nächste Tür, die sie fanden, lag in der Nähe des Parkplatzes, auf dem sie fünf verschiedene Fahrzeuge zählten. Wie zuvor auch, zog Micha sie vorsichtig einen Spalt auf und spähte hindurch. Ziemlich schnell schloss er sie geräuschlos wieder. „Da sitzt ein Mann auf einem Stuhl… mit einem Gewehr bewaffnet,“ klärte er Bill und Marcello auf. „Ich glaube, er schläft. Ich konnte nicht sehen, ob da noch jemand war.“
Marcellos Hand legte sich um den Griff des Messers, das er erhalten hatte und seine Knie schlotterten. Augenblicklich sprang sein Kopfkino wieder an. Er sah einen Gewehrlauf auf sich gerichtet und einen Mann mit dem Gesichtsausdruck einer Axt, der es auf ihn abgesehen hatte… und er mit seinem kleinen Messerchen. Oh Gott, oh Gott… was tat er nur hier? Er hätte in diesem Augenblick absolut nichts gegen weglaufen gehabt, doch dazu war ihm seine Diva viel zu wichtig, auch wenn genau die ihm mit ihrem nächsten Satz irgendwie gar nicht gefiel.
„Okay… lasst uns reingehen.“ Bill atmete noch ein Mal tief durch und versuchte seine Angst damit zu besiegen, dass er sich auf das Ziel konzentrierte. Irgendwo hier waren die wichtigsten Menschen, die es für ihn gab. Seine Angst musste zurückstehen und so legte er seine Hand mutig auf die Türklinke, die weich wie Butter unter dem leichten Druck nachgab und schlüpfte als Erster hinein. Ein kurzer Blick zeigte ihm einen Vorraum, nicht so einen schmalen Gang, wie sie vorher gesehen hatten, doch seine Aufmerksamkeit lag sehr schnell vollständig auf dem schlafenden Mann mit der Waffe, während er sich immer weiter in den Raum schlich. Er versuchte bewusst, keine Atemgeräusche zu machen, und er nahm sich das Gewehr, dessen Lauf an der Brust und Schulter des Wachmannes lehnte, so vorsichtig, als würde er ein Mikadostäbchen aus einem wackeligen Haufen ziehen. Es gelang, ohne den Mann zu wecken.
Micha war sich nicht sicher, ob er die Aktion von Bill gut finden sollte. Was, wenn der Mann aufwachte und bemerkte, dass seine Waffe weg war? Er würde sicher Alarm schlagen. Doch für Kritik war jetzt kein Platz und so folgte er Bill durch die halbverglaste Tür, die rechts von dem Vorraum abging und in einen breiten, mit Filz ausgelegten Flur führte. Hier gab es nur an einer Seite weitere Türen bis zur nächsten halbverglasten Flurtür. Eine von ihnen war nur angelehnt und zog dadurch seine Aufmerksamkeit auf sich.
Auch Bill hatte sie entdeckt. Durch den schmalen Spalt war zu sehen, dass Licht im Zimmer brannte. Sein Puls raste, als er sie vorsichtig weiter aufdrückte. Ein ziemlich großer, wichtig aussehender Schreibtisch kam in sein Blickfeld. Dahinter ein ebenso wichtiger Bürostuhl in schwarzem, glänzendem Leder. Sofort erkannte er die Sachen von Tom und Andi, die wie verloren auf dem viel zu großen Schreibtisch neben dem Telefon lagen. Das Gewehr fest im Griff, stieß er die Tür jetzt ganz auf. Niemand hier. Der Raum war groß und beherbergte neben einem hölzernen Wandregal eine noble, gepolsterte Sitzgruppe mit einem flachen Designertisch in ihrer Mitte. In einer Nische, in die der halb geöffnete Vorhang davor nur einen kleinen Einblick gab, stand ein Bett. Decke und Kissen waren zerwühlt. Offenbar wurde es vor kurzem erst benutzt. Der Schwarzhaarige nahm die Sachen seiner Brüder an sich, verstaute sie in seiner Tasche. Sie waren auf der richtigen Spur.
Gerade als sie im Begriff waren, das Zimmer wieder zu verlassen, hörten sie durch die Wand das Rauschen von Wasser, offensichtlich durch eine Klospülung ausgelöst. Wie eingefroren hielten sie in ihren Bewegungen inne. Schritte waren zu hören und das Zufallen einer Tür. Ein kurzer Blickkontakt untereinander, Bill drückte Marcello das Gewehr in die Hand und sie sammelten sich dicht an die Wand gedrängt, so dass sie nicht gesehen werden konnten, falls jemand hier hinein sah. Die Schritte kamen näher. Alle hielten den Atem an, als die Tür neben ihnen aufgedrückt wurde.
Bill erkannte ihn sofort und jede Zelle in ihm schien sich auf einen Schlag vor Angst zu versteinern. Er fühlte Michas Schutz im Rücken und plötzlich ging alles ganz schnell. Bill konnte den Schreck in seinen Augen sehen, als er sie entdeckte. Obwohl seine Beine sich anfühlten, als seinen sie mit Blei gefüllt, sprang er auf ihn zu und setzte ihm zielgerichtet das bereitgehaltene Messer an die Kehle. Er wich zurück und Bill trieb ihn noch weiter, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. „Kein falscher Laut und keine falsche Bewegung, sonst bist du tot,“ zischte er ihm entgegen, seine Augen fest auf die seines alten Peinigers gerichtet. „Glaub mir… ich hab so einen Hass auf dich, dass es mir nicht schwer fallen würde,“ unterstrich er seine Warnung drohend.
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RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 02.12.2008 23:54von scooter • Besucher | 1.132 Beiträge
Boahhhh........................................ ICH WILL DAS GAR NICHT LESEN...................!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Das ist Gift für mein schwaches Herz....... !!! Und wehe, es gibt kein Happyend....... !!!
Du allein bist Schuld. wenn ich jetzt nicht schlafen kann... ARGHHHHHHHHHHHHHHHH...... wieso hab ich bloss hier rein geschaut................. #praying

RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 03.12.2008 13:57von Lowy • Besucher | 28.932 Beiträge
Deine Drohungen sind reizvoll für mich, Charlotte xD
Das letzte Mal hast du mir angedroht, persönlich bei mir vorbeizukommen, um mich zu foltern oder so^^ hihi...
wenn du jetzt drohst, dann denke ich... wenn ich noch mehr fieses Zeug schreibe, vielleicht steht sie dann tatsächlich mal vor meiner Tür... mit Peitsche und allem Drum und Dran
Das würde ich ja zu gern sehen

RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 03.12.2008 18:49von schäfchen • Besucher | 3.541 Beiträge
ähm ja. Ich habs gestern schon gelesen, weil ich natürlich nicht geduldig bin, allgemein bekannt^^
und ehrlich gesagt weiß ich immer noch nichts zu sagen (was ein Satz)
aber eins fällt mir doch ein: Ich hab meinen Mann mehrmals angeschnauzt, er soll mich in Ruhe lassen, weil ich grad was total spannendes lese. Joa. Krass einfach und ich fiebere auf den nächsten Teil

RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 04.12.2008 13:51von scooter • Besucher | 1.132 Beiträge
Zitat von BILLowy
Deine Drohungen sind reizvoll für mich, Charlotte xD
Das letzte Mal hast du mir angedroht, persönlich bei mir vorbeizukommen, um mich zu foltern oder so^^ hihi...
wenn du jetzt drohst, dann denke ich... wenn ich noch mehr fieses Zeug schreibe, vielleicht steht sie dann tatsächlich mal vor meiner Tür... mit Peitsche und allem Drum und Dran
Das würde ich ja zu gern sehen
Hör bloss auf damit..... noch mehr fieses Zeugs kann ich nicht ertragen !!!!!!!!!!!
Und bei dir komme isch schon irgendwann mal noch vorbei...... es hat mir dort oben nämlich sehr gut gefallen !!! (Auch wenn ich von HH ja nicht wirklich viel gesehen hab..... Mönckebergerstrasse, Weihnachtsmarkt, Jungfernstieg bis hin zum Gänsemarkt und natürlich die Gegend rund um den Hauptbahnhof - allerdings musste dich gedulden: in nächster Zeit liegt gar nix mehr drin.......... Göga war wiedermal nicht sehr amused.........)

RE: ~ Zurück zum Nullpunkt ~
in Fanfictions 04.12.2008 21:44von elodia • Besucher | 4.103 Beiträge
so nach mindestens drei herzinfakten die mich mindestens 10 jahre meines lebens beraubt haben hab ich nun auch alles gelesen muste nach dem ersten teil nee pause einlegen weill ich so aufgebracht war. .
wie kannst du mir das antun. .
wo ist tom und andi
was haben die mit ihnen gemacht. .
wehe des geht ned gut aus. .
woahhhhhhhhhhhhh ich kill den kerl. .
und ihre mama mit. .
wie kann die einfach ihre kinder verkaufen. .
bin am ende

Soho, ich hab Kapitel 18 gelesen
schönes Ende hast du dir da ausgesucht...is doch perfekt
und noch perfekter ist, dass ich nicht warten muss
ich bin so gut
aber du auch^^ *dir mal einen kleinen Teil zugesteh*
schön geschrieben Engel...haaaach ich mag es wie du die Gefühle von Bill und Tom beschreibst...japp da hast du echt eine ganz bestimmte eigene Weise
und was die Story angeht, hab ich mich vorhin beim Lesen echt gefragt, wie einem all sowas einfallen kann...tz

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